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Dr. Patrick Frottier, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie:

„Hass gab es immer schon, etwa als Reaktion auf unbewältigte Kränkungen, als Folge eines Selbstwertproblems,  eines bewussten oder unbewussten Gefühls innerer Unsicherheit. Die Projektion dieses Minderwertigkeitgefühls auf eine Person, auf eine Personengruppe,  auf alle anderen außer sich selbst oder gar unter Einbeziehung seiner eigenen Person ist demnach nicht neu. Neu ist jedoch die Geschwindigkeit der Verbreitung, die mögliche Unbegrenztheit der Reichweite, die Perfektionierung der Anonymität des verursachenden Auslösers. Das Neue liegt also in den Möglichkeiten, die der digitale Raum dem Hassenden  bietet und nicht der Hass an sich.“

Wir sprechen über Klassenchats. Shitstorms, Hass im Netz – oft wird man „versehentlich“ Opfer. Klassenchats sind allgegenwärtig. Die berühmten „WhatsApp“ Gruppen, wohlgemerkt oft von Lehrpersonen selbst initiiert – „so Kinder, dann könnt ihr euch gegenseitig die Hausaufgabenafträge senden, das Organisatorische besprechen und euch gegenseitig an Referatstermine erinnern.“ Das ist die oft naive Vorstellung der Inhalte eines Klassenchats. Manchmal sind die Lehrpersonen dabei, oft nicht. Legal wäre das nicht, aber das ist die Nutzung von WhatsApp für Kinder unter 14 auch nicht. Und schon im 1. Lockdown 2020 wurde WhatsApp als zwar nicht gewünschte, dennoch aber (von der Bildungsdirektion) geduldeter Einstieg ins Distance-Learning schweigend toleriert.

Als Lehrperson bekommt man oft wenig mit von den wahren Ausmaßen des „Bashings“, welches an Stelle der Referatserinnerungen innerhalb der Klassenchats kursiert. Die mildeste Variante ist noch das Spammen, das Versenden von mehreren hundert Nachrichten ohne Inhalt. Es steigert sich oftmals bis hin zu einer wahren Hexenjagd, Bloßstellungen, Beschimpfungen, Beleidigungen. Bei einem Kind kursierten gefakte Pornobilder unbeliebter Lehrerinnen, bei einem anderen wünschte jemandes Mutter einen unfreiwilligen Geschlechtsverkehr mit einem überdimensionales Geschlechtsteil eines nicht österreichischen Mannes, an dessen Folgen sie bitte verenden möge. Ohne das „Bitte.“

Schulen sind machtlos. Die Inhalte zu kurzlebig, zu schnell wieder gelöscht. Doch sind sie das wirklich? Nichts was einmal im Netz war verschwindet für immer…

„Es ergibt sich eine Dynamik von digital versendeten Hassnachrichten, die im sozialen Netzwerken weder bezüglich der Verbreitung noch bezüglich der Reaktion irgendeiner Steuerung unterliegt. Der sich daraus ergebende emotionale Kontrollverlust berührt alle Beteiligte in schwer vorhersehbarer Weise, die möglichen wirksamen Variablen übersteigen bisher alle gültigen Prognose- und Gegensteuerungsmaßnahmen. Dieser Kotrollunmöglichkeit ist für den Nachrichtensender Anreiz sein Gefühl auszuleben und Vermeidung einer diesbezüglichen Konsequenz zugleich. Er setzt mittels weniger gedrückter Tasten einen minimalen Impuls mit einer unvorhersehbar großen Konsequenz, ganz der Symbolik seines Minderwertigkeitsgefühls entsprechend: aus ganz klein wird ganz groß.“ 

Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Was können wir tun? SaferInternet Workshops werden besucht, Schilfs zu diesen Themen wachsen aus dem Boden.

„Die  Sehnsucht nach allgemein gültigen Tipps im pädagogischen Bereich entsprechen meist der eher naiven Sehnsucht, jedes Problem hätte auch eine zugehörige Lösung. Jede Eingrenzung des Benützens von sozialen Netzwerken führt regelhaft zu Widerstand, sei aus einer demokratischen oder trotzigen Reaktion heraus. Da jedoch Hass als Mischgefühl des Neides, des Zorns und der inneren Angst seit Bestehen der Menschheit, also in unserer Kultur seit Kain und Abel, gegenwärtig ist, wäre die offene Diskussion über die ganze Palette der Gefühle, ihrer Ursachen und der Umgang mit ihnen, auch als Unterrichtsstoff, welcher unabhängig von inadäquatem und dysfunktionalen Umgang mit digitalen Medien gelehrt werden sollte, sinnvoller als eine Begrenzung neuer Medien.“

Aber irgendwas müssen wir doch tun!?

„Mit Schülern und Schülerinnen eine Diskussion über enttäuschte Erwartungen und dem sich daraus  entwickelnden unberechtigten Anspruchsdenken, welche in Hass münden können, zu führen – also einen wiederholten Diskurs über des Menschen offensichtliche eingeschränkte Fähigkeit unabweisliche und tägliche Kränkungen des Lebens zu tolerieren, zu jedem sich ergebenden Anlass anzuregen – das wäre eine pädagogische Aufgabe, die zwar niemals ein Ende nehmen, sich aber zweifellos lohnen würde. Und jeder könnte sich fragen: wen habe ich zu welchem Anlass schon einmal gehasst, wie habe ich meinen Hass ausgelebt, wann bin ich schon gehasst worden und wie habe ich mich dabei gefühlt. Die Gemeinsamkeit der Erfahrung könnte die dem Hass zugrundeliegende Trennung zumindest bewusst machen, das wäre ein erster Schritt hin zur Solidarität welche eine Klasse erst zu einer solchen macht, welche erst dann dem Wort „Klassengemeinschaft“ eine Berechtigung gibt.“ 

Erfahrung einer Lehrerin (BHS)

Letztes Jahr wurden mir durch Erziehungsberechtigte Klassenchats weitergeleitet, die hinter der Grenze der Legalität waren. Ich hatte das Glück, dass ich mich gleich an mehrere Fachexperten wenden konnte: einerseits an die Direktion, wo ich viel Unterstützung bekommen habe, andererseits an einen in Mediation, Mobbing- und Gewaltprävention sehr erfahrenen Kollegen und Coach, und auch an einen Freund, der in einer staatlichen Organisation arbeitet und Erfahrungen mit diesen Themen gehabt hat.

Die Intervention seitens der Direktion ging in mehrere Richtungen. Einerseits wurden Gespräche mit den betroffenen Schülerinnen und Schülern im Beisein ihrer Eltern geführt, die dazu geführt haben, dass mehrere Personen die Klasse bzw. die Schule verlassen haben. Andererseits wurden diese Personen an die Behörden gemeldet und die Fälle von den zuständigen staatlichen Stellen weiterbearbeitet.

Mit der Klasse wurde unmittelbar danach ein ganztägiger Workshop gemacht, in dem über das Gewicht des Geschehenen aufgeklärt wurde, über die gesetzliche Lage in Österreich sowie über die geschichtlichen Zusammenhänge und Hintergründe für diese Gesetze. Und es wurden danach mehrere Chancen genutzt, gruppendynamische Übungen zu machen. Dies war gut, denn die Situation am Anfang war schwierig, es herrschte Fassungslosigkeit, denn „das war ja nur Spaß“. Nach dem Workshop konnten die Schülerinnen und Schüler die Situation einordnen, auch wenn nicht alle mit den Konsequenzen für ihre MitschülerInnen einverstanden waren. Das Klassenklima hat sich aber sukzessive gebessert.

Für mich selbst waren diese 2 Wochen unheimlich schwierig, ich hatte aber viel Unterstützung im Kollegium und von der Schulleitung. Was es in der Prävention braucht? Aufklärung, echte Geschichten und Fälle, und vor Allem Sensibilisierung der SchülerInnen dafür, dass „Spaß“ kein Freibrief für ist.

Und was sagen die Schüler:innen?

Um die Sicht auf Klassenchats von den Schüler:innen zu erhalten, haben wir uns entschieden, sie anonym und schriftlich Fragen beantworten zu lassen. Dadurch hofften wir auf möglichst ehrliche und wahrheitsgetreue Antworten. Im Großen und Ganzen blieben die Antworten dennoch vage. Ein vertiefendes Gespräch wäre sicher noch aufschlussreicher, um hier auch einzelne Rollen der Schüler:innen in den Chats herausfiltern und analysieren sowie mit ihnen reflektieren zu können, wie und warum sie in dem Moment gehasst haben.

Wenig überraschend sehen die Schüler:innen den Klassenchats als einen wichtigen Austauschkanal an, um vor allem schulische Fragen zu klären. Viele befürworten eine Klassengruppe zum Austausch über Verpasstes, ausgefallene Stunden oder Unterstützung bei der Hausübung. Interessant bei letzterem ist, dass hier besonders fertige HÜs angefragt werden, dass in einer Klasse bei einigen für Unmut sorgen dürfte.

Unerwünscht sind Personen, die den Chat zum Spamm

en verwenden; die also tagtäglich unaufgefordert Sticker, Videos und Memes teilen. Bei Mitschüler:innen, die beleidigen, Gerüchte verbreiten, jemanden absichtlich verletzen und schlecht über andere schreiben, durchzog sich der Tenor des Blockieren-Wollens laut und deutlich. Weil zum „Scheiße schreiben“, sei der Chat nun mal nicht da. Ebenso beschwerten sich einige, dass manche viel zu viel „Unnötiges“ in den Chats schrieben, private Konflikte hintrügen und sie als Bühne nützten bzw. andere heruntermachten, wenn nicht geantwortet würde.

Interessant waren auch die verschiedenen Antworten hinsichtlich der Reflexion der eigenen Rolle im Chat. Viele nehmen sich als helfend wahr. Andere beobachten lieber, um am Laufenden zu bleiben. So manch eineR hat den Chat bereits wieder verlassen und fragt lieber privat nach. Stumm gestellt ist er bei den meisten. Spannend ist hier die Veränderung zu Unterstufe.

Die deutliche Mehrheit meinte, in der Unterstufe sei es lustiger zugegangen und sie hätten sich produktiver ausgetauscht; auch weil sie sich schon besser gekannt hätten. Viele führten die fehlende Klassengemeinschaft als Grund für die oftmals schlechte Stimmung in den Chats an. Das traf besonders auf die Befragten in ersten Jahrgängen zu.

Zum Ende lassen sich zwei Umgangsmöglichkeiten mit dem Klassenchat aus den Antworten der Schüler:innen herauslesen:

1) Sie ziehen sich zurück; das kann heißen, sie werden zu Leser:innen und vermeiden das aktive Schreiben, Antworten und Interagieren oder sie verlassen den Chat ganz und kontaktieren einzelne Mitschüler:innen oder gründen kleinere Privatgruppen.

2) Sie befürworten den Chat weiterhin, weil für sie die positiven Eigenschaften des Austausches, des Dazugehörens und der Hilfemöglichkeiten überwiegen.

Lesezeit: 3 Minuten

Die Entscheidung Polascheks, die mündliche Matura wieder verpflichtend einzusetzen, wurde von AHS und BHS Schüler*innen zurecht lautstark kritisiert. Prominente Gegenstimmen ließen nicht lange auf sich warten. Kulturpessimistisch angehaucht jammerte Liessmann, dass der jungen Generation Biss und „Disziplin“ fehle, sie jede „Anstrengung“ vermeide und sie lieber feiere, statt Schwierigkeiten überwinden zu wollen. Die Staatsekretärin Palkolm verklärte in einem ZIB Interview die Matura zu einer „großen Chance“ und einem „besonderen Tag“ für junge Menschen, um aller Welt zu zeigen, was sie alles gelernt hätten. Zudem sei es ein wichtiger „Schritt zurück in die Normalität“.

Während Liessmann über die Leere eines einst „strengen und sinnvollen Rituals“ weint, das seine Versprechungen wie z.B. der Hochschulzugänge nur noch bedingt erfülle und überhaupt an Niveau sehr zu wünschen übrig ließe – von welchem Norm-Wissen redet er hier? -, wünscht sich Palkolm in eine Vergangenheit zurück, die für die Schüler*innen mit Angst und Stress verbunden ist und herkunftsabhängige Chancen zementiert statt beseitigt. Ihre proklamierte Chance ist ein Euphemismus sondergleichen.

Die wieder aufgeflammte Diskussion über die Notwendigkeit der Matura ist ein guter Zeitpunkt, ihre Sinnhaftigkeit einmal mehr in Frage zu stellen und ihr Ende einzufordern!

Die Matura beruht in meinen Augen auf zwei Rechtfertigungsgründe: Einmal dient sie der Zulassung für die Hochschulen. Zum anderen stellt sie das Abschlussritual der 12-jährigen Schullaufbahn dar.

Ersterer ist in den letzten Jahren zunehmend in den Hintergrund getreten, sind doch Aufnahmeprüfungen und Eignungstests bei Studiengängen immer häufiger Usus – ein schlechter noch dazu, wie ich finde; ausreichende Finanzierung wäre hier wünschenswerter.

Der zweite ist ebenso fragwürdig. Mir erschließt sich die Sinnhaftigkeit dieser Abschlussprüfung nicht. Weder als Prüfung noch als Ritual. Prüfungen im Sinne eines Wiederkäuens zuvor auswendig Gelerntem ist nicht mein Verständnis von Wissensaneignung. Allein als Abschluss-Ritual wäre eine ganzjährige Projektarbeit, auch in Verbindung mit der VWA eine deutlich sinnvolle Angelegenheit. Ansonsten ist sie eine weitere Hürde und Disziplinierung. Ohnehin zeigen Schüler*innen tagtäglich, was sie können. Und das zwölf Jahre lang! Schüler*innen also mangelnde Disziplin oder Anstrengungsverweigerung vorzuwerfen grenzt an Arroganz.

Einzig die Versteifung unseres Bildungssystems auf Prüfungen und Überprüfungen der Prüfungen erklärt mir diesen (Über-)Prüfungsfetisch. Generell sollte meines Erachtens das Ziel jeden Unterrichts sein, möglichst viele Übungssituationen zu schaffen. Das würde folglich die Konditionierung, für Noten zu lernen, aushebeln und Motivation und Interesse an Neuem wieder in den Vordergrund rücken. Ferner würden die ungleichen familiären Unterstützungsmöglichkeiten der Schüler*innen ausgeglichen werden, die nach wie vor die allergrößte, wenn auch unsichtbare Mitverantwortung am schulischen Erfolg tragen. So maturieren nur 4 von 10 Arbeiter*innenkinder und 2 von 10 beginnen ein Studium, wohingegen 8 von 10 Akademiker*innenkinder eine Matura machen und ganze 7 von 10 studieren gehen. Nur zur Wiederholung: Ziffernoten sagen per se mehr darüber aus, wie Schüler*innen mit Spielregeln und Verhaltensnormen von Schule zurechtkommen als über das Leistungsniveau selbst. Somit treffen negative Noten insbesondere Schüler*innen aus bildungsfernen Schichten, weil sie viel öfters Schwierigkeiten mit dem sozialen Setting Schule haben.

Ferner zwingt die Matura in der Oberstufe – und hier vor allem im letzten Jahr – auf eine Fokussierung aller Ressourcen und Energien auf diese letzte Prüfung. Im Unterricht wird nur noch in Hinblick auf die Matura gelernt. Nicht Maturafächer geraten selbst bei Interesse gezwungenermaßen ins Hintertreffen. Folglich ist das letzte Jahr ein Bulimielernen auf eine Prüfung hin, die ihr altes Versprechen nur noch zum Teil erfüllt. Ein Zurück-zur-Normalität war schon immer nur für ÖVP und Konservative wünschenswert, die vom herrschenden (Bildungs)System profitieren.

Meine Vision ist hingegen ein Abschlusszeugnis der zwölften Klasse, das den Namen Matura trägt.

Für mich ist und bleibt die Matura, um es mit Natascha Strobel auf den Punkt zu bringen, ein „Statussymbol einer reaktionär-bürgerlichen Klasse“, um eine breite gesellschaftliche Chancengerechtigkeit einzuschränken.

Jonathan Herkommer, BHS Lehrer in Wien

Lesezeit: 5 Minuten

Männlichkeiten und toxische Männlichkeit. Ein geschlechterreflektierender Aufruf

Zurück aus den Sommerferien und mitten in der Planung der Themenschwerpunkte fürs neue Schuljahr erinnerte ich mich einer schulinternen Auseinandersetzung letzten Juni. Streitpunkt war eine Formulierung für den alljährlichen Schullauf. Auf einem Plakat für den alljährlichen Schullauf stand: „Mädchenrunde“ 5km und „Jungsrunde“ 10km. Einige Kolleg*innen und ich äußerten unser Unverständnis zu dieser Formulierung. Uns störte die geschlechtergetrennte Einteilung der Strecken und der tradierten Vorstellung, Jungs seien sportlicher/leistungsstärker als Mädchen. Zudem reproduzierte es die Annahme der Zweigeschlechtlichkeit. Darüber hinaus schreibt es eine nach Geschlechtern getrennten Welt sowie die Zuweisung in „weibliche“ und „männliche“ Sphären (Fußball vs. Frauenfußball) weiter fort.

Nebenbei könnten sich einige Schüler*innen ausgebremst und andere entmutigt fühlen. Bestimmt gibt es Schülerinnen, die gerne 10km laufen möchten, aber Angst haben, als „unweiblich“ beschämt oder ausgegrenzt zu werden. Und genauso gibt es bestimmt Schüler, die gerne nur 5km laufen möchten, aber ebenso die Sorge haben könnten, mit dem Etikett „unmännlich“ versehen zu werden. Warum diese Sorge gerade unter Jugendlichen, aber auch unter erwachsenen Männern ein großes Problem darstellt, möchte ich in weiterer Folge näher erläutern. Ziel dieses Textes ist es, Lehrer*innen einen kleinen Einblick in die sozialwissenschaftliche Diskussion rund um (hegemoniale) Männlichkeit, toxische Männlichkeit und die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit denselben für den feministischen Kampf zu geben.

Zudem ist die Pubertät eine intensive Phase der Identitätsarbeit und -findung. Wir alle sehen uns innerhalb der Gesellschaft mit normativen Vorstellungen von „Frausein“ und „Mannsein“ konfrontiert und müssen uns tagtäglichen gegenüber diesem Erwartungsdruck auf die ein oder andere Weise positionieren. Während erfreulicherweise immer häufiger und selbstverständlicher traditionelle Frauenrollen und -bilder thematisiert werden, findet die Auseinandersetzung mit (toxischer) „Männlichkeit“ seltener Eingang in den Unterricht. Zwar erfahre ich im privaten wie im schulischen Bereich von Freunden und Kollegen Zustimmung bei feministischen Kämpfen, jedoch werden eigene desktruktive Verhaltensweisen wie Dominanz, Erniedrigung, Hyperkonkurrenz und Kontrolle seltener reflektiert. Der Text möchte daher zur Selbstreflexion motivieren sowie den Mut fördern, „Männlichkeit“ und toxische Männlichkeit im Unterricht zu behandeln. Schlussendlich möchte der Text einen kleinen Teil zum feministischen Kampf für mehr Selbstbestimmung und den Abbau von Hierarchien und Ungleichheiten (vor allem im Schulalltag) beitragen.

Definition von Männlichkeit

Allgemein wird unter dem Terminus „Männlichkeit“ positive und negative Verhaltensweisen und Praktiken verstanden, die traditionell mit Männern und Mannsein assoziiert werden. Es umfasst bestimmte Verhaltensweisen und -aspekte, die Männern zugeschrieben werden und kulturell anerzogen sind (Sozialisation). So werde Buben, Jungs und Männer von Geburt an dazu erzogen/angehalten, Schmerz und Trauer, Unsicherheit und Verletzlichkeit, „Weichheit“ und Sensibilität zu unterdrücken. Ein Motor hierfür ist die Sprache. Sprüche wie „Sei keine Pussy!“, „Das ist schwul!“, „Echte Männer weinen nicht!“ und „nimm das nicht persönlich“ und „wisch die Tränen weg“, weil Männer „stark“ sein und sich „nichts anmerken“ lassen müssen, verdeutlichen diese Sozialisierungsprozess.

„Männlichkeit“ ist somit eine geschlechtliche „Konfiguration von Praxis“ (Raewyn Connell). Das bedeutet, dass „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ von Connell als Positionen innerhalb des Geschlechterverhältnisses verstanden wird, die durch Praktiken unsere körperlichen Erfahrungen unsere Persönlichkeit wie auch unsere Kultur prägen.

Mehrheitlich wird „Männlichkeit“ als eine inhärente Charaktereigenschaft verstanden, d.h., dass das eigene Verhalten davon abhängt, was für ein Typ Mensch man ist. Unmännliche Menschen verhalten sich anders: eher friedlich als gewalttätig, eher versöhnlich als dominant etc. Ein Mann, der zu viel Emotionen zeigt, keine Lust auf Sex hat oder auf Frauen hört, gilt diesem Verständnis nach gesellschaftlich als weniger „männlich“. Erweitert wird dies durch Nicht-hetero-sein, trans sein, Dinge tun, sagen oder tragen, die nicht „männlich“ assoziiert sind (Christoph May).

Hier deutet sich eine weitere Relation der Praktiken an. „Männlichkeit“ braucht den Kontrastbegriff der „Weiblichkeit“. „Männlich“ und „weiblich“ werden als Antagonismen verstanden. Unsere heutige Gesellschaft ist geprägt von dem Verständnis polarisierender Charaktereigenschaften von Männern und Frauen.

Nach Connell strukturiert sich „Männlichkeit“ auf drei Ebenen. Erstens durch die Unterordnung von Frauen und die Dominanz von Männern (auch bekannt als Patriarchat). Zweitens mittels unserer Produktionsbeziehungen. So hat die wirtschaftliche Konsequenz der geschlechtlichen Arbeitsteilung zur Folge, dass die „Dividende“ aufgrund der ungleichen Beteiligung an gesellschaftlicher Arbeit für Männer größer ist wie für Frauen. Dazu kommt die ungleiche Verteilung gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kapitals zwischen Männern und Frauen (geschlechtsbezogener Akkumulationsprozess). Und drittens formen und realisieren die Praktiken unser individuelles Begehren oder in Connells Worten unsere emotionale Beziehungsstruktur.

Hegemoniale Männlichkeit

Das Konzept geht von verschiedenen Formen von Männlichkeit aus, die wiederum zueinander in einem Dominanz- und Unterordnungsverhältnis stehen. Jene „Form von Männlichkeit, die in einer gegebenen Struktur des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position“ einnimmt, wird von Connell als hegemoniale Männlichkeit gefasst. Diese kann und wird jederzeit in Frage gestellt, z.B. durch andere „Männlichkeiten“ sowie durch feministische Kämpfe.

Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Formen von „Männlichkeiten“ wird nach Connell durch folgende vier Merkmale strukturiert:

  1. Hegemonie: Zu jeder Zeit werde eine Form von Männlichkeit im Gegensatz zu anderen kulturell herausgehoben. Ihre hegemoniale Stellung entstehe, wenn es zwischen dem kulturellen Ideal und der institutionellen Macht (Politik, Wirtschaft, Militär) eine Entsprechung gebe. Es ist also jene Männlichkeitsform, die mit gesellschaftlicher Machtposition verbunden ist.
  2. Unterordnung: Die wichtigste Unterordnung sei die Dominanz heterosexueller Männer und die Unterordnung homosexueller Männer. Die Unterordnung lässt sich in einer Reihe „handfester Praktiken“ aufzeigen: politischer und kultureller Ausschluss, staatlicher Gewalt, wirtschaftliche Diskriminierung, Boykottierung der Person etc. Zudem werde alles, was „die patriarchale Ideologie aus der hegemonialen Männlichkeit“ ausschließe, dem Schwulsein zugeordnet, wobei Schwulsein mit Weiblichkeit gleichgesetzt wird. An dieser Stelle ist es wichtig, festzuhalten, dass Unterordnung auch heterosexuelle Jungen und Männer trifft. Die „Ausgrenzung aus dem Kreis der Legitimierten“ geschehe mittels eines Vokabulars, das die „symbolische Nähe zum Weiblichen“ offenbare (Schwächling, Schlappschwanz, Feigling, Waschlappen etc.).
  3. Komplizenschaft: „Männlichkeit“ wie auch „Weiblichkeit“ teilt – wie alle normativen Definitionen – das Problem, dass die normativen Ansprüche nur wenige Männer erfüllen. Connell betont, dass trotzdem die überwiegende Mehrzahl der Männer von der „Vorherrschaft dieser Männlichkeitsform“ profitiere, weil sie an der „patriarchalen Dividende“ teilhaben (siehe Produktionsbeziehungen).
  4. Marginalisierung: Hiermit beschreibt Connell die Beziehungen zwischen „Männlichkeiten“ dominanter und untergeordneter Klassen und ethnischer Gruppierungen. Zwar könnten Schwarze Sportler Vorbild für hegemoniale Männlichkeit seien, doch strahle ihr Ruhm und Status nicht auf die anderen Schwarzen ab und verleihe Schwarzen Männer nicht generell „ein größeres Maß an Autorität“.

Toxische Männlichkeit

Dieser Begriff umfasst die regressiven sowie destruktiven Praktiken und Verhaltensmuster, die durch (physische) Stärke, Mangel an Emotionen/emotionale Distanz, Hyperkonkurrenzdenken, Dominanz, Aggression, Einschüchterung, Bedrohung, Gewalt, sexuelle Objektifizierung und Abwertung von Frauen bzw. „Weiblichkeit“ sowie Trans- und Homofeindlichkeit geprägt sind.

Das Adjektiv „toxisch“ verdeutlicht, dass das Verhalten potenziell gefährliche und tödliche Konsequenzen für einen selbst so wie für andere innehaben kann (Suizid bzw. Femizide stellen die Spitze des Eisbergs toxischer Männlichkeitsmuster dar).

Einige Männlichkeitsanforderungen sind mit Versprechen verbunden. Eines dieser Versprechen ist es, souverän zu sein. Souveränität ist dabei oftmals mit einem Überlegenheitsanspruch verbunden (siehe oben). Vorherrschende Männlichkeitsversprechen führen zu einem Anspruchsdenken. Kurz gesagt lautet es: Je „männlicher“ du bist, desto mehr Anspruch hast du auf Respekt, Macht, Jobs und Sex. Wird dieses Anspruchsdenken verneint, löst das oftmals Aggression und Wut aus. Eng verbunden ist auf weiblich gelesene Körper und Aufmerksamkeit (von Frauen). „Männlichkeit“ und toxische Männlichkeit ist somit nichts, was Männer sind, sondern was sie tun. Und hier sollte geschlechterreflektierend Pädagogik ansetzen.

Geschlechterreflektierende Pädagogik

Pädagogisch ist es sinnvoll, grundsätzlich auf eine Entlastung von Männlichkeits- und Weiblichkeitsanforderungen hinzuarbeiten

Einerseits können Widersprüchlichkeiten in Männlichkeitsanforderungen und -versprechen herausgearbeitet werden. Vielversprechende ist es, Jugendliche von ihren Erfahrungen erzählen zu lassen, verstehend mitzugehen und auf Widersprüchlichkeiten hinzuweisen sowie in weiterer Folge eigene Verstrickungen in der Herstellung von Über- und Unterordnungsverhältnissen zu beleuchten. Wenn Jugendliche merken, dass sie Männlichkeitsanforderungen nicht erreichen können oder sie ihnen zu gewalttätig sind, sie ihnen selbst nicht guttun, sie soziale Kontakte verlieren bzw. sie sich als Belastung (Konkurrenz, Dominanz etc.) gestalten, entstehen Brüche, die eine Abwendung ermöglichen.

Andererseits zielt sie darauf ab, möglichst allen Schülern individuelle und differenzierte geschlechtliche Identifikation anzubieten. Sie strebt eine sexuelle und geschlechtliche Vielfalt an, in der Schüler ohne Gefahr der Bedrohung ihre Identifikation entwickeln können. Die einzige Beschränkung ist, dass ihre eigene Identifikation nicht auf einer Diskriminierung anderer fußen darf.

Jonathan Herkommer ist Lehrer an einer BHS in Wien.

Lesezeit: 4 Minuten

Die Sommerferien sind vorbei, der Schulalltag hat uns alle wieder. Jetzt ist es an der Zeit über die Sommerschule zu berichten, die in diesem Sommer zum zweiten Mal stattgefunden hat. Zu Wort kommen eine Mutter, ein Lehrer und Mittelschul-Schüler*innen, die die Sommerschule besucht haben.

Medine, Sarah, Enes, Osman, Marco, Hadja, Liviana und Elisabeth*

Warum wart ihr in der Sommerschule?

„Meine Eltern haben mich gezwungen. Ferien sind besser.“

„Meine Eltern haben gesagt, wenn du willst, geh. Ich bin gegangen, weil ich meine Noten verbessern will.“

„Ich muss lernen!“

„Ich kann nicht gut Deutsch.“

Was habt ihr gelernt?

„Der Lehrer hat gefragt, wo ich Schwierigkeiten habe. Ich habe Deutsch gemacht, Mathe ist eh einfach. Ich habe Märchen und Geschichten geschrieben.“

„Wir haben Englisch und ein bisserl Mathe gemacht.“

„7 bis 11 Uhr lernen und dann eine Stunde Turnsaal.“

„Ich hatte die Artikel vergessen, also der die das, jetzt weiß ich es wieder.“

„Wir haben gelernt und manchmal gespielt.“

„Wir haben in Deutsch gut gelernt.“

Was gibt es sonst noch zur Sommerschule zu sagen?

„Sommerschule war eh chillig, besser als zu Hause sitzen oder nur im Park sein.“

„Eine Woche ist genug, nur Deutsch und Mathe.“

„Beim Seilziehen haben die Mädchen gewonnen, sie waren mehr.“

„Nächstes Jahr würde ich gehen, wenn es nur eine Woche ist.“

„Am Donnerstag haben wir was gebacken, das haben wir dann gegessen. Am letzten Tag waren wir im Prater.“

„Am ersten und zweiten Tag waren wir alle schüchtern. Am dritten Tag sind wir wieder normal gewesen. “

„Es waren alle urverrückt, die waren wie unsere Klasse.“

„Manche haben geschlafen die letzten zwei Wochen. Und wir sind so um sechs oder sieben Uhr aufgestanden. Wir haben Glück, dass wir früher begonnen haben, vor dem Schulbeginn.“

Frau Berger

Frau Berger ist Mutter von drei Kindern, ihre beiden Töchter wollten oder sollten die Sommerschule besuchen.

„Zwei meiner drei Kinder wurden oder waren in der Sommerschule angemeldet, wie immer man das nennen möchte. Bei der Älteren ist es gleich schiefgegangen, entweder hat sie die Anmeldung nicht direkt abgegeben oder sie ging tatsächlich „verloren“. Ich hatte als Mama jetzt nicht direkt eine Handhabe/Kontrolle darüber. Dafür ist sie jetzt für einen Haufen Geld in einem renommierten Nachhilfeinstitut, sie hat zwei Nachprüfungen. Bei der Jüngeren kam die Teilnahmebestätigung nach laaaaaaanger, absoluter informationsloser Funkstille am 16. Juli daher. Und nun hatten wir das Pech, dass sie in der dritten August-Woche unerwartet ins Krankenhaus musste. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, meine Tochter fünf Tage nach dem Krankenhausaufenthalt gleich wieder in die Schule zu schicken. Ich habe sie krank gemeldet. Jetzt kann sie gar nicht mehr hingehen, weil das Konzept offenbar auf „alles oder nichts“ ausgerichtet ist. Es müssen alle zwei Wochen besucht werden, weil es angeblich ein projektbezogener Unterricht sei. Prinzipiell verstehe ich das schon, aber für meine Tochter ist diese Situation mehr als doof. Ich wollte, dass sie, ob ihrer Zensuren, zumindest eine Art Update in der Sommerschule bekommt. Die Alternative ist, dass sie, so wie ihre Schwester auch die Dienste des Nachhilfeinstituts, wieder für einen Haufen Geld, im Gegenstand Mathematik in Anspruch nehmen muss.

Mein Fazit ist, organisatorisch ist es mit der Sommerschule eher mühsam und undurchsichtig. Fast habe ich den Eindruck, man möchte Menschen dafür strafen, dass sie ein Gratis-Angebot in Anspruch nehmen wollen. Online gibt es kaum Informationen. Auf meine schriftliche Anfrage, wie denn die Vorbereitung auf eine Nachprüfung erfolgen würde, kam eine unbrauchbare Antwort zurück. Als schwierig hat sich die Korrespondenz im Allgemeinen herausgestellt. Bei sämtlichen Mails musste ich zuerst einmal unendlich lang scrollen, bis ich zur eigentlichen Antwort gelangt bin. Es gäbe sicher die Möglichkeit, das Ganze auch über eine Online-Plattform übersichtlich und damit benutzerfreundlicher zu gestalten. Schließlich sollte doch die Ambition sein alle Familien, unabhängig vom Bildungshintergrund, zu erreichen. Was uns bleibt, ist das Nachhilfeinstitut, das uns das Gefühl vermittelt, man würde sich um unsere Anliegen kümmern. Warum das die öffentliche Hand nicht schafft, frage ich mich schon. Vielleicht soll Eltern vermittelt werden, dass sie selbst an schulischen Problemen ihrer Kinder schuld seien. Für uns war es das dann mit Sommerschule, fürchte ich.“

Benjamin ist BHS-Lehrer in Wien

Sommerschule. Eine interessante Erscheinung der Coronapolitik. Angedacht, um Schüler*innen eine zusätzliche Lernmöglichkeit angesichts des Corona Lockdowns im Frühjahr zu bieten. Letztes Jahr wurde sie an unserer Schule (HAK) von Studierenden durchgeführt. Dafür bekamen sie ECTS Punkte. Sie konnten es als EC (Wahlfach) anrechnen lassen. Ich glaube, es war grundsätzlich ein smarter move vonseiten des Bundesministeriums. Günstigere Arbeitskräfte gibt es wohl kaum.

Heuer wurde sie von schuleigenen Lehrer*innen organisiert und gehalten, entgeltlich. Die Bereitschaft im Kollegium hielt sich in überschaubaren Grenzen. Einige wenige meldeten sich nach persönlicher Anfrage. Für die 1. und 2. Jahrgänge der HAS und der HAK wurden Kurse gestaltet. Deutsch, betriebswirtschaftliche Fächer und Mathe bildeten die Schwerpunkte. Schüler*innen erhielten je nach Jahreszeugnisnote und persönlichem Anraten der entsprechenden Fachlehrer*innen eine Einladung. Freiwilligkeit war das Stichwort. Mit Druck wurde sie erreicht. Einige nahmen es dankend an, andere sträubten sich stärker. Unmut gab es vonseiten der Schüler*innen vor allem hinsichtlich des Aufbaus. So mussten Schüler*innen die ganze Woche mehrere Fächer besuchen, obwohl sie nur in Rechnungswesen verstärkten Lernbedarf bzw. eine Einladung bekommen hatten.

Die Durchführung selbst verlief aus meiner Sicht gut. Das Angebot wurde von jenen, die kamen – und das waren doch 2/3 – wohlwollend und gut gelaunt angenommen. Auch meine Kolleg*innen berichteten von einem positiven Lernklima und einer sichtbaren Lernbereitschaft. Ob jedoch eine Woche mit je 4 Stunden Übungszeit entsprechende Wissenslücken schließen, stelle ich stark in Zweifel. Vielmehr ist es, wie so oft in der Bildungspolitik, ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine Symptombekämpfung statt einer Systemänderung.

*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

Lesezeit: 6 Minuten

Willkommen, willkommen! Treten Sie ein!

Beim Betreten des hellen, lichtdurchfluteten Schulgebäudes begrüßt mich eine geräumige Aula mit einladenden Sitzflächen und viel Grün. Die Wände dokumentieren die unterschiedlichsten Projekte der Schüler*innen. Mit mir strömen mehrere Schüler*innen ins Gebäude. Die meisten Schüler*innen kämen eine halbe Stunde früher, erzählt jemand von der Schulleitung. Viele würden sich am Buffet ein kostenloses Frühstück holen, zum Lesen oder Social Media Update in die Bibliothek gehen bzw. sich mit ihren Freund*innen für eine Runde Tischtennis oder zum Austausch über den neuesten Gossip treffen. Mein wandernder Blick erheischt einige dieser gerade mitgeteilten Momente. Großzügige Aufenthaltsräume und -plätze mit verschiedenen Sitz- und Liegemöglichkeiten laden zum Verweilen, Arbeiten und Zusammensein ein.

Architektonisch orientiert sich das Gebäude nicht mehr an vielen, hermetisch abgeschlossenen, ehemals Klassenzimmer genannten Räumen. Vielmehr gibt es fachbezogene Räume. Diese sind mit den entsprechenden Utensilien ausgestattet und werden von den Schüler*innen aufgesucht, wenn sie sich mit dieser Thematik beschäftigen wollen. Dieselben weisen keine Reihe von Tischen und Stühlen auf, sondern sind mit Tischinseln und diversen Sitz- und Arbeitsmöglichkeiten ausgestattet. Je nach Bedarf gibt es so genug Platz für Einzel- bzw. Gruppenarbeiten. Wo gearbeitet wird, ist den Schüler*innen offen gelassen. Des Weiteren ist jeder der Räume mit dem höchsten Stand der Technik ausgestattet und verfügt über vielfältiges Arbeits- und Bastelmaterial, sodass keiner Gestaltungskreativität Einhalt geboten ist. Räume und Gebäude ohne PCs, Tablets und Beamer oder gar WLAN sind unvorstellbar.

Neben der Raumgestaltung hat sich auch der sogenannte Stundenplan verändert. Während der Vormittag überwiegend mit Lernsettings des Sach- und Fachunterrichts aufgebaut ist, schreiben sich die Schüler*innen nachmittags, nach einem gratis Mittagessen aus lokalen und biologisch angebauten Nahrungsmitteln, für Kurse ein. Diese können je nach Interesse sowie Neugier und für die Länge eines Semesters ausgewählt werden. Das Angebot reicht von vielfältigen Sportaktivitäten über Theater und Kunst bis hin zu Vertiefungskursen des Sach- und Fachunterrichts als auch Gartenbau und landwirtschaftlichen Kursen. Selbige sind nicht nach Geschlecht oder Alter getrennt und werden selbstredend von einem diversen Team organisiert und betreut. Dass viel zu lange andauernde in Reih und Glied sitzen und vorgekauten Stoff konsumieren ist passé. Heutzutage entscheiden die Kinder und Jugendlichen mit welchen Inhalten und mit welchen Schwerpunkten sie sich im Semester auseinandersetzen wollen. Diese Kurse lassen sich jedes Semester neu wählen. So können unterschiedlichste Eindrücke gewonnen werden. Gleichzeitig können bei Fortführung Vertiefungskurse belegt und so ein immer größeres Expert*innenwissen aufgebaut werden.

Der Schulort ist ein Ort der gelebten Demokratie. Die Leitung besteht aus einem gewählten Team, das sich die Aufgaben und Verantwortlichkeiten untereinander aufteilt. Unterstützt werden sie von einem personell ausreichend ausgestatteten Büro und Administration. Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen, die ausschließlich unserem Standort zugeteilt sind, ergänzen die psychosoziale Infrastruktur der Schule. Das Team stellt sich nach jeder Periode zur Wiederwahl. Schulinterne bewerben sich um Positionen innerhalb der Schule. Eltern und Schüler*innen haben eine jeweilige, gewählte Vertretung. Das Schulparlament trifft sich einmal im Monat zu Sitzungen und Abstimmungen zu Schulangelegenheiten. Da mittlerweile nur noch eine 25 Wochenstunde vorherrscht, Lehrer*innen mehrsprachig sind sowie Simultanüberstetzungen selbstverständlich sind, haben Eltern Zeit und Sprachbarrieren als Ausschlussmechanismus gehören der Vergangenheit an.

Kommen Sie näher und staunen Sie

Die Lernstation „Design your Life“ ist heute gut besucht. Über 20 Kinder und Jugendliche arbeiten altersübergreifend an ihrem persönlichen „Sinn“ des Lebens. Dazu haben die Lernbegleiter*innen verschiedenes Material und Modelle vorbereitet. Intensiv besucht ist auch der Exchange Room, der völlig selbstverständlich in mehreren Sprachen gleichzeitig stattfindet. Schüler*innen tauschen sich hier nach klassischen Regeln des radikalen Respektes miteinander aus, präsentieren Ideen und suchen Unterstützung und Feedback. Die mehrsprachigen Lernbegleiter*innen, die den Exchange Room moderieren, können selbst auch beitragen. Im Rahmen ihrer Ausbildung haben sie die üblichen Sprachstudien gemacht, sprechen mindestens zwei Fremdsprachen, wovon eine nicht europäischer Herkunft ist und kamen somit auch in den Genuss , eine völlig fremde Schrift zu erlernen. Im Rahmen ihres Auslandssemesters durften sie selbst im außereuropäischen Ausland leben, arbeiten und die Erfahrung machen, wie man sich in einer fremden Kultur, Schrift und Sprache zurechtfindet. Diese Erkenntnis ist obligatorisch, wenn man in Wien an einer Schule mit multiethnischer Schüler*innenschaft arbeiten möchte und hilft immens, sich in die Kinder und Jugendlichen, die ganz selbstverständlich altersübergreifend unterrichtet werden, hineinzuversetzen. Längst sind überall Videodolmetscher*innen implementiert, um die Zusammenarbeit mit den Eltern zu erleichtern und vor allem, um das Defizitgefühl der Eltern aufzufangen, wenn sie die deutsche Sprache nicht beherrschen. Schon lange verlangt man nicht mehr die deutsche Sprache von den Zugewanderten sondern sieht die multilinguale Kommunikation als eine große Bereicherung für diese schon immer mehrsprachig gewesene Stadt. Zu wichtig sind die Qualifikationen und Kompetenzen, die Menschen aus anderen Ländern in diese Stadt bringen, als dass man diese monate- und jahrelang mit ineffizienten Deutschkursen schikanieren muss. Da der Druck nun weg ist und „das Eintrittsticket in die Gesellschaft“ wegfällt, kommt die gemeinsame Sprache sowieso. Die Ghettoisierung hat sich durch die Gesamtschule weitestgehend aufgehoben, alle Kinder werden nun von gleich gut ausgebildeten Lehrkräften auf ihrem Lernweg begleitet und unterstützt.

Erfolgreich hat sich die Gewerkschaft dafür eingesetzt, dass alle Lehrer*innen, denen die neue Ausbildung noch nicht zu Teil wurde, alle 10 Jahre ein verpflichtendes Jahr in der Wirtschaft verbringen, um verschiedene Berufe kennenzulernen und ihren Schüler*innen besser und lebensnäher beim Berufseinstieg, beim Formulieren von Bewerbungen und bei der Berufswahl helfen können, weil sie selbst Spezialist*innen darin sind.

Teamteaching ist ebenso Teil der Ausbildung und über das reine Vermitteln von Unterrichtsstoff im Frontalformat lacht man heute, im Jahr 2049, oft noch herzlich in den gemeinsamen Lernbegleiter*innen- und Lerner*innenräumen bei einem selbstgezüchteten Kombucha. Fächer gibt es schon lange nicht mehr, ebenso wenig wie zeitlich durch eine Klingel begrenzte Stunden und Noten, um das Wirken der Kinder zu bewerten. Schulangst ist aus dem Duden gestrichen und die Bewerbung um den beliebten und gesellschaftlich geachteten Lehrberuf ist langwierig und komplex. Nur noch die Besten werden mit der Ausbildung der Menschen der Zukunft betraut und für ihren Einsatz entsprechend bezahlt. Dass Bildung einst vererbt wurde, kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Wir leben in einem Land, wir arbeiten in einer Stadt, die sinnvoll in Bildung investiert und entsprechende Ergebnisse dafür erhält.

Wagen Sie einen Blick in die Kristallkugel

Gleich neben dem Lernbüro meiner Kollegin sitze ich mit sieben Schüler*innen um einen Tisch. Ayse hat heute ein Zeugnis ihrer Großmutter mitgebracht. Weil Ayse lieber in ihrer Erstsprache türkisch kommuniziert, ist eine Kollegin an ihrer Seite, die bei Bedarf übersetzt. Eigentlich würden wir die Kollegin gar nicht brauchen, weil alle Schüler*innen und ich zurzeit gemeinsam Türkisch lernen. Aber, sie geht lieber auf Nummer sicher.

Das Zeitdokument Zeugnis liegt vor uns. „Damals gab es noch Noten“, erzählt Ayse.  „Noten? So wie in Musik?“, fragt Ella erstaunt. „Haben die dann das Zeugnis ihren Eltern vorgesungen?“, kichert Mansur. „Was wurde dann benotet? Und wie soll das gehen?“, staunt auch Elvetiano. Die Augen meiner Schüler*innen werden immer größer. „Meine Oma hat erzählt, dass sie meistens dann gute Noten bekommen hat, wenn sie still auf ihrem Platz gesessen ist, und schön geschrieben hat. Und dass sie, nachdem sie gelernt hat, immer alles gleich vergessen hat. Und dass vieles, was sie lernen musste, gar nichts mit ihrer Welt zu tun hatte.“ Ayse ist in ihrem Element. Sie ist sprachlich extrem begabt, und liebt es, wenn sie vor allen reden kann. Elena lacht mich an und sagt: „Würdest du mir also eine Eins geben, wenn ich das nächste Mal nichts verstanden habe, aber dafür mit meiner schönsten Schrift brilliere?“ Kluges Mädchen, denke ich mir. Sie ist graphisch eine der Besten. Mansur hat lange nichts gesagt, aber jetzt bringt er sich in die Diskussion ein. „Wozu oder warum gab es die Noten überhaupt?“ Ich versichere mich zuerst, ob nicht ein*e Schüler*in darauf antworten will. Das gehört auch zum Lernkonzept 2050. Expert*innen sind nicht wie selbstverständlich die Lehrer*innen, Vorrang haben die Schüler*innen. Nachdem keiner antworten möchte, erkläre ich den Begriff Leistungsgesellschaft. Diese hat längst ausgedient, zum Glück. Und als ich sage, dass in dieser Gesellschaftsform die Ansicht vorherrschte, dass es jede*r, der oder die wollte es schaffen würde, ein tolles Leben zu führen, unterbricht mich Mansur entrüstet. „Blödsinn. Das kann gar nicht gehen. Meine Großeltern haben immer gearbeitet, aber als sie dann in Pension gingen, waren sie arm. Sie hatten auch kein Geld, um zum Beispiel meinem Vater Nachhilfe zu bezahlen. Nachhilfe war so , dass du nach der Schule noch Privatunterricht bekommen hast. Weil die Schule es nicht geschafft hat, dir etwas beizubringen.“ 

„Aber, gab es in diesen Zeiten keine Lehrer*innen, die Noten und Leistungsgesellschaft kritisch betrachtet haben?“ „Und das haben sich alle gefallen lassen?“ „Und, war es wirklich so, dass viele Schüler*innen Angst hatten in die Schule zu gehen?“ Ich sehe, diese Einheit wird heute länger dauern. Immer mehr Fragen kommen auf. Viele, die ich nicht so leicht beantworten kann. Auch ich brauche eine Expertin oder einen Experten. Zum Glück sind Schulen im Jahr 2050 perfekt vernetzt. Eine Historikerin und Wirtschaftsfachfrau steht uns in einem Videochat Rede und Antwort. Nach drei Stunden, natürlich mit Pausen, verlassen die Schüler*innen das Lernbüro, nur Ella bleibt zurück. „Sag, wann hat dieses Umdenken eigentlich stattgefunden?“, will sie wissen. „Das war ein paar Jahre nach der Corona-Krise.“ „War das diese Pandemie? Können wir morgen darüber reden?“, fragt sie mich. „Gerne. Ich glaube meine Großmutter hat in der Zeit sehr viel darüber geschrieben“, antworte ich.  

Zurück zur Realität

Willkommen zurück im Jahr 2021. Die vergangenen 17 Monate haben uns alle viel Kraft gekostet. Aber sie haben uns deutlich wie nie zuvor die Mängel eines veralteten Bildungssystems aufgezeigt. Jetzt ist die Chance verkrustete Strukturen aufzubrechen, um diese Utopie wahr werden zu lassen. Fangen wir damit am besten morgen schon an. 

Maria Lodjn, Franziska Haberler und Jonathan Herkommer sind Lehrer*innen in Wien und im Redaktionsteam von Schulgschichtn.