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Die letzten vier Jahre meines Lehrerlebens waren so schön, dass ich mir wirklich täglich wünschte, sie würden nie vorüber gehen. Ich durfte „meine Kinder“ vier Jahre lang begleiten, bevor sie mit 14 die KMS (Kooperative Mittelschule) verließen. In meiner Klasse waren Kinder aus aller Herren Länder. Da ich fast alle Fächer unterrichtete, wuchsen wir im Laufe der Jahre zu einer innigen Gemeinschaft zusammen.

Als in der ersten Klasse Bashir – ein tschetschenischer Junge – eines Tages nicht mehr erschien, erfuhr ich durch seine Dolmetscherin, dass seine Mutter mit ihren drei Kindern Hals über Kopf nach Deutschland abgereist war, da ihr Asylantrag abgelehnt worden war. Sein Schicksal traf mich mitten ins Herz. Ich verschwieg der Klasse die Wahrheit und erzählte nur, dass Bashir nach Deutschland übersiedelt war.

Umso größer war meine Freude, als er im Februar des folgenden Jahres plötzlich wieder in der Schule war. Am liebsten hätte ich ihn umarmt, aber das durfte ich natürlich nicht. Erstens war ich ja seine Lehrerin, und zweitens dachte ich, dass das seinem Naturell so gar nicht entspricht. Während ich noch damit beschäftigt war, mich auf ein Händeschütteln zu beschränken, umarmte er mich – unter Tränen. Gut, dass ihn niemand gesehen hatte. Es blieb unser Geheimnis.

Jeden September war ich überrascht, wie sehr sich die Schüler*innen während der Sommerferien verändert hatten. Besonders am Schulbeginn der dritten Klasse merkte ich, wie aus den Kindern Teenager geworden waren. Sie hatten sich nicht nur äußerlich verändert, sondern sie waren auch selbstbewusster und einfach reifer.

Bashir war ein richtiger junger Mann geworden. Vermutlich hatte man sein Geburtsdatum nicht korrekt eingetragen, denn ich schätzte ihn nicht auf 13, sondern auf mindestens 15. Er war der stille Chef der Klasse. Schlichtete aufkommenden Streit, bemühte sich stets, seine Aufgaben bestens zu erledigen und war sehr darauf bedacht, nur ja keine Gefühle zu zeigen. Das hätte zu seinem Image als starker Mann nicht gepasst. Mir gegenüber zeigte er immer besonderen Respekt.

Als ich der Klasse mitteilte, dass ich wegen einer bevorstehenden Krebsoperation wohl einige Zeit nicht kommen würde, war die Bestürzung groß. Die Mädchen ließen ihren Tränen freien Lauf und die Buben wurden ganz still. Nur Bashir atmete kurz tief durch und erklärte dann kühl, dass man da nichts machen kann. Die kommenden Wochen werden wohl auch ohne mich ganz gut vorübergehen.

Ich gebe zu, dass mich seine Kühle mitten ins Herz traf. War sein gutes Verhalten mir gegenüber nur Berechnung gewesen? Hatte ich mich so in ihm getäuscht?

Als ich am folgenden Tag die Englischhausübungen korrigierte, traf mich Bashir wieder mitten ins Herz. Unter seinen Aufsatz hatte er Folgendes geschrieben: „Frau D., ich wünsche, das sie so schnell wie möglich gesund werden. Ich mach mir auch sorgen um sie wie sie um uns. Sie sind mir wie 2. Mutter in der Schule. Ich wünsche alles gute. „

Die Autorin war Lehrerin an einer KMS in Wien.

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