Lesezeit: 4 Minuten

Meistens gehe ich gerne in die Schule. Meistens verlasse ich die Schule mit dem Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben und mit den Schüler*innen einen Schritt vorwärts getan zu haben. Manchmal überkommt mich allerdings eine Frust und eine Hilflosigkeit, die ich dann nur schwer abschütteln kann.

Ich möchte hier von so einer Geschichte erzählen.

Amar* ist 13 Jahre alt und geht in die 2. Klasse einer NMS in Wien. Er ist seit ungefähr eineinhalb Jahren in Österreich. Seine Vergangenheit ist schwierig, mit dem Tod seines Vaters, der ermordet wurde, und seinen Fluchterfahrungen hat er zu kämpfen. Er ist der älteste Sohn und nun eine große Stütze für seine Mutter, die sich in Österreich um einiges schlechter zurechtfindet als er.

In Österreich angekommen, verbringt Amar die erste Zeit in einem anderen Bundesland, bevor er kurz vor Weihnachten in eine 1. Klasse in Wien wechselt. Amar spricht nicht viel Deutsch, kann sich kaum verständigen, und ist sehr schüchtern. Trotzdem wird er von seinen Klassenkamerad*innen von Anfang an gut aufgenommen und ist bald ein Teil der Gemeinschaft. Im Deutschkurs macht er schnell Fortschritte, auch wenn er die Zeit manchmal lieber damit verbringt, mit den Mitschüler*innen zu blödeln. Immerhin sind im Deutschkurs auch andere Kinder, die seine Sprache sprechen. Dort kann er sich so ausdrücken, dass er verstanden wird.

Amar ist stolz auf sein Herkunftsland und spricht auch oft darüber. Er hat einen Schal in den Farben der Flagge und trägt auch Fotos bei sich. Wir beobachten diesen Nationalstolz mit einer gewissen Sorge, aber eigentlich gibt es keine Anzeichen dafür, dass Amar sich in extremistischen Kreisen bewegt. Er lernt weiter gut Deutsch und wir bekommen sogar eine eigene Förderstunde, um ihn noch intensiver betreuen zu können. Am Ende des Schuljahres möchten wir ihn mitnehmen auf Projektwoche, doch seine Mutter erlaubt es nicht, da sie ohne ihn zu Hause nicht zurechtkommt.

Je besser Amar Deutsch spricht, desto selbstsicherer wird sein Auftreten. Schnell wird er einer der beliebtesten Schüler der Klasse. Er hat Humor, ist schlagfertig und sieht gut aus.

Immer häufiger gibt es Auseinandersetzungen mit Schüler*innen aus anderen Klassen. Nach einer Streiterei mit einem anderen Schüler machen sich die beiden aus, sich nach der Schule im Park zu treffen um sich zu prügeln. Zum Glück erfahren wir rechtzeitig davon und können das Gespräch mit den beiden suchen, bevor etwas passiert. Amar meint es wäre nicht seine Idee gewesen, aber er würde auch nicht davor zurückschrecken, wenn er bedroht wird. Der andere Schüler wirft ihm vor, den Streit begonnen zu haben. Wir schaffen es den Konflikt durch das Gespräch (zumindest vorläufig) zu beenden.

Der Kontakt mit der Mutter ist schwierig, da diese kaum Deutsch spricht. Amar fehlt immer öfter in der Schule und seine Mitschüler*innen erzählen manchmal, sie hätten ihn an solchen Tagen im Park gesehen. Er benimmt sich auch bei anderen Lehrer*innen als seinen Klassenvorständen immer schlechter. Im Herbst der 2. Klasse schaffen wir es endlich, eine Übersetzerin sowie die Mutter zu einem langen Gespräch einzuladen. Die Mutter beginnt schnell zu weinen, sie meint, ihr Sohn würde ihr Schwierigkeiten bereiten. Sie scheint überfordert. Trotzdem ist es ein gutes Gespräch, endlich erfahren wir mehr über Amars Hintergrund und Familienleben.

Amar macht weiter gute Fortschritte und kann in den Nebenfächern sowie in Mathematik und Englisch immer besser mitarbeiten. Wir haben das Gefühl, wir sind auf einem guten Weg.

Im Winter beginnt Amar wieder mehr zu fehlen. Seine Mutter weiß Bescheid, denn wenn wir zu Hause anrufen, sagt sie, er sei krank. Auffällig ist, dass er meistens nur einen Tag am Stück fehlt, dafür in regelmäßigen Abständen. Wir suchen erneut das Gespräch, fragen nach und sagen auch deutlich, was wir uns erwarten.

Nach Weihnachten setzen wir die Schüler*innen um. Amar sitzt neben einem Mädchen. Er sitzt nicht zum ersten Mal neben ihr, allerdings schon seit längerem nicht mehr. Als er in der Früh vom neuen Sitzplan erfährt, wird er grantig. Erst am Nachmittag, in einem Einzelgespräch, erfahre ich warum.

“Ich kann nicht neben einem Mädchen sitzen.”

“Warum?”

“Weil man das bei uns nicht so macht. Das geht nicht.”

Ich versuche mit Amar zu diskutieren. Er ist ein intelligenter Jugendlicher, ich versuche an seinen Verstand zu appellieren:

“Was würdest du dazu sagen, wenn mir andere Schüler*innen sagen, sie könnten aufgrund deiner Herkunft nicht neben dir sitzen. Fändest du das okay?

Auch wenn man auf sein Herkunftsland stolz ist, heißt das nicht, dass man alles gut finden muss, was dort passiert.

Wie stellst du dir das in Zukunft vor? In der Schule, in deinem Job später. Es wird nicht möglich sein, nie neben einer Frau zu sitzen.

Warum ist es dann okay, wenn du jetzt neben mir sitzt? Ich bin auch eine Frau.

Warum ist das plötzlich ein Problem? Du bist schon oft neben Mädchen gesessen.”

Ich habe das Gefühl, Amar einen kleinen Denkanstoß gegeben zu haben. Wir machen uns aus, dass er da sitzen bleibt wo er ist. So schwierig das Gespräch ist, ich finde es auch spannend, Amar dabei zu begleiten, erwachsen zu werden. Er wächst zwischen zwei Kulturen auf und versucht einen Weg zu finden um diese zu vereinbaren. Ich sehe es als meine Aufgabe, ihn zum Nachdenken anzuregen, ihm seine Grenzen aufzuzeigen und ihn zu ermutigen, nachzufragen.

Ein paar Tage später beginnen die Semesterferien. Am ersten Schultag nach den Ferien kommt Amar um halb 9 mit seiner Mutter in die Schule. Sie verkünden uns, dass er von der Schule abgemeldet ist und dies sein letzter Besuch ist. Er wird am nächsten Tag in einer anderen Schule beginnen. Wir können nichts mehr tun.

Am Heimweg gehen mir viele Gedanken durch den Kopf. Haben wir alles richtig gemacht? Wie wird es Amar in seiner neuen Schule gehen? Wird er es schaffen, in Österreich Fuß zu fassen? Wird er den Anschluss und den Halt finden, den er braucht und nach dem er sucht?

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.

Die Autorin ist Lehrerin in Wien.

1 Kommentar
  1. Anonymous
    Anonymous sagte:

    Ich glaube schon, dass ihr es gut gemacht habt. Besonders die Reaktion bezüglich des neuen Sitzplatzes fand ich gut. Es macht nämlich wenig Sinn aufzuschreien und sagen, dass er eben da sitzen muss. Viel zielführender ist, zu fragen, warum er denn da nicht sitzen möchte. Das Gespräch suchen. Sich vielleicht erinnern, dass andere auch schon gesagt haben, dass sie nicht neben Mädchen bzw. Jungen sitzen wollen. Vielleicht erkennen, dass man selbst immer wieder das eigene Verhalten reflektieren sollte.

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