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Ein Schüler, nennen wir ihn Julian, rastet kurz nach dem Beginn der Stunde aus. Es ist die letzte Woche vor den Weihnachtsferien. Am nächsten Tag steht ein Besuch des Weihnachtsmarkts an. Julian wird von diesem Ausflug ausgeschlossen und muss in der Schule bleiben. Muss schreiben, lesen und lernen, während die anderen Spaß haben. Muss!

Klasse 2e kommt heute nicht zur Ruhe, dem Lärmpegel ist nicht wirklich beizukommen. Kaum ist in der einen Ecke die Konzentration hergestellt, geht es in den vorderen Reihen los. Irgendwann reißt der Kollegin der Geduldsfaden. Den Schüler:innen wird die Kunststunde gestrichen. Statt malen müssen eine Doppelstunde lang die Lebensläufe von Picasso und Flora geschrieben werden. Sie müssen schreiben.

Sebastian und zwei andere Schüler:innen vergessen immer wieder ihre Sportsachen. Anstatt mitzuturnen, müssen sie die Schulordnung schreiben. Sie müssen schreiben!

Dann gibt es noch Valerija und Iris, die sich in der Pause nicht benommen haben. Die Konsequenz daraus ist, dass sie ein Gedicht auswendig lernen müssen. Sie müssen auswendig lernen.

Echt jetzt?

Die oben angeführten Beispiele könnte ich beliebig fortsetzen. Was sie alle eint? Dass wir in der Schule Kinder und Jugendliche mit Tätigkeiten bestrafen, die mit Schule und Lernen zu tun haben. Dass Fehlverhalten mit Abschreiben, doppelt so viel Hausübung, absagen der Sportstunde geahndet werden. Dass wir Schüler:innen alles streichen, was Spaß macht. Übrig bleibt der normale Unterricht im frontalen Setting und die Botschaft, dass Lernen eben keinen Spaß macht. Dass Schreiben und Auswendiglernen keine kreativen Prozesse sind, sondern ein Erziehungsmittel. Dass Hausübungen keine Übung sind, sondern die Möglichkeit Schüler:innen die Freizeit zu versalzen. Dass in der Schule bleiben müssen, eine Strafe ist.

Ja, auch ich habe mich im Zuge meiner fast 30-jährigen Lehrerinnentätigkeit dieser Mittel bedient. Habe meinen Klassen Lehrausgänge gestrichen und sie zum in der Schule bleiben verdonnert. Habe statt Malen und Zeichnen Kunstgeschichte gemacht. Okay, die Nummer mit der Schulordnung statt der Bewegung, habe ich ausgelassen. Weil mir lieber ist, die Kinder und Jugendlichen bewegen sich in ihrem Alltagsgewand als gar nicht.

Wie schräg diese unterschiedlichen Facetten der Bestrafung sind, fällt mir erst in den letzten Monaten vermehrt auf. Wir machen uns selbst das Leben schwer.

Also muss der Lehrer die Möglichkeit haben, Strafen auszuteilen

„Die Unterrichtszeit soll dazu genutzt werden, den Stoff durchzugehen.
Für Diskussionen ist da keine Zeit. Also muss der Lehrer die Möglichkeit haben, Strafen auszuteilen damit das Kind den Unterricht nicht weiter stört.“ (Leser:innenzitat Der Standard)

Zitate wie dieses lese ich immer wieder. Auch solche, in denen bitter geklagt wird, dass den Lehrer:innen im Jahr 2023 die Hände gebunden sind. Früher, ja da war alles besser. Da hat die Lehrperson ein Machtwort gesprochen und alle waren ruhig.

Mein Volksschullehrer hat nicht nur Machtwörter gesprochen, sondern auch gehandelt. Als meine Finger voll mit blauer Tinte waren, schickte er mich nicht Hände waschen, sondern machte mich vor der ganzen Klassen lächerlich. Danach stand ich in der Ecke mit immer noch blauen Fingern. Wiederholt wurde er handgreiflich, zog und zerrte Kinder von A nach B. Auch die eine oder andere Ohrfeige gab es. Keine gebundenen, sondern schlagende Hände.

Ist dieses Früher gemeint? Ich hoffe nicht!

Mir ist klar, dass Regelbrüche Konsequenzen haben müssen. Es geht nicht, dass ein Schüler eine Klasse terrorisiert. Es ist nicht okay, wenn statt einem gesunden Arbeitslärm, Chaos herrscht. Ja! Kinder und Jugendliche wollen und brauchen Grenzen. Nur wie sollen wir es anstellen?

„Das ist doch keine Strafe, sondern eine wunderbare Gelegenheit!“

Das erklärt der Rabe Abraxas der kleinen Hexe in dem gleichnamigen Film, als diese bis zur nächsten Walpurgisnacht alle Hexensprüche auswendig lernen muss. Wenn wir Strafen oder Konsequenzen in der üblichen Art austeilen oder setzen, dann versperren wir den Schüler:innen sämtliche Gelegenheiten, die freudvolles und lustbetontes Lernen bieten.

Pablo Picasso und Paul Flora sind wunderbare Künstler, die sich mehr als negative Aufmerksamkeit verdient haben. Kunstgeschichte ist kein Trauerspiel, sondern ein wichtiger Beitrag zur Bildung.

Aber ich warne an dieser Stelle davor, Kinder und Jugendliche sämtliche Konsequenzen als super Gelegenheit zu mehr Bildung zu verkaufen. Die sind zum Glück nämlich nicht dumm und durchschauen diesen Schwindel innerhalb kürzester Zeit. Ich glaube, wir müssen weg von dieser Art der Straf-Kultur.

Aber was tue ich, wenn?

Vielleicht sollten wir mal unterscheiden lernen, welches Verhalten tatsächlich dringend Konsequenzen braucht und welches eigentlich nur unsere persönlichen Befindlichkeiten stören. Bei ersterem es ist mE leicht, diese zu definieren. Grobe Verstöße wie Gewalt, Mobbing oder andere kriminelle Straftaten müssen mit Hilfe von Expert:innen besprochen werden. Konsequenzen setzt da im Übrigen das Strafgesetzbuch. Ich bin mir dessen bewusst, dass eine Meldung solcher Straftaten schwere Folgen für Kinder und Jugendliche haben kann. Aber in diesem Fall nicht zu reagieren, finde ich persönlich fatal. Weil ich Gewaltausbrüche als Hilfeschreie sehe. Hilfe, die ich aber nicht geben kann. Das sehe ich nicht als ein Zeichen von Hilflosigkeit, sondern viel mehr als eine Sache, die meine Kompetenz übersteigt. Ob dann der Lehrausgang mitgemacht werden darf oder nicht, steht nicht zu Debatte. Wenn wir die Ressourcen hätten, dann würde ich in diesem Fall eher eine zusätzliche Lehrperson mitnehmen, die hauptsächlich für XY zuständig ist. Er oder sie darf sich nicht mit Freund:innen auf dem Weihnachtsmarkt bewegen, sondern nur in Begleitung der Lehrer:innen. Mit der Erklärung, dass es zurzeit keine Vertrauensbasis gibt.

Unter Befindlichkeiten verstehe ich Dinge, die mich persönlich stören. Dass die sich nicht immer mit denen meiner Kolleg:innen decken, ist mir bewusst. Daher ist schwer, eine einheitliche Lösung zu finden. Nicht einmal ich selbst reagiere immer gleich. Klar, meine Schüler:innen beschweren sich dann, aber so lange ich erklären kann, warum ich welche Konsequenzen setze, habe ich auch damit kein Problem.

Statt Ausflüge zu streichen, würde ich Inhalte oder Lernstoff mal beiseitelassen und mit einer Klasse, die nicht zu beruhigen ist, eine Woche lang nach draußen gehen, in den Wald oder einfach ins Freie. Eine Woche mit viel Gehen, Bewegung und frischer Luft, unabhängig von der Jahreszeit. Mit Hilfe von Expert:innen würde ich so arbeiten, dass wieder Unterricht für alle möglich ist. Dafür fehlt uns Lehrer:innen der Handlungsspielraum, aber nicht um grausam und hart zu bestrafen.

Strafen und ihr Einfluss auf das Klassenklima

Es ist bis heute nicht bewiesen, dass in Klassen, in denen eine härtere Strafkultur vorherrscht, das Klassenklima besser ist oder der Unterricht größere Erfolge erzielt. Im Gegenteil: dort  wo hart bestraft wird, die Lehrpersonen keine Widerrede dulden, wird Mobbing und versteckter Gewalt Tür und Tor geöffnet. Die Lehrer:innen bekommen das oft nicht mit, weil in den Stunden ja die Disziplin passt. Was Schüler:innen in diesem Setting lernen ist, dass sie machen können, was sie wollen, Hauptsache es wird von den Erwachsenen nicht bemerkt. An diese wenden sich die meisten Mobbingopfer auch nicht, weil sie Angst haben. Und das wiederum spielt den Täter:innen in die Hände. Dass ein Klima der Angst keine lernfreundliche Umgebung ist, muss ich nicht näher ausführen, weil es längst bewiesen ist.

Als Ausklang gewähre ich Einblick in das Schulunterrichtsgesetz, wo genau festgelegt ist, was Lehrer:innen dürfen oder nicht. 

Im Schulunterrichtsgesetz ist klar geregelt, welche „Strafen“ Lehrer*innen verteilen dürfen. Verboten sind jede Art von körperlicher Züchtigung, also Gewalt, Handgreiflichkeiten, aber auch Beleidigungen oder Strafen an der ganzen Klasse. Es darf also z. B. nicht die ganze Klasse bestraft werden, wenn „der*die Schuldige“ nicht gefunden wurde.

Wer möchte kann das als kleinen Reminder an sich selbst sehen und vor der nächsten Bestrafung kurz innehalten. Um dann in weiterer Konsequenz darüber nachzudenken, ob sich um eine Befindlichkeit oder ein echtes Problem handelt.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.