Lesezeit: 5 Minuten

Die Wochen vor den Ferien sind immer besonders nervenaufreibend. Ein ganzes Semester, welches von Vorbereitungen, Nachbereitungen, Elterngespräche, Vorkommnisse in der Klasse, Einzelgesprächen, schwierigen, aber auch wundervollen Situationen geprägt war, neigt sich dem Ende zu. Wir sind nun an der Reihe die Kinder und Jugendlichen zu benoten. Ihnen so objektiv wie möglich zu bescheinigen, wie viel sie geleistet haben. In den letzten Wochen vor den Ferien wird die Anstrengung, die sich über mehrere Wochen aufgestaut hat, oft noch deutlicher. Viele Kolleg:innen sind ausgelaugt, freuen sich auf die Ferien, freuen sich darauf, einmal „den Kopf frei zu bekommen“. Es scheint, als würde in den Wochen vor den Ferien alles Negative, das wir erleben, nochmal intensiviert werden.

Ja, eine Lehrkraft zu sein ist anstrengend. Es gibt – so denke ich – nur wenige Jobs, in denen man bis 10:00 Uhr früh so viele verschiedene Emotionen durchlebt hat, wie als Lehrkraft. Aber es sind nicht nur negative Emotionen, mit denen wir konfrontiert sind. Unsere Arbeit birgt so viel mehr. Sie birgt wunderschöne, lustige und stolze Momente.

Ich habe mich im letzten Monat jeden Tag gefragt, was ich an meinem Job eigentlich so liebe. Jeden Tag habe ich mindestens eine Situation gefunden, die in mir positive Gefühle ausgelöst haben. Und ich würde behaupten, dass wir Lehrkräfte alle solche Momente durchleben. Ich plädiere dafür diese wieder in den Vordergrund zu stellen und wertzuschätzen, was für einen besonderen, wunderschönen, nervenaufreibenden und wichtigen Job wir tagtäglich machen.

Wochenende:

07.01.2023 Ich unterrichte Deutsch und Mathematik. Gerade verbessere ich die Deutscharbeitspläne. Die Aufgabe lautet: „Schreibe einen Satz mit dem Wort ‘Viertel’.“ Die Antwort der Schülerin lautet: „Ein Viertel ist ein Bruch.“ Sie vereint beide Fächer – ich bin stolz.

08.01.2023: In drei Tagen ist Mathematik Schularbeit. Letztes Jahr hat meine Schülerin Mathematik gehasst. Sie hatte regelrecht Angst davor und hat eine große Abneigung entwickelt. Sie entschied sich demonstrativ nicht für die Schularbeit zu lernen. Ich habe die Klasse dieses Jahr in Mathe übernommen. Heute schreibt sie mir, dass sie das gesamte Wochenende für die Schularbeit gelernt habe und ob ich ihr noch eine Frage beantworten könne, da ihr nur mehr eine Sache unklar sei. Ein Erfolgserlebnis ♥️

Woche:

9.01.2023: Es ist Montag nach den Ferien. S. ist am Vormittag wegen eines Termins nicht in der Schule, kommt aber vor der fünften Stunde. Ich stehe am Gang und warte darauf, dass sich meine Klasse für den Turnunterricht anstellt. Sie sieht mich, kommt mir entgegengerannt, umarmt mich und ruft: „Ich bin so froh wieder in der Schule zu sein. Ich hab´ Sie vermisst.”

Ich bin wirklich froh, dass meine Schüler:innen gerne zur Schule kommen und sich hier wohl fühlen. 

10.01.2023: Mein Schüler vertraut sich mir an. Er meint ihm gehe es nicht gut und er macht sich immer große Sorgen über viele Dinge, sodass er nicht einschlafen kann. Ich schlage ihm vor mit einer Psycholog:in darüber zu reden und frage ihn, ob ich das mit seiner Mama Besprechen soll. Er bedankt sich.

11.01.2023: Ich verbessere den Deutscharbeitsplan zum Thema „Gefühle“. Die Aufgabenstellung lautet: „Besprecht gemeinsam welche Gefühle ihr heute hattet. Habt ihr Gemeinsamkeiten? Schreibt diese auf und begründet.“ Als Antwort stand:  „Wir sind beide glücklich, weil wir heimlich in der Pause Süßes gegessen haben.“

12.01.2023: Ich bin seit gestern krank und mir fällt die Decke auf den Kopf. Auf einmal erhalte ich eine Nachricht meiner Schülerin: „Werden Sie bald wieder gesund, wir vermissen Sie!“

13.01.2023 Ich war die letzten beiden Tage krank. Als ich in die Schule komme, sehe ich meine Kollegin, die mich anlächelt und meint: „Schön, dass du wieder da bist und es dir besser geht.“

Wochenende:

14.01.2023: Diese Woche behandelten wir in Mathematik das Thema „Dreiecke“. Dieses Thema haben wir letztes Jahr schon besprochen. Sie mussten die Wochenpläne lösen, ohne viel Input in den Stunden darüber bekommen zu haben, da sie das Wissen noch von letztem Jahr haben sollten. 97% der Wochenplanaufgaben waren hervorragend gelöst.

Stolz überkommt mich – sie merken sich wirklich viele Dinge. Ich bin beeindruckt!

15.1 Es ist Sonntag. Ich freu mich schon auf morgen

Woche:

16.01.2023: Meine Klasse arbeitet ganz oft selbständig an Arbeitsplänen. Ein Schüler kommt zu mir und fragt mich um Hilfe. Ich bin soeben mit der Beantwortung einer anderen Frage beschäftigt und meine nur, ich komme gleich. Als ich zu ihm komme, sitzt er schon mit A. zusammen, der ihm bei der Lösung des Problems hilft. Dieser ist schon fertig mit dem Beispiel, aber noch lange nicht mit dem Arbeitsplan. Trotzdem nimmt er sich Zeit und beantwortet ihm seine Fragen. Sie halten zusammen.

17.01.2023: Heute steht wieder eine Theoriestunde in Deutsch zum Thema Präsentationstechnik an. Wir spielen einen schlechten Vortrag av. Die Kinder lachen und zeigen uns dann, wie es eigentlich gehen sollte. Wir haben viel Spaß miteinander.

18.1.2023 Wir haben eine Freiarbeitsphase. Jedes Kind kann sich selbstständig aussuchen, welche Aufgabe sie mit wem, wo und wann machen. Am Ende muss alles fertig sein. Ab dem Zeitpunkt, ab dem wir sie Arbeiten geschickt haben, arbeiten alle – ohne Ausnahme. Ich bin immer wieder erstaunt, wie großartig sie selbstständig arbeiten, konzentriert sind und sich gegenseitig unterstützen. Am Ende waren alle fertig. Wow!

19.01.2023: Sie bekommen eine Aufgabe. Mein Schüler, der von sich behauptet, Mathematik nicht zu können, einer, der oft länger braucht, um die Aufgabe zu Gänze zu verstehen, einer der oft behauptet ‘ich kann das nicht’ und einer der oft resigniert, erhält den heutige Mathe-Arbeitsauftrag, schaut mich mit funkelnden Augen und sagt: „Ich weiß es, heut schaff ich das”.

20.01.2023 Update zum 10.01.2023: Der Schüler kommt stolz zu mir und redet offen vor der Klasse darüber, dass er jetzt in psychologischer Behandlung ist und er glaubt, dass ihm das gut tue. Die Kinder verurteilen ihn nicht sondern fragen nach und sind neugierig.

Offen über psychologische Hilfe zu sprechen ist noch immer ein Tabu Thema in unserer Gesellschaft. Aber sogar unsere Kinder können dies mittlerweile schon und gehen grandios mit der Tatsache um. Ich bin stolz auf sie.

Wochenende

21.01.2023: Ich genieße einen Tag ohne Korrekturen und Vorbereitungen 😬

22.01.2023: Draußen wird es immer kälter und ich denke an Dezember zurück, als es das erste Mal geschneit hat und ich in der Schule die Mittagsaufsicht halten durfte, denn das heißt bei uns: Schneeballschlacht. Natürlich lautet das Motto: alle gegen mich. Ich liebe diese Momente mit ihnen. Sie halten als Klasse zusammen, wir haben wahnsinnigen Spaß miteinander und sie zeigen Empathie, sobald es einmal zu wild wird.

Woche

23.01.2023: Ein Schüler erzählt mir in einem Einzelgespräch wie es ihm gerade geht. Plötzlich sagt er: „Wissen Sie, Sie sind meine Vertrauensperson.“

24.01.2023 Mathematik:  Wir wiederholen mündlich kurz, was wir in der Vorwoche gelernt haben. 90% der Hände sind oben, jede:r will etwas beitragen und sie wiederholen gemeinsam die wichtigsten Dinge

25.01.2023 Wir haben Lernzeit. Die Schüler:innen bearbeiten zu der Zeit ihre Wochenplanaufgaben (diese sind vergleichbar mit HÜ´s, aber sie sollen nicht zuhause gemacht werden). A. ist noch nicht mit seinen Wochenplanaufgaben fertig. Trotzdem setzt er sich zu einem Mitschüler, nimmt sich eine Stunde Zeit und erklärt ihm die Mathematik Aufgabe.

26.01.2023: Heute waren wir eislaufen. Beide Klassen waren so glücklich und dankbar dafür, dass wir diesen Ausflug machen. Nicht viele können sich den Eintritt und das Ausborgen der Schuhe sonst leisten.

27.01.2023: Einer Schülerin geht es nicht gut. Sie sind füreinander da. Sie trösten sie, sorgen für sie und halten zusammen, um sie zu beruhigen und für sie da zu sein. Diesen Zusammenhalt und die Empathie, die sie gezeigt haben, haben sie erst gelernt und er ist so unfassbar wichtig für ihr weiteres Leben.

Wochenende

28.01.2023: Eine Schülerin schreibt mir auf MS-Teams, dass sie nach langer Überlegung nun doch zu unserer Schulspsychologin gehen möchte. Der Junge aus ihrer Klasse hat ihre gezeigt, dass das gar nicht so uncool sei.

29.01.2023: Ich trage die Noten für die Schulnachricht in unsere Liste ein und sehe mir die restlichen Fächer genau an. Auch wenn man über die Wichtigkeit von Noten streiten kann, überkommt mich stolz: Kein:e einzige:r aus der Klasse hat eine negative Beurteilung.

Woche

30.01.2023: Heute tragen sie ihre Präsentationen vor. Alle kommen im Business Look mit Hemd oder Bluse, mit PowerPoint Präsentationen, von denen sich manche Uni Professoren was anschauen könnten und mit Karteikarten – sie haben sich top vorbereitet. Ein wenig Stolz überkommt mich.

31.01.2023 Heute haben wir gebastelt und dabei gesungen. Ich habe Last Christmas –(ja, etwas zu spät) abgespielt und leise dazu mitgesungen. C., der mir und meiner Kollegin gegenüber sehr reserviert ist und oft auffällt, stellt sich neben mich und beginnt laut den Text zu grölen und dazu zu tanzen. Die ganze Klasse ist im ersten Moment perplex. Im zweiten, konzentrieren sie sich wieder auf ihre Basteleien und singen lauthals den Text mit. Danach kommt er zu mir und sagt: Ich liebe solche Stunden mit Ihnen.

Das waren Auszüge aus den Erlebnissen meines Monats. Schule kann stressig sein. Schule kann nervenaufreibend sein. Schule kann einen zum Zweifeln bringen. Aber Schule kann, wenn man es zulässt, vor allem eines sein: unglaublich bereichernd und schön.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Wiener Mittelschule.

Lesezeit: 3 Minuten

Haben wir ihnen genug beigebracht? Haben wir streng genug benotet? Werden sie es an einer weiterführenden Schule schaffen? Haben sie eine echte Chance da draußen? Das waren die Fragen, die uns heute vor einem Jahr umgetrieben haben. Nach vier Jahren Klassenvorstandsteam, in denen wir alles gegeben haben und eineinhalb Jahren Corona-Chaos durften oder mussten wir sie also gehen lassen. Viele Tränen auf unserer Seite, viel Abschiedsschmerz und doch auch Vorfreude auf neue Erfahrungen und Erlebnisse auf der Seite der Schüler:innen. Vier Jahre intensive Zusammenarbeit (oftmals mehr Stunden pro Woche mit der Kollegin und den Schüler:innen, als man den eigenen Partner sieht), vier Jahre Begleiten, Stärken, Trösten, Fördern und gemeinsam Pläne machen. Vier Jahre Schule, vier Jahre Leben.

25 Jugendliche aus einer Mittelschulklasse in einem Wiener Randbezirk. Kids, mit denen wir bereits seit sie 10 Jahre waren daran gearbeitet haben herauszufinden, was sie gut können und was sie gerne mal werden möchten. Kids, denen wir aber auch die Arbeitslosenstatistiken nach Bildungsabschlüssen nicht vorenthalten haben, weil es nicht fair gewesen wäre ihnen zu sagen, sie könnten alles einfach schaffen, wenn sie es nur wollen. Ja, sie können vieles schaffen, aber dafür müssen sie doppelt so hart arbeiten und auch dann wird es nicht leicht. Denn vier Jahre in der Mittelschule sind unfassbar wenig Zeit und mit 14 ist man tatsächlich noch sehr jung um eine so weitreichende Entscheidung zu treffen. Auf dem Sprung in eine weiterführende Schule stellt dann der Ruf der Mittelschule noch eine letzte fiese Hürde dar. “Ich wurde nicht aufgenommen”, erklärte uns ein Schüler mit lauter (Standard AHS) Einsern noch im März letzten Jahres, als er die Rückmeldung von seiner Wunsch-HTL bekommen hat. “Sie haben gesagt, sie haben zu viele Anmeldungen.” 

Doch es ist gelungen, es musste ja: Fünf Schüler:innen haben den Sprung in die AHS bzw. BHS geschafft, zwei in die Übergangsstufe, zehn in berufsbildende mittlere Schulen, zwei gingen ins Poly, einer fand eine Lehrstelle, zwei verließen uns noch auf der Suche danach. Drei Schüler:innen blieben als außerordentliche Schüler:innen noch ein Jahr an der Schule.

Ein Jahr vergeht schnell. Trotz Abschiedsschmerz geht man schließlich seinen eigenen Weg weiter, entwickelt sich weiter, die Erinnerungen verblassen. Und jetzt – ein Jahr danach: das Klassentreffen. Ein Rückblick auf unsere Arbeit, eine Rückmeldung, ob wir unseren Schüler:innen alles Wichtige mit auf den Weg gegeben haben. Ein Treffen auf Augenhöhe, so richtig.

Ungefähr die Hälfte der Klasse war da. Corona und Nachmittagsunterricht verhinderten manche, andere wollten oder konnten sich die Zeit nicht nehmen.

Der erste Eindruck

Die sind ja alle so groß geworden!“ In einem Jahr tut sich viel. Das Groß-sein merkt man ihnen sofort an, physisch aber auch in ihrer Art. Die Ausdrucksweise hat sich geändert. Mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung sind herauszuhören. „Ich hatte die Wahl zwischen zwei Schulen nach dem Poly, beide habe ich besucht und dann eine Entscheidung getroffen. Die eine Ausbildung hat mir vom Aufbau her nicht gefallen.“ „Ich gehe nebenbei noch 3-4 Mal die Woche ins Training, den Ausgleich mag ich.“ „Ich hab in dem Jahr so viel gelernt wie noch nie, es war anstrengend, aber ich bin sehr stolz.

Der zweite Blick

Ich muss das Jahr wiederholen, denn es war mir einfach zu schwer. Ich wollte auch eigentlich Schule wechseln oder eine Lehre machen aber ich wurde nirgends genommen. Jetzt probier ichs nochmal im Gymnasium.“ „Ich habe vier Vierer im Zeugnis, in Mathe hatte ich eine Prüfung, die ich zum Glück geschafft habe.“ „Ich habe zwei Nachprüfungen im Herbst, wenn ich sie nicht schaffe ist unklar, ob ich wiederholen darf. Ich hoffe schon.“ „Ich habe im Zeugnis nur Einser und Zweier.“ „Ich kann nach der Übergangsstufe in die 5. Klasse aufsteigen. Genau so wie ich es mir gewünscht habe. Es war harte Arbeit.“ „Ich habe endlich eine Lehrstelle gefunden und vor zwei Monaten begonnen. Es ist schwierig, aber es gefällt mir.

Die Lebenswege sind so verschieden. Und trotzdem geht jede und jeder selbstbestimmt den eigenen Weg weiter. Ein Jahr danach können wir klar sagen: Unsere Arbeit hat gefruchtet. Sie bahnen sich ihren Weg durch ein Schulsystem, das es ihnen alles andere als leicht macht. Dranbleiben, einen Plan machen, hart arbeiten, sich Hilfe suchen, an sich glauben, aus Fehlern lernen, aufstehen, wenn man hingefallen ist, nicht aufgeben: Wir haben ihnen vieles mitgegeben, was sie auf ihrem Weg brauchen. Und sie sind dabei, das Beste daraus zu machen.

Die Autorinnen sind Lehrerinnen an einer Mittelschule in Wien.

Lesezeit: 4 Minuten

Wenn man vor großen Herausforderungen und Problemen steht, hilft es ja meistens, ein wenig über den Tellerrand zu blicken. Seit einigen Jahren fahren wir (wir, das sind hier die 2 Schulgschichtn-Redakteur:innen Verena und Felix) daher mit Kolleg:innen in andere Länder, um deren Bildungssysteme kennenzulernen, Schulen zu besichtigen und internationale best-practice Beispiele zu sehen.  Heuer waren wir mit einer Gruppe in Estland. Das estnische Bildungssystem ist, wenn es nach PISA geht, eines der effizientesten und besten Bildungssystem Europas, das obendrein auch noch relativ fair ist. 

Während unserer vier intensiven und hochspannenden Tage in Tallinn haben wir dutzende Lehrer:innen getroffen, mit Menschen aus dem Bildungsministerium, von der Lehrer:innenausbildung und dem NGO-Bildungssektor diskutiert und zwei Schulen besucht. Dabei wurde uns von Gespräch zu Gespräch und von Stunde zu Stunde immer offensichtlicher, dass wir im österreichischen Bildungssystem noch viel Luft nach oben haben. Von der Organisation des Systems über die Möglichkeiten der Schulautonomie bis hin zu Fragen der Transparenz und verfügbaren Daten. Nachdem Estland auch nicht zaubern kann, wären alle dortigen Lösunge auch bei uns umsetzbar. Wir wollen hier nun kurz unsere größten Learnings und spannendsten Eindrücke teilen:  

Die Gesamtschule steht außer Zweifel 

Das estnische Bildungssystem ist grundlegend anders aufgebaut als das österreichische. Das beginnt beim vorhandenen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. So besuchen 84% der 1-3-Jährigen und 95% der 3-7-Jährigen einen Kindergarten. Nach dem Kindergarten folgt eine 9-jährige gemeinsame Schule, die alle Kinder im Alter von 7-16 besuchen. Die allermeisten (ca. 90%) dieser 9-jährigen Gesamtschulen sind öffentliche municipality Schulen, also sind im Zuständigkeitsbereich der Gemeinden. 

Auf unsere Nachfrage, ob diese Art der Gesamtschule denn auf viel Widerstand stößt und ob sie politisch bekämpft wird, haben wir nur verständnislose Blicke geerntet. Wie in den allermeisten Europäischen Ländern, waren unsere Estnischen Kolleg:innen eher erstaunt darüber, dass wir unsere Schüler:innen im Alter von 10 Jahren in verschiedene Schultypen schicken.

Eine einheitliche, standardisierte Prüfung beendet die 9 Jahre Pöhikool. Im Anschluss daran gibt es dreijährige höhere Schulen, entweder das Gymnasium oder berufsorientierte Schule. 

Echte Schulautonomie

Hierzulande wird das Wort Schulautonomie ja gerne als Synonym für Einsparungen und Notlösungen am einzelnen Standort verwendet. Nicht so in Estland. Die Direktor:innen und Schulen haben eine unglaubliche Autonomie. Die Direktor:innen stellen all ihre Lehrer:innen selber an und können diese auch selber kündigen. Starre, einheitliche Dienstrechte gibt es nicht, Mindestlöhne aber sehr wohl. Die Dienstverträge schauen so sehr unterschiedlich aus. Manche Lehrer:innen unterrichten 22h, andere nur 15h, weil sie sonst die Mathe-Koordination leiten oder Schulentwicklung Reflexionsgespräche mit Kolleg:innen machen. Auch die Gehälter sind teilweise flexibel, können von den Schulleiter:innen bestimmt werden und basieren nicht nur auf der Anzahl der Dienstjahre. Karrierepfade und Anreize für junge Lehrer:innen werden so möglich. 

Aber auch die Curricula sind teils autonom. Wir haben Schulen besucht, die haben nur eine 4-Tage-Unterrichtswoche. Am 5. Tag unterrichten diese Schulen im „independent learning“, wo die Kids entweder daheim lernen, in Gruppen ins Museum oder in die Natur gehen. Im Anschluss daran, zeigen sie den Lehrer:innen, per Zoom, was sie heute gelernt haben. Auf unsere verwunderte Frage hin, dass dies schulautonom möglich ist und wer denn die Aufsicht in dieser Zeit regele und wie das Stundenabrechnungstechnisch liefe, kam ein leicht verwundertes: “I don´t really understand your question. We can decide how we want to teach”.

Auch die Notengebung ist autonom. Viele Schulen geben bis zur 6. Schulstufe gar keine Noten, ab dann gibt es unterschiedliche Systeme. Und, so bundeseinheitliche Systeme wie Deutschförderklassen sind undenkbar. Diese große Autonomie funktioniert natürlich nur weil es in den Schulen Management-Teams gibt (wir erinnern uns an die Möglichkeit unterschiedlicher Dienstverträge) die das alles machen. Da arbeiten dann 5-6 Lehrer:innen, die teilweise noch unterrichten, gemeinsam mit der:dem Direktor:in an der Leitung der Schule. 

Transparenz und Daten

Es gibt über das estnische Bildungssystem so ziemlich alle Daten, die man sich vorstellen kann. Diese Daten sind für jede einzelne Schule öffentlich einsehbar. So kann man z.B. Ergebnisse der standardisierten Prüfung, die Noten, die Ausbildung der jeweiligen Lehrer:innen, die Fehlstunden, die Größe der Klassen, die Anzahl der PCs, den Background der Schüler:innen und noch Vieles mehr für jede Schule einsehen und mit anderen vergleichen. Diese Daten werden für fundierte Entscheidungen verwendet. Sowohl das Ministerium, als auch die einzelnen Schulen verwenden das als Grundlage ihres Arbeitens und Unterrichtens. 

Und, es gibt jährlich einen „satisfacory survey“ wo alle Schüler:innen gefragt werden, wie es ihnen geht, was sie sich wünschen, wie sie mit ihren Lehrer:innen zurechtkommen und welche Probleme sie haben – einsehbar für alle.

Eine klare Governance 

Die governance Struktur des ganzen Bildungssystems ist sehr einfach. Fast alle Schulen sind, wie gesagt, öffentliche Gemeinde-Schulen. Der „Bund“ überweist den Gemeinden Geld für ihre Schulen. Die einzelnen Gemeinden machen sich mit den Schulen dann ein Budget aus, das diese autonom verwalten können. Der Rest der Entscheidungen wird an und von den Schulen getroffen. Unsere Erklärversuche, was der Unterschied zwischen Bundes- und Landesschulen ist oder was Bildungsdirektionen und SQMs sind, sind leider kläglich gescheitert. Die Bürokratie ist auf ein Minimum reduziert, die Verantwortlichkeiten sind ganz klar geregelt und der Gestaltungsspielraum ist daher riesig.

Und, was sind die Herausforderungen?

Ein großes Thema in Estland ist die inoffizielle Zweisprachigkeit: Russisch-Estnisch. Viele Schulen sind entlang dieser zwei Sprachen segregiert. Kaum eine Schule lehrt beide Sprachen, aber alle müssen Estnisch lernen. Mehrheitlich russischsprachige Schulen werden als second-class angesehen. Und, die Drop-Out-Rate der 16 Jährigen nach der gemeinsamen Schule ist hoch: 20% der Jugendlichen fallen nach den 9 Jahren aus dem System. 

Darüber hinaus sind die Lehrer:innengehälter vergleichsweise gering, was einen Lehrer:innenmangel zur Folge hat. 

Fazit

Vor allem im Vergleich mit dem österreichischen Bildungssystem beeindruckt das estnische durch unglaubliche Möglichkeiten an autonomen Handeln und mit seinen klaren Strukturen und Verantwortlichkeiten. Bei unsere Schulbesuchen konnten wir sehen, wie positiv sich das in den Klassenzimmern, bei den Kolleg:innen und Schüler:innen auswirkt. All das könnte Österreich auch machen. 

Felix und Verena, Schulgschichtn Autor:innen

Lesezeit: 5 Minuten

 

Inge Eidsvåg  begann einen mitreißenden Vortrag während eines Seminars in Norwegen mit einer Frage und der simplen Antwort: 

„Was ist ein:e gute:r Lehrer:in? Das ist kurz gesagt sehr einfach: Ein:e gute:r Lehrer:in liebt Kinder und sein:ihr Fach.“

Ich würde sagen:

„Ein:e gute:r Mittelschullehrer:in liebt Kinder und sein:ihr Fach.

„Ein:e gute:r AHS Lehrer:in liebt ihr:sein Fach und Kinder.“

Ich selbst wollte schon als kleines Kind Lehrerin werden und habe nach der Matura für das Lehramt an der Uni studiert. Die Fächer, die ich unterrichten wollte bzw. auch jahrelang unterrichtet habe, waren für mich zweitrangig. Ich wollte junge Menschen „unterrichten“, sie am Weg ins Erwachsenwerden begleiten. Die Fächer waren für mich eher „Mittel zum Zweck“.

Während ich viele Jahre später für den Stadtschulrat (heute Bildungsdirektion Wien) und das Bildungsministerium unterschiedlichste Projekte betreute und leitete, hatte ich die Möglichkeit, unzählige Schulen, und ab und an auch den Unterrichtsstunden, von der Volksschule bis zu BHS zu besuchen. 

Damals wurde mir klar: Ich hätte Mittelschullehrerin werden sollen, denn dort wird anders unterrichtet und Lehrer:innen haben auch die Möglichkeit dazu.  

Was will ich damit sagen: 

Im Gymnasium ist man als Lehrer:in extrem gefordert, um die Schüler:innen der Oberstufe zu Matura zu bringen. Umfangreiches Fachwissen, das man ständig aktualisieren und sich aneignen muss, lässt oft wenig Zeit sich mit pädagogischen bzw. didaktischen Themen auseinander zu setzen. Schüler:innen die z.T. noch voll in der Pubertät stecken zum Lernen zu motivieren, ist nicht immer einfach; nicht unbedingt leichter als bei den „Kleinen“ der Unterstufe, aber anders.    

Für die „Kleinen“ bleibt dann meistens wenig Zeit und Energie übrig. Das muss nebenbei funktionieren. Und der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung mit den Schüler:innen ist, vor allem wenn man nur ein Zwei-Stunden Fach hat und nicht Klassenvorstand ist, schwer. 

In der Mittelschule kann man sich als Lehrer:in voll und ganz auf die 10-14-Jährigen konzentrieren. Die Pädagogik steht im Vordergrund. Also das eigentliche „Lehrer:in-sein“, Kinder und junge Menschen auf den Weg ins Erwachsenwerden zu begleiten, ihre Stärken erkennen, ihr Selbstvertrauen stärken. Der Schwerpunkt liegt nicht am Vermitteln von Lehrinhalten. 

In der Mittelschule kann man meines Erachtens „Mit Leib und Seele Lehrer:in sein“.  

  • Man unterrichtet mehrere Fächer. Manchmal auch solche, die man nicht studiert hat, was nicht unbedingt ein Nachteil ist, weil man als „Lernende:r“ ein großartiges Vorbild für die Schüler:innen ist. Man verbringt also mehr Zeit mit den Schülerinnen und Schülern, das bedeutet 
  • man lernt sie und ihre besonderen Stärken (jedes Kind hat solche!) besser kennen, 
  • man kann leichter Beziehung zu ihnen aufbauen, was grundlegend für ein positives Arbeitsklima ist, 
  • man kann mit der Zeit gut jonglieren, daher manchmal auch Stunden – die man sowieso selbst in der Klasse unterrichtet – umtauschen und kann deshalb
    • geduldiger und einfühlsamer auf die einzelnen Schüler:innen und deren Bedürfnisse eingehen, kann ihr Selbstwertgefühl stärken, 
    • größere – auch fachübergreifende – Projekte durchführen
    • didaktische „Ideen“ und Methoden ausprobieren, um mit „schwierigen“ oder besonders begabten Schüler:innen besser zurecht zu kommen,  
    • die sprachliche und kulturelle Vielfalt in unseren Mittelschulklassen als Bereicherung für alle Schüler:innen bzw. alle Lehrer:innen erkennen und pflegen.
  • Sehr oft sind Mittelschulen geräumige, große, manchmal auch moderne Gebäude, in denen die Schüler:innen nicht zusammengedrängt in den Klassen sitzen, was bei AHS öfter der Fall ist. Die Klassenschüler:innenzahl ist meistens wesentlich geringer als an den AHS. 
  • Der Lehrkörper ist (meistens wesentlich) kleiner, man lernt also Kolleg:inn:en schneller kennen und auch der Austausch untereinander ist einfacher.
  • Die Fortbildungsangebote für die Sekundarstufe 1 sind – nicht nur in Wien – sehr vielfältig  
  • und oft sind Mittelschulen technologisch besser ausgestattet als AHS (Mittelschulen sind Landesschulen, es kommt also aufs Bundesland an).

Drei kleine, meines Erachtens typische, Mittel- „Schulgschichtln“ möchte ich hier noch beschreiben, wie ich sie während meiner zahllosen Schulbesuche erlebt habe. 

Schule 1: 

Ich betrete das schon etwas ältere Schulgebäude, ich habe einen Termin beim Direktor. Es ist gerade Pause. 

Schüler:innen bewegen sich mehr oder weniger ungestüm durch die Gänge, die Stiegen auf- und abwärts. Den meisten Kinder sehe bzw. „höre“ ich an, dass ihre Familien nicht aus Österreich stammen. Die Gesichter der Kinder sind heiter, jedes(!)  grüßt mich höflich und freundlich, obwohl sie mich nicht kennen. Und auf die Frage, wo denn die Direktion sei, findet sich gleich ein kleines Grüppchen, das mich zum Direktor begleitet.
Ich mache dem Direktor gleich ein Kompliment zu seinen höflichen Schüler:inne:n. 

„Ja, das ist das Erste, das wir ihnen beibringen: ein Lächeln, in die Augen schauen, jeden, der ins Schulhaus kommt, bzw. auch jeden Lehrer und jede Lehrerin, höflich grüßen. 

Sie werden wahrgenommen, auch gegrüßt und angelächelt. Das steigert ihr Selbstwertgefühl. So fühlen sich alle hier wohl und auch wenn die Schüler:innen die Schule verlassen, nehmen sie dieses Benehmen – hoffentlich – mit.“

Die Lehrer:innen gehen übrigens mit gutem Vorbild voran, sind freundlich zu den Schüler:innen, respektvoll, hören ihnen zu. Im überfüllten Konferenzzimmer wird viel gelacht und gescherzt. 

Eine großartige Atmosphäre in einer Schule, in der 95% (die Lehrer:innen sagen 110 % ;-) ) der Kinder mit anderen Erstsprachen und kulturellen Hintergründen in den Klassen sitzen.

Es gibt hier viele Probleme zu meistern, das ist klar.  Aber mit einem Lächeln im Gesicht…

Schule 2:

Ich klopfe an der Klassentüre, ich werde erwartet. Ich öffne die Türe. Vor mir steht ein großer, knurrender Schäferhund. Die lächelnde Lehrerin bedeutet dem Hund, dass ich  eintreten darf.
Der Hund legt sich vor dem Katheder nieder, hat alle Schüler:innen im Blick.
Kaum wird es unruhig in der Klasse, hebt er seinen Kopf, knurrt, blickt in die Runde. Alle Kinder sind wieder leise.
Sie lieben ihren Schulhund. Lupo*gehört einer Lehrerin, die ihn zu einem Schulhund ausbilden ließ. Besonders unruhige, unsichere, traumatisierte Kinder und solche mit Einschränkungen finden bei dem Tier Ruhe und Liebe. 

Schule 3:

Chemiestunde. Der Chemielehrer zeigt Versuche, beschreibt was geschieht und bittet nun einen Schüler, noch einmal seinen Mitschüler:innen mit eigenen Worten zu erklären, worum es geht und was er gezeigt hat.

Goran* bemüht sich und erklärt in kurzen, unvollständigen Sätzen, was er verstanden hat. Der Lehrer bittet einen anderen Mitschüler, Goran zu unterstützen ganze zusammenhängende Sätze zu formulieren. 

Noch hat der Lehrer nicht das Gefühl, dass alle Schüler:innen verstanden haben, worum es ging. 

Er bittet eine Schülerin: „Ebru*, wenn du daheim der Mama erklären würdest, was wir da gemacht haben, was würdest du ihr erzählen? Das kann gern auf türkisch sein.“

Ebru versucht es auf türkisch, ihr fehlen aber Fachbegriffe. Mitschüler:innen unterstützen sie. 

Dann noch einmal alles auf Deutsch.

Dass in dieser Klasse auch mehrsprachige Plakate aus dem Biologieunterricht hängen, beeindruckt mich.

Ich bewundere den Lehrer, wie viel Zeit er sich nimmt, bzw. den Schüler:innen gibt. Alles in Ruhe, kein Stress. Er ist erst zufrieden, wenn alle Kinder den Stoff dieser Stunde verstanden haben. Dazu opfert er auch die anschließende Mathematikstunde. Er unterrichtet in der Klasse auch Mathematik und Physik und… Jedenfalls kann er mit den Stunden jonglieren und er erklärt mir: „Wenn die Schüler:innen verstehen, worum es geht, bauen sie ein gutes Fundament auf, dass später viel Zeit erspart.“ Und augenzwinkernd: „Ich bin außerdem auch Sprachlehrer – wie wir alle.“

Ich könnte hier noch viele Schulen, Stunden, Lehrer:innen und Schüler:innen beschreiben, die mich immer wieder beeindruckt und überrascht haben. 

Natürlich darf ich euch nicht vorenthalten, dass ich auch schockierende Situationen erlebt habe. Aber das ist ein anderes Thema. Nur so viel: Rechtzeitig die Schule wechseln und eigene Ideale nicht verkümmern lassen!

Schon vor 50 Jahren hat Don Milani über die Schulen in Italien gesagt:

Die Schule ist wie ein Krankenhaus, das die Gesunden heilt und Kranken hinauswirft.

Oft habe ich das Gefühl, dass es bei uns nicht viel anders ist. Wir Lehrer:innen können das ändern!

Zum Schluss möchte ich noch allen, die Lehrer:insein als Berufung sehen, folgendes Buch (kein belehrendes Sachbuch, als erfrischende Ferienlektüre unbedingt geeignet) ans Herz legen: 

 „Schulkummer“ von Daniel Pennac,   (frz, Chagrin d’école (2007)

Und: in meinem nächsten Leben werde ich Mittelschullehrerin, oder vielleicht Volksschullehrerin? 

Erika Hummer, ehemalige AHS Lehrerin, Mitarbeiterin der Bildungsdirektion und Mitbegründerin von VoXmi

 1 Inge Eidsvåg ist ehem. Direktor der „Nansen Academy – the Norwegian Humanistic Academy” – https://nansenskolen.no  

2 https://iicamburgo.esteri.it/iic_amburgo/de/gli_eventi/calendario/2013/05/don-milani-come-la-scuola-cambia-il-mondo-una-lezione-per-l-europa.html

3 https://de.wikipedia.org/wiki/Daniel_Pennac

*Namen geändert

Lesezeit: 3 Minuten


Wer christlichen Glaubens ist, kennt möglicherweise die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Als Strafe für die Dreistigkeit der Menschheit wurden die verschiedenen Sprachen geschaffen, auf dass wir nicht mehr miteinander sprechen können und nicht mehr solche gewagten Projekte angehen. So oder so ähnlich steht es irgendwo geschrieben. Verschiedene Sprachen als Strafe? Linguisten würden dies anders sehen. Sprachwissenschaftler*innen aus aller Welt würden sich ohne unsere Sprachenvielfalt sehr langweilen. Mittelschullehrer*innen hingegen verfluchen vermutlich des öfteren unsere Urahnen für ihre Unüberlegtheit. Denn es sind die verschiedenen Sprachen, die das Klassenzimmer zwar bunt und international machen, die uns neue Dimensionen eröffnen und oft ungeahnte Aha-Erlebnisse bescheren, aber es sind auch die verschiedenen Sprachen, die unsere tägliche Arbeit oft sehr erschweren. 

Klassenforum

Sprechen wir über Klassenforen. An unserer Schule werden 37 Sprachen gesprochen – internationaler kann man gar nicht sein. Viele Kinder sprechen drei oder vier Sprachen, Eltern oft nur eine einzige – und das ist in einigen Fällen nicht die Umgangssprache des Kollegiums. Nun sind diese Klassenforen oft ein Trauerspiel. 

Die Kolleg*innen sind erschöpft nach einem langen und anstrengenden Schultag, der Schulwart freut sich auch nicht über die zusätzlichen Stunden, die Eltern kommen – dieses Jahr alle brav mit Maske und 3G Nachweisen in die Klassenzimmer, setzen sich an die Plätze ihrer Kinder und an ihren Blicken erkennt man, dass sie echt froh sind, wenn sie diesen Abend unbeschadet überstehen. Sie sind da, aber sie sind nicht wirklich anwesend. Oft bringen sie ihre Kinder als Dolmetscher mit, ihre Freundinnen, Verwandten oder aber ihre kleinen Kinder, die als einzige völlig unbeeindruckt mit allem spielen, was ihnen in die Hände kommt. Die kleinen Geschwisterkinder bringen abends um 19:00 Uhr häufig ein zauberhaftes Leben in die sonst eher geisterhaften Räume. 

Der/die Klassenvorstand hat Informationsblätter vorbereitet, fast immer auf Deutsch, auf welchen etliche Zahlen und Daten und Sätze notiert sind, die viele verstehen, mache lesen können und andere resigniert und unauffällig in ihre Handtasche stecken – wohl wissend, dass ihr Inhalt sie nie erreichen wird. 

Vorne steht dann – mit oder ohne Powerpoint Präsentation – eine Lehrkraft, die in 40-50 Minuten die wichtigsten Eckdaten des Schuljahres erklärt. Auf Deutsch. Darunter Wörter wie: Topjugendticket, Corona-Gurgeltest, AHS Standard Aufstufung, Schoolfox  oder VHS 2.0 Förderung sowie verpflichtende IKM Testung. Als nicht-Eltern sind diese Wörter schon eher komplex. Für nicht des Deutschen mächtige Eltern oft gänzlich umsonst. 

Klassenforum 2.0

Stellen wir uns also eine Alternative vor. Stellen wir uns vor, die Eltern kommen in Sprachgruppen. Von 17-17:30 Uhr Arabisch, von 17:30-18:00 Uhr BSK, von 18:00 – 18:30 Türkisch usw.. Ja, klar, einzelne Sprachen gehen hier möglicherweise verloren, aber man kann ja auch noch individuelle Elterngespräche führen. Muss ja nicht am gleichen Tag sein. Stellen wir uns vor, die Powerpoint Präsentation ist mit Piktogrammen erläutert, ebenso das Informationsblatt. Logos von allen relevanten Stellen, Jahreszeiten zu den Daten, Bilder zu den Fächern. 

Und stellen wir uns noch einen relevanten Faktor vor: Auf einem Mobiltelefon oder Laptop ist ein Live-Dolmetscher zugeschaltet, der in der entsprechenden Sprache synchron dolmetscht. Mobil ist das Gerät deswegen, weil es herumgegeben wird, weil die sonst oft stummen Eltern Fragen stellen dürfen und sich ganz allgemein mal mit der Lehrkraft austauschen.

Klint utopisch? Ist es aber nicht: Die arabische halbe Stunde ist voll besetzt, es versammeln sich ehemalige Schuldirektoren aus Syrien und libanesische Hausfrauen mit ihren Ehepartnern. Es wird gefragt, sich eifrig beteiligt, es wird das Coronatestsystem hinterfragt und gleich dazu eine Bitte: „Frau … Sie sind unsere Stimme – bitte leiten Sie unsere Bedenken weiter! Wir wissen nicht, an wen wir uns wenden sollen.“

Es sprechen Eltern, die seit Jahren Kinder in österreichischen Schulen haben und noch nie an einem Elternabend teilgenommen haben – aus den o.g. Gründen. Es entstehen Diskussionen – und immer wieder die verschmitzte Frage: Und? Wie benimmt sich Salim, Raba, Marwa, Mohammed…

Auch die folgende halbe Stunde ist gut besucht – vergnügte türkische Frauen, die sich über die technischen Probleme köstliche amüsieren, die aber in erster Linie dankbar sind, dass sie wahrgenommen, gehört werden. Dass sie die Möglichkeit bekommen, sich mit derjenigen Person auszutauschen, die viele Stunden, Tage, Wochen und Jahre mit ihren Kindern verbringen. 

Neue Wege

Die ungarische Mutter kommt zum BKS Termin, sie habe eine Zeit in Serbien gelebt, sie verstehe genug. Neue Freundschaften und Kontakte entstehen, und das erste Mal habe ich das Gefühl, dass dieses Klassenforum seinem Namen gerecht wird: Ein Ort, an dem sich Lehrer*innen und Eltern austauschen können. Ein Abend, an dem sich das Dreieck, das eine gute und nachhaltige Bildung ermöglicht, ja, voraussetzt, – Kind – Lehrkraft – Eltern, tatsächlich formt und schließt. 

Zugegeben, es ist technisch immer wieder wackelig. Nicht alles klappt perfekt. Aber auch das ist Teil vom Schulalltag. Vom Lehrer*innen sein. 

Das Bemühen ist da, die Unterstützung durch Videodolmetschen und das Projekt: „Wir verstehen uns!“ gegeben. Endlich! Was einst wie eine Utopie klang – ist heute mancherorts schon Realität. Ein Meilenstein in der Elternarbeit. In der Arbeit mit den und für die Kinder. Und eine neue, wunderbare Herausforderung und Chance in unserer pädagogischen Arbeit. 

Die Autorin ist Lehrerin an einer Wiener Mittelschule.