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„Und das tust du dir wirklich an?“

Lesezeit: 4 Minuten

„Und das tust du dir wirklich an?“ – ist die meistgestellte Frage, die ich höre, wenn ich von meiner Arbeit an einer Neuen Mittelschule (NMS) in Wien Simmering erzähle.

Ich habe ein Diplomstudium in Psychologie absolviert und konnte durch ein paar glückliche Zufälle quer in den Lehrberuf einsteigen. Man komme in „Brennpunktschulen“, wie unserer kaum noch zum Unterrichten, wird dieser Tage gewettert. An manchen Tagen stimmt das vielleicht, und das ist auch in Ordnung. Der Antwort darauf,  warum ich mir das antue, warum ich es wichtig finde, dass jede einzelne Lehrkraft es sich antut und warum Deutsch- und Biologieunterricht nur ein kleiner Teil meiner Arbeit als Lehrerin ist, will ich mich hier nähern.

Ein verzerrtes Bild

7:40 – ich schließe die Klasse auf, lüfte, drehe das Licht auf und manchmal auch Musik. Noch 5 Minuten. Ruhe vor dem Sturm. „Die Jungs haben uns gestern nach der Schule mit Blättern beworfen“, „ Ich konnte meine Deutsch-Hausübung nicht machen, weil ich meiner Mama helfen musste“, „Die anderen nennen mich immer noch bei dem Spitznamen, den ich nicht mag“, „Ich habe die Entschuldigung zu Hause vergessen“ – Tief durchatmen. Lächeln. Erst mal: „Guten Morgen.“ Es ist 7:45, die Arbeit beginnt noch vor dem Unterricht.

Fehlendes Deutsch, radikalisierte Kinder, bildungsferne, desinteressierte Eltern, Gewaltbereitschaft am Schulhof. Normaler Unterricht sei unmöglich. Das Bild, das die Öffentlichkeit dieser Tage von Wiener Neuen Mittelschulen präsentiert bekommt, ist düster, dramatisch und hoffnungslos. Und nicht nur das, es ist in vielen Punkten, das genaue Gegenteil von dem, was ich in meiner Arbeit täglich erlebe. Wer sich traut einen Blick hinter dieses medial verrissene und dramatisierte Bild zu wagen, erhascht einen Blick auf einen bunten und spannenden Haufen Kinder, mit Träumen, Meinungen und Problemen

Ich bin Lehrerin an einer NMS im 11. Bezirk in Wien und es gibt mehr als einen Grund, warum ich mir keinen besseren Ort vorstellen kann, zu unterrichten.

Bunt, vielfältig und herausfordernd

In meiner Klasse sitzen 25 Kinder. Sie sprechen 13 verschiedene Sprachen und kommen aus 14 verschiedenen Ländern, manche von ihnen kennen ihren eigenen Geburtstag nicht. 25 Kinder,  25 Geschichten und 1000 verschiedene Wünsche.

Sami* ist mit seiner Familie aus Afghanistan nach Österreich gekommen und träumt davon Polizist zu werden. Jede Aufgabe, die man ihm gibt, erledigt er mit akribischer Genauigkeit und in Mathe ist er Klassenbester. Sara* gehört zu den coolen Mädels der 2D. Mit ihren langen schwarzen Haaren und ihrer lustigen und kecken Art bricht sie reihenweise Herzen. In Deutsch schreibt sie tolle Aufsätze und wenn sie einen Witz erzählen will, bringt sie vor Lachen kaum ein Wort heraus. Das sind nur 2 der 25 Individuen, die mir täglich , mit ihren ganz unterschiedlichen Stärken, Bedürfnissen, Wünschen und Problemen, gegenüber sitzen und morgens meine größte Motivation sind aufzustehen. Kinder, die versuchen, herauszufinden wer sie sind, was sie wollen und wie sie Herausforderungen lösen können. Diese einzigartigen Persönlichkeiten kennen und verstehen zu lernen, mit ihnen zu arbeiten, sie wachsen, sich entwickeln und über sich hinaus wachsen zu sehen, ist der schönste Teil meiner Arbeit. Und dabei ist es vollkommen unerheblich welche Erstsprache, Religion oder Vergangenheit diese Kinder haben. Es geht um das Jetzt und um die Zukunft.

An die eigenen Grenzen gehen. Und darüber hinaus.

“Children who need the most love will always ask for it in the most unloving ways.”

Diese Aussage des amerikanischen Psychologen Russel Barkley erinnert mich immer wieder daran, warum jedes dieser Kinder – insbesondere jene, die mich an meine Grenzen bringen – meine Energie und meine Nerven wert ist. Es wird provoziert, geschimpft, gestritten, manchmal fliegen Dinge durch die Klasse. Unangemessenes Verhalten sehen wir in der Schule regelmäßig und fragen uns eifrig, wie wir dagegen vorgehen und es in Zukunft unterbinden können. In der Aufregung und im Ärger darüber neigt man leicht dazu, zu vergessen nach Ursprüngen und Gründen für dieses Verhalten Ausschau zu halten. Dabei sind die Rangelei, die Trinkflasche, die durch die Klasse fliegt oder das Schimpfwort, das lange nachhallt, lediglich Symptome innerer Konflikte oder Bedürfnisse. Nachdem ein Schüler wutentbrannt absichtlich Wasser über die Hefte der Mitschüler schüttet, ist es nicht einfach, ruhig zu bleiben und nach dahinterliegenden Bedürfnissen zu suchen. Dennoch sind es immer wieder genau solche Situationen, die uns später helfen ein Kind besser zu verstehen und gezielter mit ihm zu arbeiten. Es sind solche Situationen, die es erfordern da zu bleiben, in denen wir uns nicht abwenden und das Kind abschreiben, die Vertrauen schaffen. Es sind die Kinder, die mich mit ihrem Verhalten und mit ihren Aussagen, manchmal fast verzweifeln lassen, für die es sich lohnt jeden Tag wieder zurück in die Schule zu gehen und für sie da zu sein.

Babysteps

“Darf ich zum Buffet?” – “Fliegen? Kriechen? Schleichen?” Goran* verdreht die Augen, lacht und sagt: “Aaaah, darf ich zum Buffet GEHEN?” Jeden Tag, selbe Zeit, selber Schauplatz, selbes Schauspiel. Dann plötzlich eines Tages, unvermittelt und unvorhergesehen: “Frau Lehrerin, darf ich bitte zum Buffet gehen?” Als wäre es das Normalste auf dem Welt. Diese Situation mag unbedeutend und trivial klingen, doch sie steht für ein Gefühl, dass sich mit nichts vergleichen lässt: diese Mischung aus Stolz, Glück und Erleichterung, wenn Bemühungen aufgehen, wenn Veränderungen sichtbar werden und noch so kleine Ziele erreicht werden.

Wenn man nicht genau hinsieht, verpasst man im Trubel des Schulalltags solche Momente und dieses einzigartige Gefühl entgeht einem. Schult man aber den Blick und achtet auf diese scheinbar unbedeutenden Dinge, trägt es und bietet ein sicheres Gegengewicht zu dem “Das bringt doch alles nichts” – Gefühl. Achtung, man kann danach süchtig werden.

Mehr als Unterricht

“Schoko-Schoko-La-La, Schoko-Schoko-De-De, SchokoLa-SchokoDe-Schokolade.”

Das ist nur eines der vielen Klatschspiele, die ich in den letzten Jahren lernen und mit Begeisterung spielen durfte. Schule ist so viel mehr als Unterricht. Die Pausen, das Mittagessen und jeder Ausflug bieten im Schulalltag Möglichkeiten, die Kinder wirklich kennenzulernen und mit ihnen ausgelassen Spaß zu haben. Ob ein ausführlicher Bericht über das Fußballspiel am Wochenende, das Erzählen eines neuen Witzes oder das gemeinsame Üben der gerade angesagten Klatschspiele: Nicht nur Kinder lieben Pausen, auch für mich als Lehrerin sind sie einzigartige und essentielle Möglichkeiten, Schüler*innen kennen zu lernen, Beziehung aufzubauen und auch selbst jede Menge Spaß zu haben.

Echt jetzt: Warum?

Ist das Unterrichten schwieriger, als in einem Gymnasium? Ist das Verhalten von Kindern an der NMS auffälliger? Sind die Herausforderungen größer? Ist Sprache das einzige Problem? Kommt der Unterricht zu kurz? – Ich kann keine dieser Fragen eindeutig beantworten.

Die Frage, warum ich mir das antue, kann ich dagegen mittlerweile sehr klar beantworten: Weil es spannend, herausfordernd, lehrreich, erfüllend und begeisternd ist und obendrein unheimlich viel Spaß macht.

*Namen von der Redaktion geändert.

Die Autorin ist Lehrerin an einer NMS in Wien.

3 Kommentare
  1. Martina Vogel
    Martina Vogel sagte:

    Liebe Verena!
    “ Man sieht nur mit dem Herzen gut, denn das Wesentliche bleibt den Augen verborgen!“, sagte der kleine Prinz.
    Du siehst auch mit deinem Herzen.
    LG Martina

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  2. monika
    monika sagte:

    Du beschreibst deinen Alltag ganz wunderbar, und er unterscheidet sich so gar nicht von Alltag, den ich kenne. Ich habe zwar mittlerweile in die Direktion gewechselt, aber du sprichst mir aus dem Herzen! Danke für dein großes Herz!
    lg monika

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