Lisa Simpson in der NMS
Jasleen* erinnert mich stark an die Figur von Lisa von den Simpsons. Sie hat genau wie ihr Fernsehvergleich einen Bruder, der durch Streiche in der Schule auffällt. Sie interessiert sich genau wie ihr Fernsehdoppel für Kunst, Politik und andere gesellschaftliche Themen, spielt ein Instrument und ist eine überzeugte Vegetarierin.
Jeder kennt die Simpsons, die gelben, sympathischen Zeichentrickfiguren. In der einen oder anderen Folge sieht man eine Zukunftsaussicht: Lisa ist eine starke Politikerin oder eine innovative Wissenschaftlerin. Doch wie würde die Zukunft von Lisa ausschauen, wenn sie das österreichische Schulsystem durchlaufen würde? In Österreich bestimmt leider immer noch der Bildungsstand und das Einkommen der Eltern die Bildungschance des Kindes:
Der Vater ohne, die Mutter mit mittlerer Reife, in einer Kleinstadt lebend; in dieser Konstellation hätte Lisa auch nach bereits absolvierter Matura nur eine Chance von 6-8% einen Universitätsabschluss zu erreichen
(Ingolf Erler, Keine Chance für Lisa Simpson, S.10).
Ist das die Zukunft von Jasleen, obwohl sie sich durch akademischen Eifer und Gewissenhaftigkeit auszeichnet?
Letztens besuchte mich eine Gruppe ehemaliger Schüler*innen, und man merkte mir meine Nervosität sichtlich an: Sind sie überall positiv? Haben Sie Ressourcen, wenn sie Unterstützung brauchen? Nicht selten trudelt bei mir über soziale Medien die eine oder andere Frage von ehemaligen Schüler*innen ein, wenn sie eine Thematik oder einen Sachverhalt nicht verstehen.
In der dritten und vierten Klasse gingen wir Arbeitslosenstatistiken durch und besprachen ausführlichst Bildungs- und Zukunftschancen. Ich versuchte dabei viele für eine weiterführende Schule zu motivieren, viele Schüler*innen trauten sich das anfänglich auch nicht zu. Die Realität und die Bildungslücke durch den Besuch einer NMS war sichtlich überraschend und erschreckend. Mir war es lieber, sie wissen, was sie erwartet.
Auch wenn die Realität harsch ist, sollen sie die Möglichkeit haben ihre eigene Zukunft selbstwirksam zu gestalten.
Ich bin erleichtert, dass es ihnen im Großen und Ganzen gut geht und die Noten auch passen. Ein Mädchen erzählt mir, dass es sich im Gymnasium in der Oberstufe vorkommt wie eine Außerirdische. Tja, als Bildungsaufsteigerin hat man es nicht leicht. Isoliert, alleine gelassen aber dennoch voller Kampfgeist und mit dem Ziel, die Matura zu schaffen. Aus der einst harschen Realität und Statistik kommt etwas viel Schöneres hervor: Hoffnung und Selbstwirksamkeit. Ich hoffe stark, dass ihre Chancen im österreichischen Bildungssystem höher sind als die einer Fernsehfigur.
„Wieso schreiben wir so viele Texte in Englisch?“, beschwert sich ein Schüler. „Für deine Zukunft“, fällt meine kurze aber prägnante Antwort aus. Fragende Gesichter in der Klasse. Normalerweise komme ich mit anderen Argumenten, um sie für die englische Sprache zu begeistern. Vom Verstehen von Youtube Videos über das Verständnis von Liedern und Lyrics bis zum Urlaub ist hier alles dabei.
Fragende Gesichter, das Thema Bildungsgerechtigkeit haben wir bisher noch nie angesprochen und es wird Zeit, das so früh wie möglich zu behandeln. “Wer von euch wollte aufs Gymnasium?” – Ca. 50 Prozent der Kinder zeigen auf, die Gründe für die Ablehnung waren vielfältig. Mal war es ein Dreier im Zeugnis, mal war angeblich kein Platz mehr, obwohl das Zeugnis nur aus Einsern und Zweiern bestand. Die meisten wollen nachher auf eine weiterführende Schule. „Ihr werdet, wenn ihr auf eine weiterführende Schule wollt, doppelt so hart schwimmen müssen.“ Ich frage zaghaft, ob sie wissen, was der Unterschied zwischen einem Gymnasium und einer NMS ist. Attribute wie „besser“ und „schwerer“ werden genannt. “Wer von euren Eltern hat studiert?”– Genau zwei Hände von Kindern mit Fluchthintergrund gehen hoch. Kinder jener Eltern, die selbst maturiert und vielleicht auch studiert haben, werden bei der Schulwahl oftmals bevorzugt. Es liegt eben nicht nur an den Noten. Nach einer Diskussion über den Stellenwert von Bildung in der Familie und die gesellschaftliche Bewertung platzt es dann aus einem Schüler heraus: „Das ist ja total unfair!“ Jasleen nickt ihm zustimmend zu. „Und genau deswegen schreibe ich mehr Texte mit euch und lege die Standards so hoch. Ich will, dass ihr die besten Chancen im Leben bekommt!“, antworte ich. Zustimmendes Nicken und Murmeln geht durch die Klasse. Ich weiß, es wird noch viele solcher Gespräche geben. Dass das Schreiben von Texten ein Sprungbrett für ein selbstbestimmteres Leben sein kann, macht auf den ersten Blick vielleicht nicht so viel Sinn, aber spätestens in vier Jahren wird es für die Schüler*innen Sinn ergeben.
„Tja, was lernt man da schon auf der NMS, die Kids können ja nichts, Texte schreiben schon gar nicht!“, hörte ich einmal von einer Kollegin aus einer weiterführenden Schule. Diese Realität von ihr kann und will ich nicht akzeptieren.
Bildungsgerechtigkeit ist für meine Schüler*innen nun kein abstrakter Begriff mehr. Er nimmt Form in ihren Köpfen an.
Jasleen kommt nach der Stunde zu mir. Sie hat sich jetzt überlegt, dass sie Jus studieren will. Ich nicke zuversichtlich. Und sie weiß, dass es schwer ist, aber sie will dann anderen Kindern dabei helfen, das zu erreichen. Da könnte sogar eine fiktive Fernsehfigur wie Lisa Simpson noch was von Jasleen lernen.
*Name von der Redaktion geändert.
Der Autor ist Lehrer an einer NMS in Wien.
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Mir gefällt diese Rhetorik überhaupt nicht. Natürlich finde ich auch, dass talentierte Jugendliche auf eine weiterführende Schule gehören. Aber einfach mal per se andere Bildungswege (z.B. Lehre) zu verunglimpfen ist wenig zielführend. Genau wie Hirschhausen das in seinem Pinguin-Prinzip beschreibt https://www.youtube.com/watch?v=Az7lJfNiSAs soll jeder seine passende Umgebung finden. Ich bin überzeugt, dass das nicht für jeden jungen Menschen die weiterführenden Schulen sind und lege großen Wert darauf, dass das nicht jedem eingetrichtert wird. Österreich hat nicht nur ein Problem der Chancengerechtigkeit sondern auch damit, dass gewisse Bildungswege von viel zu vielen Akteuren schlecht geredet werden!
Ein gut ausgewählter Lehrberuf (nach Interesse und Fähigkeiten, nicht nach Vitamin B oder sonstigen fadenscheinigen Argumenten) ist ein genau so guter Bildungsweg wie eine weiterführende Schule / Studium. Eine funktionierende Gesellschaft braucht alles und profitiert davon, wenn möglichst viele das tun, was ihnen entspricht und sie sich nach ihren Möglichkeiten entfalten können.