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Ein gekürztes Kapitel aus dem Buch “Emanzipatorische Bildung: Wege aus der sozialen Ungleichheit”, Günther Sandner und Boris Ginner (Hg.), erschienen 2021 im Mandelbaum Verlag

Der Status Quo – Wo stehen wir?

„Sag mir welche Bildung deine Eltern haben, und ich sage dir, wie deine Schullaufbahn aussehen wird“, könnte man einem Kindergartenkind in Österreich sagen. Mit einer großen Wahrscheinlichkeit würde diese Prognose auch stimmen, denn Bildung wird vererbt. Schon seit Jahren zeigen nationale und internationale Studien, dass Intelligenz, Talent und Fleiß in Österreich nicht unbedingt zu einer erfolgreichen Schullaufbahn führen. Vielmehr ist der Bildungsgrad der Eltern für die eigene Zukunft entscheidend. Soziale Ungleichheit im Klassenzimmer beginnt demnach schon bei der Geburt.

Insgesamt 66% der Schüler*innen, deren Eltern als höchste Schulbildung einen Pflichtschulabschluss erreicht oder eine Berufsausbildung (Lehre, BMS) absolviert haben, gehen nach der Volksschule weiter in eine Mittelschule (Bildungsbericht 2018, Band 1: 145). Im Gegensatz dazu entschließen sich 71% der Schüler*innen, deren Eltern Matura oder einen tertiären Bildungsabschluss haben, nach der Volksschule für das Gymnasium. Schon im Alter von 10 Jahren werden Schüler*innen in Österreich also nach dem Bildungsabschluss der Eltern segregiert. Diese soziale Segregation in der Sekundarstufe I ist im städtischen Raum noch wesentlich deutlicher zu sehen als in ländlichen Gebieten (ebd.: 115).

Wo müssen wir hin? 

Das Bildungssystem ist nur einer von vielen Bereichen, der zu einer sozial gerechteren Gesellschaft beitragen kann. Bildung allein kann keine sozial gerechte Gesellschaft herstellen. Dazu braucht es neben einem gerechteren Bildungssystem immer noch Sozial-, Wirtschafts- und Wohnungspolitiken, die soziale Ungerechtigkeiten reduzieren. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob ein gerechtes Bildungssystem, das soziale und ökonomische Mobilität forciert, in einer Gesellschaft und einem Sozialstaat, die genau dies nicht tun, überhaupt möglich ist. Braucht es nicht zuerst eine gerechtere Gesellschaft, die ein gerechtes Bildungssystem erst ermöglicht? 

Es gibt jedoch Maßnahmen im Schul- und Bildungssystem, sowohl auf pädagogischer Ebene im Klassenzimmer als auch auf bildungspolitischer Ebene, die umsetzbar und dringend notwendig wären.

1.  Kleine Schritte – Pädagogische Veränderungen im Klassenzimmer

Differenzierung und Potenzialfokussierung. Soziale Ungerechtigkeiten können im Unterricht ausgeglichen werden, indem jedes Kind als Individuum gesehen wird. Das bedeutet, dass nicht alle immer gleichzeitig das Gleiche lernen, sondern dass im Unterricht auf die Stärken und Schwächen, aber auch auf unterschiedliche Lerntypen, Lerngeschwindigkeiten und Interessen eingegangen wird. Das bedarf freilich einer starken Differenzierung des Unterrichts auf mehreren Ebenen. Erstens sollte der Unterricht nach dem Vorwissen der Schüler*innen differenziert werden. Damit jedes Kind gesehen wird und die Chance bekommt zu lernen, muss auf die verschiedenen Startbedingungen eingegangen werden. Zweitens sollte der Unterricht den Interessen entsprechend differenziert sein, damit jedes Kind in jenen Feldern am meisten lernen kann, die es am meisten interessieren. Drittens bedarf es einer Differenzierung nach Leistung bzw. Leistungsmotivation. Nicht jede*r Schüler*in muss in Mathematik die gleichen Aufgaben machen. Manche wollen und können schwierigere Aufgaben machen, andere nicht. 

Mitsprachemöglichkeiten schaffen. Eine weitere Möglichkeit soziale Ungerechtigkeiten im alltäglichen Schulalltag auszugleichen bietet das Schaffen von Mitsprachemöglichkeiten und -rechten für die Schüler*innen. Das kann ein Klassenrat in jeder Klasse sein, der mitbestimmt, was in der Klasse passiert. Das kann aber auch eine Schulvollversammlung sein, also eine Art Parlament, in dem Schüler*innen über Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Schule diskutieren und Entscheidungen treffen können. Vor allem Kinder aus ärmeren Milieus können so auf ihre Anliegen aufmerksam machen, ihre Stimme erheben und den Unterricht und ihre Schule gerechter gestalten. 

Thematisieren im Unterricht. Um soziale Ungerechtigkeiten in der Schule ausgleichen zu können, müssen Aspekte wie Vielfalt, Herkunft, Armut und Gerechtigkeit im Unterricht thematisiert werden. Viele Schulen zeigen vor, wie man sowohl im Unterricht als auch mit Workshops diese Themen besprechen, diskutieren und bearbeiten kann. So können Workshops oder Projekte über Menschenrechte und Vielfalt dabei helfen, dass die Thematik den Schüler*innen bewusster wird und in der Klassen wertgeschätzt werden.

2. Große Schritte – Bildungspolitische Veränderungen 

Gemeinsame Schule.Auf bildungspolitischer Ebene existieren eine Vielzahl von Strukturen, die soziale Ungleichheiten festigen. Das größte Problem ist in diesem Zusammenhang die Segregation. Unglücklicherweise findet man trennende Maßnahmen im österreichischen Schulsystem auf vielen verschiedenen Ebenen. Die wohl auffälligste dieser Trennungen erfolgt bereits mit 10 Jahren durch die Aufteilung in Gymnasium und Mittelschule. Übertrittsentscheidungen nach der Volksschule basieren nur zu einem kleinen Teil auf tatsächlichen Leistungen und dem Potential eines Kindes. Entscheidend ist vielmehr die soziale Herkunft. 

Geld. Da es aber auch nach der Einführung einer gemeinsamen Schule Standorte geben wird, die größere Herausforderungen zu bewältigen haben als andere, muss die Finanzierung des gesamten Bildungssystem neu aufgestellt werden. Jene Standorte, die größere Herausforderungen und Probleme haben, sollten mehr Geld und mehr Ressourcen in Form von Personal bekommen. Dieser oft genannte Chancenindex würde vor allem Kindern aus ökonomisch schwächeren Familien zugutekommen. 

Darüber hinaus wäre es sinnvoll, mehr Geld in die Kindergärten und Volksschulbildung zu investieren. Derzeit fließt das meiste Geld in die Altersgruppe der 10- bis 14-jährigen. Je mehr in frühkindliche und elementare Bildung investiert wird, desto besser können Herkunftseffekte von sozialen Ungerechtigkeiten ausgeglichen werden. 

Benotung.Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass Kinder mit Migrationshintergrund strenger beurteilt werden als autochthone Kinder (El-Mafaalani, 2020, S.81). Ganz generell ist die Vergleichbarkeit von Ziffernnoten stark zu hinterfragen, da sich Lehrkräfte bei der Beurteilung an klasseninterne Bezugsrahmen orientieren (Südkamp & Möller, 2009, S.161 ff) . Dieselbe Leistung kann demnach in einer leistungsschwachen Klasse zu einem „Gut” führen, während sie in einer leistungsstarken Klasse nur für ein „Genügend” reicht. Damit verlieren Ziffernnoten ihre ohnehin beschränkte Aussagekraft. Im Gegensatz dazu kann eine lernzielorientierte differenzierte Leistungsrückmeldung einen positiven Einfluss auf den Lernprozess nehmen. 

Ausbildung und Auswahl von Pädagog*innen. Eine weitere notwendige systemische Veränderung ist eine Reform der Lehrer*innenausbildung. Diese muss nicht nur mehr Praxiserfahrung und einen stärkeren Fokus auf Pädagogik bzw. Didaktik beinhalten, sondern auch auf die Arbeit in einem diversen Klassenzimmer vorbereiten. Divers im Sinne von Sprache und Migrationsbiographien, aber auch im Sinne von ökonomischen Schichten und Klassen. Derzeit findet die Vorbereitung auf das Unterrichten von Kindern aus sozioökonomisch ärmeren oder auch Migrantenfamilien viel zu wenig Raum in der Lehrer*innenausbildung. 

Ein faires Bildungssystem, in dem pädagogisch, aber auch systemisch daran gearbeitet wird, soziale Ungleichheiten zu reduzieren, kann zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen. Wir müssen die Ungerechtigkeiten des Systems weiterhin ansprechen und auf allen Ebenen daran arbeiten diese zu überwinden, um eine gerechtere Gesellschaft zu ermöglichen! 

Verena Hohengasser, Simone Peschek und Felix Stadler 

Literatur

Nationaler Bildungsbericht  Österreich 2018 (2019). Das Schulsystem im Spiegel von Daten und Indikatoren. Band 1. Konrad Oberwimmer, Stefan Vogtenhuber, Lorenz Lassnigg und Claudia Schreiner (Hrsg.). Graz: Leykam

https://www.bifie.at/wp-content/uploads/2019/03/NBB_2018_Band1_v2_final.pdf

Nationaler Bildungsbericht  Österreich 2018 (2019). Fokussierte Analysen und Zukunftsperspektiven für das Bildungswesen. Simone Breit, Ferdinand Eder, Konrad Krainer, Claudia Schreiner, Andrea Seel und Christiane Spiel (Hrsg.) Graz: Leykam

https://www.bifie.at/wp-content/uploads/2019/03/NBB_2018_Band2_final.pdf

Mafaalani, A. (2020). Mythos Bildung: Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. (1). Kiepenheuer und Witsch.

Südkamp, A. & Möller, J. (2009). Referenzgruppeneffekte im Simulierten Klassenraum: Direkte und indirekte Einschätzungen von Schülerleistungen. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 23, pp. 161-174.  https://doi.org/10.1024/1010-0652.23.34.161

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Schüler:innen und Lehrer:innen feiern gerne. Ganz ohne Aufforderung bringen viele Kinder und Jugendliche zu ihrem Geburtstag Torte, Kekse, Saft und Schokolade. Sie teilen ihre Freude mit allen. Achten darauf, dass alle etwas am Teller haben. Ertragen, die manchmal sehr schräg gesungenen Geburtsständchen. Und versprechen fürs nächste Jahr mehr Torte, Chips und Saft, damit tatsächlich alle satt werden.

Kinder und Jugendliche brauchen Feste. Das Ritual des Geburtstagsfeiern bringen sie meistens aus der Volksschule mit. Dass es in der Adventzeit einen Kalender gibt, finden sie perfekt. Sie malen hingebungsvoll Weihnachtskarten, und auch zu Ostern basteln alle an der Osterdeko. Neu in diesem Schuljahr ist, dass endlich eine Klasse an den Ramadan gedacht hat. Ramadan kareem und wunderschöne Laternen schmücken die Pinnwand vor der Klasse.

Ramadan

Leider wirbelt der Beginn des Fastenmonats schon Wochen davor Staub auf. Ich versuche das auszublenden und freue mich über die Gesichter meiner Schüler:innen, die in Bälde fasten werden. Sie sind aufgeregt und voller Vorfreude. Die Mutter einer ehemaligen Schülerin läuft mir über den Weg. Wie so oft würden wir gerne auf einen Kaffee gehen. Wenn der Ramadan vorbei ist, dann aber wirklich, sagt sie. Eigentlich klingt das so, wie wenn ich sage, wenn Weihnachten vorbei ist.

Dennoch, der Ramadan polarisiert. Plötzlich beginnt die Sorge um jene Kinder und Jugendlichen, die von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang fasten müssen. Das ist der erste Irrtum. Es muss niemand fasten, aber die Kinder und Jugendlichen wollen es. Kinder sind ausgenommen vom Fasten, aber sie wollen ein Teil der Gemeinschaft sein. In manchen Familien wird daher zum Beispiel das Kinderfasten etabliert. Kinder essen zwischen den Mahlzeiten nicht. Und, Ramadan ist viel mehr als eben eine Zeit lang nicht zu essen und zu trinken. Aber, das wird alles beiseitegeschoben. 

Eine andere Variante ist, Ramadan bewusst nicht zum Thema zu machen. Ausgehend davon, dass Religion Privatsache ist, und die Schule nichts angeht. Mit dieser Haltung verbunden ist, dass der Austausch über den Fastenmonat abgewürgt wird. Wer Durst hat und nichts trinkt, ist selbst schuld. Wer im Sport nicht ordentlich mitmacht, weil es schon später ist, und der Hunger größer wird, bekommt ein Mitarbeits-Minus. Dann sollen sie eben essen und trinken, verbietet ihnen ja niemand.


Beide Zugangsweisen finde ich nicht akzeptabel. Welches Licht werfen Sorgen um ihre Kinder auf muslimische Eltern? Es wird bei genauerer Betrachtung Müttern und Vätern unterstellt, sie würden ihre Kinder bewusst vernachlässigen oder quälen. Wie oft werden im Zusammenhang mit der Leistungsbeurteilung die wahren Ursachen eines Versagens ausgeblendet. Wie oft hört man, es ist mir egal, was die Leistungen der Schüler:innen maßgeblich beeinflusst? Einmal im Jahr ist dann alles anders. Diese vermeintlichen Sorgen haben nicht das Kind zum Thema, sondern sind einer beinharten Wertung geschuldet. Ramadan ist kein Fest „von hier“, von „unserer“ Kultur. Wenn Religion tatsächlich Privatsache sein soll, warum wird dann das Schulhaus weihnachtlich geschmückt, ein Adventkalender gebastelt oder ein Ostergedicht gelernt? Warum werden Weihnachtslieder gesungen und die Eltern informiert, weil sich Büsra* weigert mitzusingen? Ihr Argument, sie würde nicht Weihnachten feiern, regt auf. Nein, ich erzähle nicht von einer konfessionellen Schule. Es handelt sich um eine öffentliche Mittelschule in Wien.

Der Kinobesuch

Eine Kollegin hat für die Woche vor der Osterferien einen Kinobesuch festgelegt. Jene Schüler:innen, die fasten, sind enttäuscht. Es ist Ramadan, sie dürfen im Kino nichts essen und trinken.

Die Kollegin ist verunsichert, was durchaus verständlich ist. Während des Lehramtstudiums werden kaum Kompetenzen in dieser Richtung vermittelt. Die Tatsache, dass wir in den Mittelschulen in der Stadt wenig autochthone Schüler:innen haben, wird schlichtweg unter den Tisch gekehrt.

Ich hole mir Rat bei dem Bekannten, der mir so viel Positives über den Fastenmonat vermittelt hat.

„Soll ich den Kinobesuch verschieben? Immerhin betrifft das doch einige Schüler:innen?“

„Was wollen du und deine Kollegin mit dem Kinobesuch bezwecken?“

„Sie sollen Spaß im Kino haben. Keine pädagogischen Hintergedanken, ausnahmsweise.“

„Hmm? Ins Kino gehen ist für die Kinder viel mehr als nur rein ins Kino, Film schauen, und dann wieder rausgehen. Kino ist auch Nachos mit scharfer Sauce essen. Kino ist, Hey Bruder koste mal die gelbe Sauce. Kino ist, wenn es Freude machen soll, ein Gesamtpacket. Also, würde ich es verschieben.“

Dos und Don’ts während des Ramadans

Auf der Plattform Instagram habe ich einen wunderbaren Podcast entdeckt, der ganz unaufgeregt die Dos und Don’ts während des Ramadans vermittelt. An oberster Stelle steht, der sensible Umgang mit der Materie. Niemand ist gezwungen alles zu verstehen. Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Zugänge zum Thema Religion. Aber es kann hilfreich sein, sich damit auseinanderzusetzen. Im Mittelpunkt sollten immer die Kinder und Jugendlichen stehen, mit denen wir sehr viel Zeit verbringen.

Es könnte alles so einfach sein

Die Sache mit dem Kino habe ich mit meiner Kollegin thematisiert. Wir haben die Schüler:innen gefragt, ob wir den Termin verschieben sollen. Nein, wäre nicht notwendig, haben sie uns nahezu einstimmig erklärt. Manchen würden für einen Tag das Fasten brechen, andere würden dann eben nichts essen. Wichtig war uns in diesem Zusammenhang, die Schüler:innen wahrzunehmen und anzuhören.

Ähnlich könnte es theoretisch im Sportunterricht ablaufen. Es geht um 30 Tage, nicht um ein Schuljahr. Muss es tatsächlich sein, dass in genau dieser Zeit der härteste Sportunterricht ever gemacht wird? Nein! Wenn Schüler:innen merken, dass ihnen die Energien ausgehen, dann können sie Pause machen. Alle dürfen das ohne Ausnahme.

Wir könnten auch die Notwendigkeit einer Schularbeit oder eines großen Tests überdenken.

Wir könnten neben Weihnachts- und Osterwünschen, Ramadanwünsche auf die Homepage der Schule stellen. Oder im Schaukasten ein schönes Plakat passend zum Ramadan hängen.

Es könnte alles so einfach sein!

In diesem Sinne Ramadan Kareem

Maria Lodjn, MS Staudingergasse Wien

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Stellen wir uns das Schulsystem mal als einen riesigen Ozeandampfer vor. Kein Kreuzfahrtschiff, nein, keine Disko, kein Pool, keine Klaviermusik. Eher so ein Teil, das kürzlich im Suezkanal steckte. Riesig, zu wenig Personal, teilweise unmanövrierfähig. 

Stellen wir uns vor, das Ding bricht gerade auseinander. Die wenigen Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und Psychagog:innen, die noch nicht im Corona-Hafen festsitzen, paddeln mit kleinen hölzernen Booten und den viel zu wenigen Rettungswesten herum.

Der Steuermann hält sich krampfhaft am Lenkrad fest, hat jedoch jedweden Funkkontakt zur Besatzung verloren. Noch hat er nicht gemerkt, dass die Kommunikation schon längst abgebrochen ist. 

Die Kapitänin liegt aufgrund eines unglücklichen Zwischenfalls auf der Krankenstation im dritten Unterdeck und hält sich mit Rum über Wasser. 

Da wäre noch der Stellvertreter der Kapitänin. Dieser brüllt mit Hilfe eines Megaphons Befehle in den Wind, die selbiger gnadenlos verschluckt. Kurze Windstille. Endlich kann die Mannschaft seine Befehle verstehen. Doch wenn die Wellen fast über den Köpfen der Kolleg:innen zusammenschlagen, ist das Tragen von Hausschuhen eher Nebensache. 

Einige Kolleg:innen haben sich mit flotten Kayaks ausgestattet und behindern die Rettungsmanöver. Als wäre das nicht schon genug, erzeugen sie weitere Hindernisse und Zusammenstöße. Auf diese Weise kann keine Ruhe einkehren. Besonders weil man schon von hinten das bedrohliche Rauschen der sechsten Coronawelle hören kann. Dabei muss doch noch die jetzige Welle bewältigt werden, zumindest irgendwie. Das Treibholz und die Container mit schlechten Nachrichten aus der Ukraine, unbewältigten Traumata und bösen Vorahnungen trudeln als ständige Bedrohung um das Schiff.

Von vorne weht der Wind der Teuerungen und Inflation, der unsere Schüler:innen zu neuen Ufern schickt, neue Unterkünfte müssen gesucht werden, unbezahlbare Rechnungen wehen hoffnungslos an gebrochenen Masten. Sechs Euro für einen Kinobesuch an Land werden für viele Eltern zur Herausforderung. Dann bleibt das Kind lieber am sinkenden Schiff oder darf nicht mitkommen.

Der strahlende Ramadan bedarf Aufmerksamkeit und Achtsamkeit im positiven Sinn. Wird aber von vielen Kolleg:innen in den Kayaks als zusätzlicher Ballast wahrgenommen und konterkariert. Die von engagierten Kolleg:innen in zahlreichen Unterrichtsstunden ausgehändigten Rettungswesten, die kaum ein:e Schüler:in ablehnt, werden auf diese Art zu löchrigen nahezu unbrauchbaren Hilfsmitteln. So kann sich niemand über Wasser halten. Den Kanuten ist das egal. Alle könne man nicht vor dem Untergang retten. Dann müssten eben die nicht-angepassten Schüler:innen das Boot verlassen. Wenn sie Glück haben, werden sie in der Nähe des Ufers ausgesetzt. Ansonsten müssen sie  eben schauen, wie sie mit den löchrigen Rettungswesten in den nächsten Hafen schwimmen können.

Das Boot steckt fest, endgültig. Das Treibholz, die Container und die Kayaks haben es zum Stillstand gebracht. Nur ein kleiner Teil der Mannschaft will die Weiterfahrt um jeden Preis. Es könnte ja sein, dass im nächsten Hafen alles besser wird. Es sind jene, die verstanden haben, dass Jammern wenig Sinn macht. Sie kleben die Rettungswesten, reden den Systemsprenger:innen gut zu und versuchen die Kanuten irgendwie wieder an Bord zu holen. Wo ist die versprochenen Verstärkung, die am Hauptschiff mitanpackt? Dann hätten die, die schon seit Wochen durcharbeiten wieder ein bisschen Luft und eine kleine Pause. Alle werden nie in einem Boot sitzen. Wenn nur der Steuermann das Loch in der Funkverbindung findet und zuhören kann, welche Sorgen und Ängste seine Mannschaft haben. Wenn nur die Kolleg:innen den Coronahafen verlassen könnten.

An den Ufern sitzen staunenden Zuschauer und kommentieren fleißig das Geschehen im Standard-Forum. Alle wissen alles besser und die faulen Lehrer:innen, die da draußen um nackte Überleben paddeln, werden beschimpft, geschasst und milde belächelt, denn die wenigen Stunden die die da rumpaddeln, das hätten wir ja mit links geschafft. Hört’s auf zum Jammern. Ihr habt’s ja eh bald Ferien. 

Ferien ? Ja. Wo? Wo ist die Insel, die winzig kleine Osterinsel, die schon irgendwo aus den Weiten des Ozeans aufragt? Ein Moment der Entspannung – wenn keine Schularbeiten zu korrigieren sind – ein Moment zum Durchschnaufen, wenn es nicht bei einem Schüler wieder brennt, weil die Freundin schwanger ist oder bei einer Schülerin, weil die Mama mit ihren Depressionen nicht mehr aufstehen kann und sie sich um die kleinen Geschwister kümmern muss und sich deswegen nicht mehr um sich selber kümmern kann – oder ein Moment des Loslassen, wenn nicht neue Schüler:innen aus der Ukraine kommen, die dringend Mika-D getestet werden müssen und die Kapazitäten der Deutschförderklasse ausgeweitet werden müssen. 

Naja, wir werden sehen. Sollen wir je dort ankommen. 

P.S. Eigentlich hätte an dieser Stelle ein schöner Text stehen sollen, ein Text darüber, wie schön, wie rewarding, wie vielseitig der Lehrberuf ist. Ein Text, der es vermag, die wirklich guten und engagierten Menschen für diesen Beruf zu begeistern. 

Aber wir haben es nicht geschafft. Es hätte in dieser Zeit einfach nur höhnisch gewirkt…

Die Autorinnen sind Lehrerinnen an einer Wiener Mittelschule

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Mit Schüler:innen über den Krieg reden

Es ist Krieg, 600km von Wien entfernt. Wir haben Redaktionssitzung. Ratlosigkeit ist uns ins Gesicht geschrieben.

Zwei Jahre lang haben wir mit unseren Schüler:innen versucht die Pandemie zu thematisieren. Wir haben Kinder und Jugendliche erlebt, die nichts lieber wollten, als endlich wieder in der Schule sein zu können. Keine Coronatests, keine Masken, kein Distancelearning und keine Quarantäne. Die Pandemie ist noch lange nicht vorbei, aber wir haben uns damit arrangiert. Nichts wird so sein wie früher. Die Pandemie hat uns alle verändert. Unsere Sehnsucht nach Ruhe ist groß.

Und jetzt herrscht dieser verdammte, so unnötige Krieg. Wie spricht man mit Kindern und Jugendlichen über den Krieg? Wie geht man dieses Thema an, im Bewusstsein, dass es in vielen Klassen Schüler:innen gibt, die im Unterschied zu uns wissen, wie Krieg sich anfühlt? Drei Lehrer:innen haben uns ihre Erfahrungen und ihre Zugänge zu diesem heiklem Thema aufgeschrieben.

  • Wie beeinflusst das Thema Ukraine derzeit deinen Unterricht?

Lorena*

Meine Schüler*innen hängen fast ständig in den sozialen Medien, vor allem auf TikTok ab, und werden somit täglich mit Bildern aus dem Kriegsgebiet konfrontiert. Das löst Sorgen und Ängste aus, die wir in den Unterrichtsstunden thematisieren. Auch Begriffe wie „Atomkrieg“ oder „Dritter Weltkrieg“ kommen häufig auf.

Lotta*

Ich stelle mir folgende Frage ganz oft: Ist der Stoff, den ich gerade unterrichten sollte, wirklich wichtiger, als das Ukraine-Thema zu besprechen? Ich komme mir etwas albern vor, eine Stunde über Musicals zu machen, wenn wir eigentlich viel wichtigere Fragen diskutieren könnten. Dazu kommt, dass es auch mir schwerfällt mich auf das Unterrichten zu konzentrieren. Die aktuellen Nachrichten lese und höre ich schon beim Frühstück. Es lässt mich nicht kalt, Emotionen kochen hoch. Dann stehe ich in der Klasse und muss meine Schüler:innen durch den Tag führen, schließlich bin ich Lehrerin und damit so etwas wie eine Autoritätsperson. In den nächsten Tagen soll ein aus der Ukraine geflüchtetes Mädchen zu uns in die zweite Klasse kommen. Die Schüler:innen habe ich darauf vorbereitet. Jetzt hoffe ich auf die Empathie meiner Schüler:innen, und auch auf ihr Fingerspitzengefühl. Ich bin mir sicher, dass das Mädchen nicht die Einzige sein wird, die zu uns an die Schule kommen wird. Es werden mehr werden. Da bin ich mir sicher. 

Tuba*

Der Ukraine-Krieg ist allgegenwärtig. An dem Tag, als wir erfahren haben, dass Krieg in Europa herrscht, waren die Schüler:innen wie gelähmt. In jedem Unterrichtsfach, sogar in den Pausen, sind die Schüler:innen zu uns gekommen und haben gefragt, was das für sie bedeuten würde. Viele Eltern meiner Schüler:innen und einige Kinder haben Kriege miterlebt. Durch die Bilder, die auf Social Media gleich zu Beginn kursiert sind, waren sie sehr verunsichert. Eine Schülerin hat mich gefragt, ob sie jetzt wieder flüchten müsse. Ein TikTok-Video, in dem behauptet wird, Putin würde den 10.Bezirk angreifen, geht viral. 

Die Stimmung bei den Schüler:innen und bei den Lehrer:innen war in den ersten Tagen sehr bedrückt und wir haben viel darüber gesprochen. Da uns immer wieder aufgefallen ist, dass einige Schüler:innen den Krieg verherrlichen bzw. behaupten, dass dies gar kein Krieg wäre, haben wir bemerkt, dass wir unbedingt zum Thema Fake News Unterrichtseinheiten gestalten müssen. Das Projektthema stand schon seit September fest, jedoch haben wir den Projekttag auf eine Projektwoche ausgedehnt, um uns ausgiebig mit dem Thema Fake News zu beschäftigen und den Schüler:innen Werkzeuge mitgeben zu können, die sie beim „Entlarven“  dieser unterstützen.

  • Wie behandelst du den Krieg mit deinen Schüler:innen?

Lorena

Ich versuche einerseits ihre Ängste und Sorgen wahrzunehmen, allerdings auch möglichst sachlich zu argumentieren, um sie nicht unnötig zu beunruhigen.

Leider gibt es eine Klasse, bei der diese Diskussion besonders schwierig ist. Es gibt zwei Schüler, die Putin und seine Taten verherrlichen. Da fällt es mir besonders schwer, sachlich zu bleiben. In diesem Fall biete ich den Schüler*innen Quellen an, wo sie sich – meiner Meinung nach – möglichst objektiv informieren können.

Lotta

Man geht eine Gratwanderung. Ich möchte den Kinder die Ernsthaftigkeit der Lage näherbringen. Auch damit sie verstehen, warum die Frage zu wem man hält, völlig unpassend ist. Ich rede mit ihnen sehr ehrlich über fast alles, möchte ihnen aber keine Angst machen. Pressevideos von Explosionen und anderen Horrorszenarien zeige ich den Schüler:innen bewusst nicht. Mit Hilfe von Landkarten versuche ich die Situation zu verbildlichen. Wo ist die Ukraine? Wie groß ist sie? Wenn Schüler:innen mir Fragen stellen, dann antworte ich ehrlich und so informiert wie möglich. Aber auch ich habe Fragen an die Kinder. In den ersten paar Tagen des Krieges hat dieser Austausch die gesamte Unterrichtsstunde in Anspruch genommen. Mir war es großes Anliegen, dass die Schüler:innen auch über die geschichtlichen und geografischen Hintergründe viel Information bekommen. Und wir haben über Österreichs Position gesprochen. Was die Neutralität in diesem Zusammenhang bedeutet und wie es mit den militärischen Kapazitäten aussieht.

Tuba

In der Projektwoche ging es um grafische Manipulationen, das Analysieren von Quellen und Kontext und um statistische Kennwerte und journalistisches Arbeiten. Wir haben einige Videos, die wir vorbereitet hatten, analysiert. Die Schüler:innen konnten in dieser Woche auch Videos, die sie in ihren Social Media-Kanälen gesehen haben, mit der Klasse teilen und wir haben sie gemeinsam aufgearbeitet. Gleichzeitig haben wir versucht, glaubwürdige Berichte zu lesen und haben mit den Schüler:innen darüber diskutiert.

Das Thema ist für alle sehr belastend. Als Lehrer versuche ich, das Thema zu behandeln, aber nicht den kompletten Unterricht und jede Pause damit zu verbringen.

Bei einigen Schüler:innen hatte ich das Gefühl, dass diese re-traumatisiert wurden. Panikattacken häufen sich wieder. Wir bemühen uns dennoch um ein großes Maß an Offenheit, wollen aber trotzdem auch Raum und Zeit für andere Themen schaffen, die den Schüler:innen ein Anliegen sind.

Sebastian hat uns außerdem eine Begebenheit aus seiner Klasse geschildert. Eine, die uns allen verdeutlicht, wie komplex die gesamte Situation ist: 

Eine ukrainische Schülerin ist zu uns in die Schule gekommen. An dem Tag, als sie ankam, war meine Klasse ganz aufgeregt. In der großen Pause sind sie zu ihr gestürmt und haben sie ausgefragt: „Wie alt bist du? Wo hast du gewohnt? Wie geht es dir? Wie geht es deiner Familie? Erzähl uns, wie ist es bei dir zuhause?“ Ich habe das Verhalten mitbekommen und meine Schüler:innen sofort gebeten in die Klasse zu kommen. Dort angekommen, habe ich lang und breit erklärt, warum man das nicht tun sollte. Dass ich es großartig fände, dass sie so viel Interesse zeigen, aber dass dieses Verhalten auch bei dem Mädchen etwas auslösen könnte und vielleicht möchte sie das gar nicht. Als ich dann gefragt habe, ob sie das nachvollziehen können und wie sie sich fühlen, antwortete einer meiner Schüler, der selbst geflüchtet ist: „Ich habe das gemacht, weil ich mir damals gewünscht hätte, dass andere Kinder zu mir kommen und mich ausfragen. Ich wollte ihr zeigen, dass wir da sind und dass wir uns interessieren für sie. Bei mir hat das damals niemand gemacht und das fand ich blöd.“

*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

Sammelbeitrag mit Aussagen von Wiener MS Lehrer:innen

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Inge Eidsvåg  begann einen mitreißenden Vortrag während eines Seminars in Norwegen mit einer Frage und der simplen Antwort: 

„Was ist ein:e gute:r Lehrer:in? Das ist kurz gesagt sehr einfach: Ein:e gute:r Lehrer:in liebt Kinder und sein:ihr Fach.“

Ich würde sagen:

„Ein:e gute:r Mittelschullehrer:in liebt Kinder und sein:ihr Fach.

„Ein:e gute:r AHS Lehrer:in liebt ihr:sein Fach und Kinder.“

Ich selbst wollte schon als kleines Kind Lehrerin werden und habe nach der Matura für das Lehramt an der Uni studiert. Die Fächer, die ich unterrichten wollte bzw. auch jahrelang unterrichtet habe, waren für mich zweitrangig. Ich wollte junge Menschen „unterrichten“, sie am Weg ins Erwachsenwerden begleiten. Die Fächer waren für mich eher „Mittel zum Zweck“.

Während ich viele Jahre später für den Stadtschulrat (heute Bildungsdirektion Wien) und das Bildungsministerium unterschiedlichste Projekte betreute und leitete, hatte ich die Möglichkeit, unzählige Schulen, und ab und an auch den Unterrichtsstunden, von der Volksschule bis zu BHS zu besuchen. 

Damals wurde mir klar: Ich hätte Mittelschullehrerin werden sollen, denn dort wird anders unterrichtet und Lehrer:innen haben auch die Möglichkeit dazu.  

Was will ich damit sagen: 

Im Gymnasium ist man als Lehrer:in extrem gefordert, um die Schüler:innen der Oberstufe zu Matura zu bringen. Umfangreiches Fachwissen, das man ständig aktualisieren und sich aneignen muss, lässt oft wenig Zeit sich mit pädagogischen bzw. didaktischen Themen auseinander zu setzen. Schüler:innen die z.T. noch voll in der Pubertät stecken zum Lernen zu motivieren, ist nicht immer einfach; nicht unbedingt leichter als bei den „Kleinen“ der Unterstufe, aber anders.    

Für die „Kleinen“ bleibt dann meistens wenig Zeit und Energie übrig. Das muss nebenbei funktionieren. Und der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung mit den Schüler:innen ist, vor allem wenn man nur ein Zwei-Stunden Fach hat und nicht Klassenvorstand ist, schwer. 

In der Mittelschule kann man sich als Lehrer:in voll und ganz auf die 10-14-Jährigen konzentrieren. Die Pädagogik steht im Vordergrund. Also das eigentliche „Lehrer:in-sein“, Kinder und junge Menschen auf den Weg ins Erwachsenwerden zu begleiten, ihre Stärken erkennen, ihr Selbstvertrauen stärken. Der Schwerpunkt liegt nicht am Vermitteln von Lehrinhalten. 

In der Mittelschule kann man meines Erachtens „Mit Leib und Seele Lehrer:in sein“.  

  • Man unterrichtet mehrere Fächer. Manchmal auch solche, die man nicht studiert hat, was nicht unbedingt ein Nachteil ist, weil man als „Lernende:r“ ein großartiges Vorbild für die Schüler:innen ist. Man verbringt also mehr Zeit mit den Schülerinnen und Schülern, das bedeutet 
  • man lernt sie und ihre besonderen Stärken (jedes Kind hat solche!) besser kennen, 
  • man kann leichter Beziehung zu ihnen aufbauen, was grundlegend für ein positives Arbeitsklima ist, 
  • man kann mit der Zeit gut jonglieren, daher manchmal auch Stunden – die man sowieso selbst in der Klasse unterrichtet – umtauschen und kann deshalb
    • geduldiger und einfühlsamer auf die einzelnen Schüler:innen und deren Bedürfnisse eingehen, kann ihr Selbstwertgefühl stärken, 
    • größere – auch fachübergreifende – Projekte durchführen
    • didaktische „Ideen“ und Methoden ausprobieren, um mit „schwierigen“ oder besonders begabten Schüler:innen besser zurecht zu kommen,  
    • die sprachliche und kulturelle Vielfalt in unseren Mittelschulklassen als Bereicherung für alle Schüler:innen bzw. alle Lehrer:innen erkennen und pflegen.
  • Sehr oft sind Mittelschulen geräumige, große, manchmal auch moderne Gebäude, in denen die Schüler:innen nicht zusammengedrängt in den Klassen sitzen, was bei AHS öfter der Fall ist. Die Klassenschüler:innenzahl ist meistens wesentlich geringer als an den AHS. 
  • Der Lehrkörper ist (meistens wesentlich) kleiner, man lernt also Kolleg:inn:en schneller kennen und auch der Austausch untereinander ist einfacher.
  • Die Fortbildungsangebote für die Sekundarstufe 1 sind – nicht nur in Wien – sehr vielfältig  
  • und oft sind Mittelschulen technologisch besser ausgestattet als AHS (Mittelschulen sind Landesschulen, es kommt also aufs Bundesland an).

Drei kleine, meines Erachtens typische, Mittel- „Schulgschichtln“ möchte ich hier noch beschreiben, wie ich sie während meiner zahllosen Schulbesuche erlebt habe. 

Schule 1: 

Ich betrete das schon etwas ältere Schulgebäude, ich habe einen Termin beim Direktor. Es ist gerade Pause. 

Schüler:innen bewegen sich mehr oder weniger ungestüm durch die Gänge, die Stiegen auf- und abwärts. Den meisten Kinder sehe bzw. „höre“ ich an, dass ihre Familien nicht aus Österreich stammen. Die Gesichter der Kinder sind heiter, jedes(!)  grüßt mich höflich und freundlich, obwohl sie mich nicht kennen. Und auf die Frage, wo denn die Direktion sei, findet sich gleich ein kleines Grüppchen, das mich zum Direktor begleitet.
Ich mache dem Direktor gleich ein Kompliment zu seinen höflichen Schüler:inne:n. 

„Ja, das ist das Erste, das wir ihnen beibringen: ein Lächeln, in die Augen schauen, jeden, der ins Schulhaus kommt, bzw. auch jeden Lehrer und jede Lehrerin, höflich grüßen. 

Sie werden wahrgenommen, auch gegrüßt und angelächelt. Das steigert ihr Selbstwertgefühl. So fühlen sich alle hier wohl und auch wenn die Schüler:innen die Schule verlassen, nehmen sie dieses Benehmen – hoffentlich – mit.“

Die Lehrer:innen gehen übrigens mit gutem Vorbild voran, sind freundlich zu den Schüler:innen, respektvoll, hören ihnen zu. Im überfüllten Konferenzzimmer wird viel gelacht und gescherzt. 

Eine großartige Atmosphäre in einer Schule, in der 95% (die Lehrer:innen sagen 110 % ;-) ) der Kinder mit anderen Erstsprachen und kulturellen Hintergründen in den Klassen sitzen.

Es gibt hier viele Probleme zu meistern, das ist klar.  Aber mit einem Lächeln im Gesicht…

Schule 2:

Ich klopfe an der Klassentüre, ich werde erwartet. Ich öffne die Türe. Vor mir steht ein großer, knurrender Schäferhund. Die lächelnde Lehrerin bedeutet dem Hund, dass ich  eintreten darf.
Der Hund legt sich vor dem Katheder nieder, hat alle Schüler:innen im Blick.
Kaum wird es unruhig in der Klasse, hebt er seinen Kopf, knurrt, blickt in die Runde. Alle Kinder sind wieder leise.
Sie lieben ihren Schulhund. Lupo*gehört einer Lehrerin, die ihn zu einem Schulhund ausbilden ließ. Besonders unruhige, unsichere, traumatisierte Kinder und solche mit Einschränkungen finden bei dem Tier Ruhe und Liebe. 

Schule 3:

Chemiestunde. Der Chemielehrer zeigt Versuche, beschreibt was geschieht und bittet nun einen Schüler, noch einmal seinen Mitschüler:innen mit eigenen Worten zu erklären, worum es geht und was er gezeigt hat.

Goran* bemüht sich und erklärt in kurzen, unvollständigen Sätzen, was er verstanden hat. Der Lehrer bittet einen anderen Mitschüler, Goran zu unterstützen ganze zusammenhängende Sätze zu formulieren. 

Noch hat der Lehrer nicht das Gefühl, dass alle Schüler:innen verstanden haben, worum es ging. 

Er bittet eine Schülerin: „Ebru*, wenn du daheim der Mama erklären würdest, was wir da gemacht haben, was würdest du ihr erzählen? Das kann gern auf türkisch sein.“

Ebru versucht es auf türkisch, ihr fehlen aber Fachbegriffe. Mitschüler:innen unterstützen sie. 

Dann noch einmal alles auf Deutsch.

Dass in dieser Klasse auch mehrsprachige Plakate aus dem Biologieunterricht hängen, beeindruckt mich.

Ich bewundere den Lehrer, wie viel Zeit er sich nimmt, bzw. den Schüler:innen gibt. Alles in Ruhe, kein Stress. Er ist erst zufrieden, wenn alle Kinder den Stoff dieser Stunde verstanden haben. Dazu opfert er auch die anschließende Mathematikstunde. Er unterrichtet in der Klasse auch Mathematik und Physik und… Jedenfalls kann er mit den Stunden jonglieren und er erklärt mir: „Wenn die Schüler:innen verstehen, worum es geht, bauen sie ein gutes Fundament auf, dass später viel Zeit erspart.“ Und augenzwinkernd: „Ich bin außerdem auch Sprachlehrer – wie wir alle.“

Ich könnte hier noch viele Schulen, Stunden, Lehrer:innen und Schüler:innen beschreiben, die mich immer wieder beeindruckt und überrascht haben. 

Natürlich darf ich euch nicht vorenthalten, dass ich auch schockierende Situationen erlebt habe. Aber das ist ein anderes Thema. Nur so viel: Rechtzeitig die Schule wechseln und eigene Ideale nicht verkümmern lassen!

Schon vor 50 Jahren hat Don Milani über die Schulen in Italien gesagt:

Die Schule ist wie ein Krankenhaus, das die Gesunden heilt und Kranken hinauswirft.

Oft habe ich das Gefühl, dass es bei uns nicht viel anders ist. Wir Lehrer:innen können das ändern!

Zum Schluss möchte ich noch allen, die Lehrer:insein als Berufung sehen, folgendes Buch (kein belehrendes Sachbuch, als erfrischende Ferienlektüre unbedingt geeignet) ans Herz legen: 

 „Schulkummer“ von Daniel Pennac,   (frz, Chagrin d’école (2007)

Und: in meinem nächsten Leben werde ich Mittelschullehrerin, oder vielleicht Volksschullehrerin? 

Erika Hummer, ehemalige AHS Lehrerin, Mitarbeiterin der Bildungsdirektion und Mitbegründerin von VoXmi

 1 Inge Eidsvåg ist ehem. Direktor der „Nansen Academy – the Norwegian Humanistic Academy” – https://nansenskolen.no  

2 https://iicamburgo.esteri.it/iic_amburgo/de/gli_eventi/calendario/2013/05/don-milani-come-la-scuola-cambia-il-mondo-una-lezione-per-l-europa.html

3 https://de.wikipedia.org/wiki/Daniel_Pennac

*Namen geändert