Ist das wirklich alles, Frau Wiesinger?

Lesezeit: 5 Minuten

Zoom Kindermuseum, Museumsquartier. Am 08.11.2018. Susanne Wiesinger, Heidi Schrodt und Kenan Güngör diskutieren über jene Schulen an denen es, ihrem Namen nach, brennt.
Dominiert wird die Debatte vom Kopftuch, dem Einfluss von Moscheen, der Scharia und Eltern, die Lehrer*innen nicht mehr die Hand geben. Es scheint, als gäbe es in der Bildungspolitik nichts Wichtigeres zu diskutieren als den Einfluss einer bestimmten Religion.
Gegen Ende fragt Kenan Güngör, wie viele Lehrer*innen denn da seien. 35 Personen zeigen auf. Wie viele, die an der NMS unterrichten? 20. Und wie viele, denen es passiert ist, dass Eltern das Händeschütteln verweigert haben? 2.

Ist der Islam nun das dringendste Problem oder gibt es Fragestellungen, bei denen alle 20 Lehrer*innen aufgezeigt hätten?

Dieser Artikel versucht ein anderes Bild der NMS zu zeichnen, als Frau Wiesingers Buch. Dazu verwendet der Autor Zitate aus dem Buch, die für ihn die Kernbotschaften darstellen.

“Die Mehrheit der muslimischen Kinder spielt stundenlang Playstation” (S. 30)

Die meisten Erstsemestrigen haben in einer Statistikvorlesung schon einmal das wohl berühmteste Beispiel für Scheinkorrelationen gehört: In jenen Gegenden, in denen es mehr Störche gibt, gibt es auch mehr Babys. Ist nun bewiesen, dass Störche Babys bringen? Natürlich nicht, denn sobald der Grad der Industrialisierung des Ortes mit eingerechnet wird, gibt es keinen Zusammenhang mehr zwischen der Anzahl an Störchen und der Anzahl an Babys. In industrialisierten Gebieten gibt es einfach weniger Störche und weniger Babys.
Der von Frau Wiesinger angesprochene Zusammenhang zwischen dem Islam und der Playstation ist ein weiteres Beispiel für eine Korrelation ohne Kausalität. Unsere Schüler*innen spielen nicht Playstation, weil sie Muslime sind und es spielen auch nicht nur muslimische Kinder stundenlang Playstation. Muslimisch sein ist nicht der Grund für stundenlanges Playstation spielen. Der erklärende Faktor ist in den meisten Fällen der sozioökonomische Hintergrund der Kinder. Wenn zu wenig Geld für die wöchentliche Reitstunde, den Theaterbesuch oder das Skifahren da ist, bleibt oftmals die Playstation als Alternative. Dieser Satz erzeugt ein gewisses Bild von muslimischen Schüler*innen in der NMS. Er steht stellvertretend für die vielen Passagen des Buches wo der Islam als Sündenbock für Fehlentwicklungen und Probleme herhalten muss, deren Ursachen meist ganz woanders liegen.

“Wieder einmal hat uns der Islam besiegt” (S. 96)

Mit jeder gelesenen Seite bekommt man immer mehr den Eindruck, die NMS sei ein Ort des Kampfes, wo alles „schrecklich“ und „entsetzlich“ ist. Schuld daran sind „die Muslime“, denn sie „machen die größten Probleme“. Da kämpfen Afghanen gegen Tschetschenen und Türken gegen Kurden und Türken gegen Roma. Überhaupt kämpfen alle in der NMS. Alle, außer wir. Wer auch immer wir ist. Aber wir, wir lassen uns vom Islam besiegen. Wir können als Lehrer*innen „gegen den wachsenden Einfluss des Islam kaum etwas unternehmen“, hätten als „Gesellschaft aufgegeben“ und würden uns der „muslimischen Kleiderpolizei“ beugen.
Die Quantität dieser muslimischen Kämpfe und Problemfälle einmal außen vor gelassen, halte ich die Verneinung der Selbstwirksamkeit als Lehrkraft für gefährlich und falsch. Wir reagieren in unserer Schule auf jeden Versuch die Freiheit anderer einzuschränken. Weder wird ständig gekämpft, noch haben wir aufgegeben an einer offenen Schule und Gesellschaft zu arbeiten. Wir, das sind in diesem Fall alle, die meinen, dass jedes Kind sich frei entfalten können muss.

Das sind auch und vor allem die muslimischen Roma Kinder, die österreichischen Kindern erklären, dass schwul kein Schimpfwort ist, das sind katholische Kinder, die nicht verstehen warum Muslime nicht frei haben am Tag ihres größten Festes und das ist das eine muslimische Mädchen, das dem anderen erklärt, dass es sehr wohl am Schwimmunterricht teilnehmen muss.

Es gibt Probleme mit Religionen. Manchmal eskalieren sie. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir „aufgegeben haben“, dass der „Islam uns besiegt hat“ oder dass ein ständiger Kampf der Kulturen stattfindet.

Schuld ist der Islam.

Ich möchte nicht bestreiten, dass die NMS viele Probleme hat. Probleme, die unlösbar scheinen und uns manchmal das Gefühl der Ohnmacht geben. Frau Wiesinger spricht viele Probleme der NMS auch an. Die fehlende Notenwahrheit, die fehlende Durchmischung an unseren Schulen, das teils absurd niedrige Deutschniveau, die überbordende Bürokratie, die fehlende Zusammenarbeit zwischen der Bildungsdirektion und den Lehrer*innen, Gewalt und überforderte Direktor*innen.
Im Buch wird der Islam fast durchwegs als Grundursache für alle diese Probleme genannt. Ich halte das für eine gefährliche Reduktion komplexer Herausforderungen. Meiner Erfahrung nach ist der Quell dieser Probleme vielschichtig und lässt sich nicht auf den Einfluss einer Religion reduzieren.
Darüber hinaus erhält man den Eindruck, islamisch fundamentalistische Schüler*innen und Moscheen seien nicht nur die Ursache aller anderen sondern auch quantitativ das größte Problem der NMS. Es ist daher jene Herausforderung, die die Politik und Gesellschaft am dringendsten angehen muss. Meiner Einschätzung nach wäre unseren Schulen weit mehr geholfen, würde die überbordende Bürokratie oder das Problem der inadäquat ausgestatteten Klassenzimmer angegangen werden. So gibt es meiner Einschätzung nach in ihrer Quantität und Dringlichkeit wichtigere Probleme, als den Islam.

“Lehrer in Brennpunktschule unterrichten kaum noch” (S. 23)

Neben einer NMS, in der es fast ausschließlich um „Kulturkämpfe“, Religion und die Probleme mit dem Islam geht, vermittelt das Buch noch den Anschein, die Kinder würden nichts mehr lernen, da „unterrichten kaum mehr möglich“ sei. Es kommt vor, dass aufgrund der fehlenden Deutschkenntnisse oder sozialer Konflikte und familiärer Probleme von Schüler*innen, die sofort mit der Klasse besprochen werden müssen, Unterricht nicht möglich ist. Aber auch hier stellt sich wieder die Frage, wie oft das wirklich der Fall ist. Wie oft halte ich eine Stunde, in der ich die Planung über den Haufen werfe und lieber diskutiere, warum Schlagen und Raufen keine Lösung für Konflikte ist? Natürlich beschäftigt einen das und natürlich ist das jene Stunde, über die ich am meisten erzähle. Nicht zu vergessen sind aber die anderen 20 Unterrichtsstunden, in denen “normaler” Unterricht stattfindet. Das Bild der NMS, in der fachlicher Unterricht kaum noch möglich sei, ist meiner Ansicht nach falsch.

Besonders schade ist es, da viele NMS in Wien innovativen, modernen Unterricht und Unterrichtskonzepte anbieten, bei dem sich so manche AHS einiges abschauen könnte.

“Alle, die noch gewisse Umgangsformen haben und nicht sofort zuschlagen, sind in jeder Brennpunktschule potenzielle Opfer.” (S. 38)

Es fällt schwer diesen Satz ernst zu nehmen, aber er zeichnet ein so gewaltbereites, naives und unwahres Bild meiner Schüler*innen, dass ich ihn ernst nehmen muss.
JEDES Kind in JEDER Brennpunktschule ist also ein potenzielles Opfer, wenn es nicht SOFORT zuschlägt. Ich bin also selbst dann ein Opfer, wenn ich mir vor dem Zuschlagen etwas Bedenkzeit nehme. Wirklich ernst nehmen kann man das ja nur, da jeder Mensch immer ein „potenzielles“ Opfer ist.
Anders als Frau Wiesinger habe ich die allermeisten meiner Kinder als interessiert, höflich, hilfsbereit, verständnisvoll, offen und liebenswert kennengelernt. Die Ansicht, dass jedes dieser Kinder ein potenzielles Opfer ist, nur weil es nicht zuschlägt, erlebe ich täglich anders.
Oftmals ist die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Kinder untereinander beispielgebend. Wenn einer keine Jause mit hat, weil das Geld fehlt, dann wird eben geteilt.

Wenn eine sich am Christkindlmarkt nichts kaufen kann, dann kauft eben eine andere ein paar Maroni mehr. Und wenn eine gemobbt wird, dann sind viele Kinder sofort auf der Seite der Gemobbten und solidarisieren sich gegen ungutes Verhalten.

Ebenso die Eltern. Wenn ein Fest ansteht, ist das selbstgemacht Burek meist nicht weit. Bei der Lesenacht und dem Schulfest wird mitgeholfen, wo es geht und wenn anderen Familien das Geld für den Skikurs fehlt, findet der Elternverein schon einen Weg.
Das alles ist nicht selbstverständlich. Aber die Herzlichkeit, das Gemeinschaftsgefühl und die Hilfsbereitschaft sind an vielen NMS beispielgebend.

Die wirklichen Probleme

An den allermeisten Tagen, in den allermeisten Fällen, ist die NMS meiner Ansicht nach ein Ort des Lernens, ein Ort der Begegnung, ein Ort wo es lustig ist und ein Ort für Kinder, die ihre Zukunft gestalten wollen. An unseren Schulen lernen Kinder verschiedener Kulturen, Sprachen, Religionen und sozialer Herkunft miteinander. Das bringt zeitweise natürlich Konflikte, Streit, Gewalt und auch Diffamierungen zwischen den Kindern mit sich.
Die Reaktion bei der Diskussion im Zoom Kindermuseum spiegelt meiner Meinung nach sehr gut wider, dass es diese Konflikte der Kulturen und Religionen zwar gibt, die Zeit, die im Buch und im öffentlichen Diskurs darüber diskutiert wird, aber in keinem Verhältnis dazu steht, wie oft diese im Schulalltag auftreten.
Vielleicht reden wir ja in Zukunft auch über Fragestellungen und Probleme bei denen nicht 2, sondern 20 von 20 Lehrer*innen aufzeigen. Wie zum Beispiel:

  • Wer hat schon mal in einem inadäquat ausgestatteten Klassenzimmer unterrichtet?
  • Wer muss in einem Lehrer*innenzimmer arbeiten, das eigentlich in keiner Weise dafür geeignet ist?
  • Wer verbringt mehr Zeit mit dem Ausfüllen von bürokratischen Listen, als mit Vorbereiten?
  • Wer hat Erfahrung mit einer überforderten Schulleitung?
  • Wer hat schon erlebt, dass mangelnde Kommunikation zwischen den Kolleg*innen den Unterricht negativ beeinflusst?
  • Wer hat sich schon einmal gedacht: Und dieses Studium sollte mich auf diesen Job vorbereiten?
  • Wer leidet unter einem System in dem ständig neue Sachen gewünscht sind, aber immer nur inkonsequent an kleinen Schrauben gedreht wird?

Der Autor ist Lehrer an einer NMS in Niederösterreich.

3 Kommentare
  1. Andrea Schreiber
    Andrea Schreiber sagte:

    Roma sind eher nicht muslimisch, auch haben muslimische SchülerInnen an den höchsten Feiertagen zumindest in Wien schulfrei ?. Aber ich stimme Ihnen in vielen Ansichten zu. LG

    Antworten
  2. Monika
    Monika sagte:

    In einigen Punkten kann ich Ihnen voll zustimmen, weil ich es auch so erlebt habe und Ihre Fragestellungen am Schluss kann ich zu 100% bejahen. Allerdings haben diese nichts mit den von der Autorin ausgeführten Problemen zu tun…. Ich habe auch anderes erlebt und mich in diesem Buch teilweise wiedergefunden, es kommt eben auf den Schulstandort an ….was sie schreibt ist nicht erfunden, es ist erlebte Realität an verschiedenen Schulen von vielen PädagogInnen … Es zeigt Gegebenheiten in Wien … Aber das Problem ist nicht der „böse“ Islam, die Religion an sich, sondern Integrationsunwilligkeit und die Entstehung von Paralellgesellschaften … Wien hat diesbezüglich 30 Jahre weggeschaut … insofern ist es auch nicht sinnvoll, Standorte in NÖ mit jenen in Wien zu vergleichen. Wünsche Ihnen viel Freude bei Ihrer engagierten Arbeit!

    Antworten
    • schulgschichtn
      schulgschichtn sagte:

      Liebe Monika,
      natürlich darf man NÖ Schulen nicht mit Wiener Schulen vergleichen. Und, es hat bzw. es gibt immer noch eine „Wegschau-Kultur“ von Seiten der Stadt Wien, die nicht förderlich ist.
      Frau Wiesinger beschreibt reale Probleme, die ihr der Autor auch nicht absprechen will.
      Worum es geht, ist die Gewichtung der Probleme, die Generalisierungen, die Verallgemeinerungen , der negative Grundton und die monokausale Ursachenforschung.
      Vielen Dank für deinen Kommentar:) Wir hoffen du bleibst weiterhin eine treue Leserin!
      MfG
      die Schulgschichtn Redaktion

      Antworten

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert