Wir müssen sie (nicht) zwingen
„Herr Professor, können wir nicht noch eine Stunde Geo machen? Das ist so wichtig.“ Das Thema: Rassismus. Die Umsetzung: Fotos, Eigenerfahrungen, ganz viel Gespräch – super reflektiert. „Herr Professor, es ist so schön… können wir nicht rausgehen?“ Sicher. Spaziergang. Die Straße entlang hin zum Wiederkehr. „Mein Normal: Unternehmen entlasten – Jobs schaffen“ ist am NEOS-Plakat bei der schulnahen Bushaltestelle plakatiert. Was bedeutet das? Warum hängt das? Durch welche Entlastung können welche Jobs geschaffen werden? Wie sehen es die anderen Parteien? Spazieren wir weiter. Information, Fragen, Debatte. Fazit: „Das hat so viel Sinn gemacht. Voll super.“ Und außerdem: „Ich hab über das Rassismus-Thema nachgedacht. Darf ich Ihnen nachher noch ein Video zeigen?“ Klar.
Dynamisches Lernen, gemeinsames Reflektieren und Diskutieren, Thematisierung gesellschaftspolitisch relevanter Phänomene – es macht Sinn und nach dem Unterricht wird im lebendigen digitalen Raum weiterdebattiert. Es beschäftigt und ermutigt. Die halbierte Klassenportion ist erfreut über die Möglichkeit nachzufragen und Meinung kund zu tun. Es geht leichter von der Hand für beide Seiten. Man fühlt sich gehörter denn je im Kleingruppenformat. Sacré bleu und quelle surprise.
Dass es so bleibt (weniger Schüler*innen je Lehrer*in in Kombination mit gesteigerter Diskussionsmöglichkeit im dem Wetter angepassten Outdoor-Unterricht): Illusion. Also zurück zum alten Schema ab September? Schema F: Notendruck, Lernzwang, zu viele Kinder auf zu wenig Raum. Doch kann es das geben? Eher zu wenig Lehrer*innen und zu wenig Raum. Änderungsbedarf, Investitionspflicht – Outdoorklassen, späterer Unterrichtsbeginn, gesünderes Angebot in der Schulkantine, interaktives Lernen in Kleingruppen, verbesserte Kommunikationsstruktur im analogen und digitalen Raum, gemeinsames Reflektieren über Erlebtes, Sinndebatte über die Reifeprüfung, individualisiertes Lernen statt kollektivem Schweigen – ein Aufschrei der verstummt. Denn, das was kommt, sei fördernd, innovativ und sozial, der Mehrwert sei unbestritten: die Sommerschule.
„Geh bitte… da geht dir ja keiner freiwillig hin“, so der allgemeine Tenor im Konferenzzimmer (m)einer Wiener AHS. Also ab ins Schema F – mit den Eltern reden, ihnen vermitteln, dass das schwache Kind MUSS. Wir müssen sie zwingen und für die Notenschwäche bzw. die Inkompatibilität mit dem existierenden System bestrafen. Der vom Minister ausgeschickte Stundenplan für die Volksschule (wie sieht es für NMS und AHS aus?), liest sich verheißungsvoll: Förderung der Kreativität, Erkundung der Umgebung, Basteln, Bewegung, Sprachtraining… so macht (Sommer)-Schule Sinn. Was aus mir „spricht“, ist die tiefe Überzeugung, dass Lernen Freude bereitet und dass Kinder Sinnhaftigkeit und Freude erkennen, spüren und schätzen. Lasst uns mit den Kindern reden und sie davon überzeugen, vom Lernen mit Sinn, Freude und Variation – abwechslungsreich und vielfältig, bewusst und individuell.
Aber: Wenn schon, dann g’scheit.
Von einer, meiner AHS läge der nächste Sommerschul-Standort 40 Öffi-Minuten entfernt. Es gibt schlichtweg keine einzige Sommerschule im zweitgrößten Wiener Gemeindebezirk mit massenhaftem Förderpotenzial – auch im Sommer. Den Eltern wird nun sieben Tage vor Meldeschluss vermittelt, dass sie ihre nach den Anstrengungen der Corona-bedingten schulischen Neuerungen die Ferien herbeisehnenden Kinder anmelden können, wenn sie denn wollen. Schema F. Die unzähligen Eltern mit nicht-deutscher Muttersprache und mangelhaften Deutsch-Kenntnissen, die vielzähligen Eltern, die von der beruflich-familiär-sozialen Konstellation täglich bis an und über’s Limit gefordert werden, die hunderttausenden ambitionierten Kinder mit Gestaltungs-, Partizipations- und Lernmotivation werden mit einem formellen Schreiben allein gelassen, wenn nicht die Klassenlehrer*innen die Notwendigkeit erkennen, individuell, persönlich, empathisch, geduldig, motivierend mit denen zu reden, die bereit sind und wollen, wenn das Angebot stimmt: mit unserer Zukunft, unseren Kindern.
Also dann: bitte g’scheit.
Der Autor ist Lehrer an einer AHS in Wien.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!