Still ist es geworden
Im Schulhaus ist so still wie schon lange nicht mehr. Am Gang sehe ich selten Schüler*innen und aus den Klassenräumen dringt kaum Lärm. Meine Kolleg*innen sehe ich ab und zu, manche in der Früh, manche mal zwischendurch und manche schon seit drei Tagen nicht mehr. Und auch in den diversen Lehrer*innenzimmern ist kaum etwas los. So könnte ein Albtraum beginnen, denke ich mir. Wenn es ein Traum wäre, dann müsste jetzt aus irgendeiner Ecke ein schleimiges, grünes Monster kriechen, das mich mit lautem Schmatzen langsam zerkaut.
Vielleicht ein Geschenk?
Die ersten Tage der Schulöffnung fühlten sich eigenartig an. Die Stille machte mir zu schaffen. Ich empfand sie als bedrückend, auch weil die Verunsicherung und die Angst aller deutlich zu spüren waren. Es war keine neue Normalität. Nichts war normal. Es war und ist immer noch eine Ausnahmesituation.
In der zweiten Woche ging es mir besser. In mir keimte der Gedanke auf, dass diese letzten Schulwochen ein Geschenk sein könnten. Die Klassen sind in zwei Kleingruppen geteilt. Aufgrund der aktuellen Bestimmungen sollten die Schüler*innen keinen Notendruck mehr haben. Sie können sich, rein theoretisch, nur mehr die Zensuren verbessern. Auch von den Lehrer*innen fällt der Druck weg, denn es muss nicht mehr irgendein Kapitel des Lehrplans noch schnell abgeschlossen werden.
Was geht, geht. Was nicht mehr geht, geht eben nicht mehr.
Dieser Umstand öffnet neue Türen, nämlich sechs Wochen Zeit mit Kindern und Jugendlichen für lustvolles Lernen abseits eines vorgegebenen Plans. Es könnten die besten sechs Wochen meines Lehrerinnendaseins werden. Wir machen das, was uns gefällt.
Mit einer Klasse möchte ich in jedem Fall die Werkstücke fertig machen, die wir vor Corona angefangen haben. Zum einen, weil es schade wäre, wenn diese unfertig im Mistkübel landen. Zum anderen steckt da jede Menge Arbeit und Herzblut der Schüler*innen drinnen.
Dann werde ich versuchen mit theaterpädagogischen Mitteln den Lockdown zu thematisieren. Vielleicht gelingt uns ja eine kleine Präsentation zum Abschluss des Jahres.
Wenn es das Wetter erlaubt, will ich mit den Schüler*innen in den Park gehen. Sie sollen sich am Spielplatz mit ihren Freund*innen austoben, das nachholen, was zehn Wochen lang verboten war.
Es dürfen zwar keine Lehrausgänge gemacht werden, aber in jedem Wiener Bezirk steckt ganz viel Geschichte, die es zu erkunden gilt. Außerdem könnten Klimawandel und andere aktuelle Tagesthemen behandelt werden.
Geile Zeit, denke ich mir. Was für ein Geschenk.
Die Wirklichkeit
Soweit es mir möglich ist, ziehe ich meine Pläne durch, stoße dabei aber sehr schnell auf Widerstände. Als ich mit einer Gruppe in den Werkraum gehen will, ist meine Kollegin wenig begeistert. Die Gruppe A hat eine einzige Mathematikstunde in dieser Woche. Die muss genützt werden, um im Kapitel XY weiterzukommen. Denn schließlich brauchen die Schüler*innen auch eine Hausübung. Das ist so vorgeschrieben. Ich halte dem entgegen, dass sie ja ohnehin in anderen Unterrichtsfächern unter Garantie Arbeit für die freien Tage bekommen würden. Ich schlage vor, dass sie zur Abwechslung einen Arbeitsauftrag in Bildnerischer Erziehung bekommen könnten. Denn mir ist aufgefallen, dass einige Schüler*innen in der Coronazeit ein Sketch-Book angelegt haben.
Fülle ein paar Seiten in deinem Sketch-Book. Wer keines hat, bekommt eines. Wir zahlen es mit dem Geld der Klassenkasse. Dann kann jede*r Schüler*in mitmachen. Ich mag diese Idee.
Mein nächstes Angebot ist, dass wir gemeinsam eine Choreografie entwickeln könnten. Zuhause soll die dann gefestigt werden.
Nein, das sind alles keine richtigen Hausübungen, wird mir deutlich gemacht. Es muss Mathe sein.
So wie es Mathe sein muss, muss es auch Deutsch, Englisch, Biologie und so weiter sein. Schließlich müssen wir ganz dringend jetzt noch sechs Wochen Schule spielen.
Wieder eine nicht genützte Chance
Kein Monster hat Schüler*innen und Lehrer*innen verschluckt. Die Stille rührt daher, dass in den meisten Klassen die Schüler*innen auf ihren Plätzen sitzen und geduldig dem hauptsächlich angebotenen Frontalunterricht folgen, der nur eines zum Ziel hat: Nämlich in den kommenden sechs Wochen so viel wie möglich nachzuholen, damit der Start ins neue Schuljahr möglichst reibungslos verläuft. Vielleicht gelingt es ja sogar, dass alle Kapitel des Lehrplans erfüllt werden. Was für ein Erfolg. Trotz zehn Wochen Distanzlehre, wurde alles in die Köpfe der Kinder und Jugendlichen hineingestopft. Ob es dort hängenbleibt, ist eine andere Frage.
Schade. Wir hätten die Chance gehabt zu beweisen, dass Schule auch ohne Notendruck großartige Lernerfolge liefern könnte.
Anmerkung der Autorin:
Aber in ein paar Klassen gibt es kleine, feine Projekte. Und das finde ich großartig.
Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.