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„Ich habe Geschichte fertig geschrieben“

Lesezeit: 2 Minuten

Ich bin umgezogen. Nun packe ich Kisten aus, schlichte, verstaue, ordne mein Leben neu. Hier die Bücher, dort Büromaterialien, das gehört eigentlich in die Küche. Erschöpft sinke ich aufs Sofa und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Vor mir steht eine Kiste, ich sehe Stifte, Post-Its, Notizbücher und ein kleines Stück von etwas Blauem, Glänzendem. Ich ziehe daran und halte kurz darauf ein gerahmtes Foto in den Händen. Darauf ein Mädchen, etwa neun Jahre alt, es hält in beiden Händen fest ein buntes Blatt Papier und liest etwas vor. Daneben stehe ich, mit einer Mischung aus Stolz und Rührung in meinem Blick, und halte ihr ein Mikrofon hin. Alle sollen hören können, was sie sagt.

Ein paar Jahre sind vergangen seit meinem zweiten ersten Schultag. Am ersten Tag ist alles aufregend: Wie sind die Kinder? Werden sie mich mögen? Werden wir Spaß haben?

Im Deutschunterricht zeige ich ein Bild, auf dem ein kleines Männchen auf einem Eiscremeberg wandert, hinter ihm tut sich ein Gebirge aus Donuts und Torten auf. “Was könnte hier passiert sein?”, frage ich die Klasse. Wir sammeln Ideen und dann wird geschrieben. Ich will wissen, wo die Kids stehen, was sie schon können. 23 Kinder schreiben zwischen 4 Zeilen und zwei Seiten. Mein erster Stapel zu korrigierender Texte. Aufregend.

Am nächsten Morgen – ich fühle mich nun schon etwas sicherer in der Klasse – steht ein zierliches Mädchen mit großen dunkelbraunen Augen und leiser, aber überzeugter Stimme vor mir: “Ich heiße Alia, ich gestern krank. Was ich muss tun?” Schüchternheit liegt in ihrer Stimme und an ihrem Deutsch höre ich, dass sie seit maximal einem Jahr in Österreich ist. Ich gebe ihr das Bild des wandernden Männchens, ein Blatt Papier und erkläre ihr viel zu schnell die Aufgabe. “Nicht so wichtig, wenn sie es nicht macht”, denke ich, “das ist für sie viel zu schwierig.” Ich erfahre, dass Alia erst seit wenigen Wochen in Österreich ist und bin überwältigt von ihrer Ausdrucksweise, ihrer Offenheit und ihrem Humor. Auf dem Handy zeigt sie mir Fotos ihres zerbombten Hauses in Aleppo, lächelt kurz traurig und sieht mich an: “Ist nur Haus, hier ist sicher, das ist wichtigste“. Ich muss schlucken und habe Gänsehaut.

Am nächsten Morgen – ich denke bereits nicht mehr an die Aufgabe, die ich Alia gegeben habe – steht sie vor mir, tritt von einem Bein auf das andere und hält mir schließlich einen vorne und hinten beschrieben Zettel hin:

“Frau Lehrerin, ich habe Geschichte fertig geschrieben”.

Mir stockt kurz der Atem und schneller als ich etwas dagegen tun kann, spüre ich die Tränen in meinen Augen.

Ich nehme das Bild, auf dem Alia beim Abschlussfest die Geschichte vor allen Eltern und Schüler*innen vorliest und stelle es auf den Tisch. Jeden Tag will ich es sehen. Es soll mich daran erinnern, dass ich den großartigsten Job überhaupt mache und dass in allen Kindern eine kleine Alia steckt, die – auch wenn oft die Umstände dagegen zu sprechen scheinen – ihren Weg in der Welt machen werden.

Die Autorin ist Lehrerin an einer NMS in Wien.

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