Ein Schultag im Zeitraffer

Lesezeit: 3 Minuten

Manchmal ist Schule ätzend. Manchmal hat man als Lehrer*in das Gefühl, dass sich nichts bewegt. Für mich sind solche Nichts-geht-mehr-Tage zwar selten, weil ich meinen Beruf einfach mag, die Kinder einfach mag. Dennoch: viele Tage sind Plateau-Tage, nicht fabelhaft, aber auch nicht so, dass man sich am liebsten eine Burnout-Diagnose stellen lassen möchte.

Ein Schultag im Zeitraffer

Und manchmal fliegt man einfach. Zum Beispiel an Tagen wie diesen. 7. Schulstufe, NMS Stadtrand Wien.

1. Stunde: Wir lernen, wie man einen offiziösen Brief schreibt, und üben anhand eines (noch fiktiven) Schreibens an die Cateringfirma. Die Klasse will sich über die Qualität der Mittagsmenüs beschweren.

2. Stunde: Ich suppliere für eine Englisch-Musik-Kollegin. Wir lesen T. S. Eliots Gedicht „The Naming of Cats“ und schauen uns auf Youtube die Stelle aus dem Musical „Cats“ an. Außerdem ein paar andere Songs. Einer der Schüler kriegt sich gar nicht ein über die Hüftschwünge von RumTumTugger und einigen der weiblichen Katzen („Ist das überhaupt jugendfrei??“), deshalb zeige ich Elvis-Videos. „Aber das ist ja wie Michael Jackson!“ – ja, und der hat das von Elvis. Und weil RumTumTugger die Rockstarkatze ist, bewegt er sich wie ein Rockstar.

3. Stunde: Goethe, Faust, zweite Einheit. Wir lesen nur ein paar Zeilen des Originaltextes, aber dafür eine gute Zusammenfassung aus einem Jugendbuch über berühmte Theaterstücke. Als es ums Ende geht (Gretchen bringt ihr Kind um), schlagen wir einen riesigen Umweg ein und reden über legale und illegale Abtreibung, Abtreibung überhaupt. Sexualität. Sexualität ist etwas Gutes und Normales: mehrmals versuche ich, diese Botschaft anzubringen. – „Wenn ich einmal eine Frau heirate, dann wäre es besser, sie ist unberührt“, sagt einer. – Ich spanne daraufhin einen riesigen Bogen, kurz gesagt: vom Matriarchat zum Patriarchat. Angst davor, Frauen nicht alles anschaffen zu können usw. usf. Noch einmal: es ist normal, dass man jemandem ganz nahe sein will. Es ist normal, dass man mit jemandem kuscheln will. (Und dann haben wir noch über Kondome und Aids-Tests und Beziehungen geredet.) Und: „Stell dir vor, du bist, sagen wir, 29, und deine Ehe geht kaputt. Und du verliebst dich in eine andere Frau, die auch geschieden ist.“ – „Ja, dann verlieb’ ich mich eh!“, sagt er, der von der unberührten Frau geträumt hat, und erklärt: „Ich hätt’ halt gern, dass sie und ich was gemeinsam haben, nur für uns…“

4. Stunde: Assistenz in einer anderen dritten Klasse. Der wunderbare Kollege übt Argumentstrukturen und zeigt anhand verschiedener Slogans von Wahlplakaten, dass Behauptungen noch kein Argument sind, denn es fehlt die Begründung. Ein Argument hat zwei Beine: Behauptung und Begründung. Oder: Meinung und Antwort auf die Frage „Warum?“

5. Stunde: Geschichte. Ich rede ausführlich darüber, woher Schimpfwörter wie der Mutterfluch, H*re und Opfer kommen, im Vergleich das Schimpfwort „Idiot“ (griech., „der Eigene“ bzw. der Eigenbrötler). Wir reden darüber, dass man als Mensch sehr wohl Kontrolle darüber hat, was aus dem Mund herauskommt. – Dann weiter im Stoff, Entstehung von Barockkultur. Wie kann man sich als Mensch schützen, wenn man in harten Zeiten lebt? – Die Kinder überlegen: Sich umbringen. Bunker bauen. Sich wehren. Anderen helfen. … Tatsächlich sagt einer: Kultur.

13:50 Uhr: Die Glocke läutet, ich begleite die Kinder in die Garderobe, wir verabschieden uns voneinander.

Mein Leben ist schön.

„Holy shit!“

P.S.: Drei Monate später: Das war ein Sternentag – es gibt genauso (und noch viel mehr) Tage der Ebene, der Mühsal und des Steckenbleibens. Vor allem ist es nicht damit getan, Themen wie Selbstkontrolle beim Sprechen miteinander ein einziges Mal zu behandeln: manchmal fühle ich mich wie eine hängengebliebene Schallplatte. Nein, wir sagen nicht „Halt die Fresse“, nein, wir sagen nicht „du Opfer“, nein, wir sagen nicht „du Missgeburt“…. eine meiner Klassen ist diesbezüglich besonders zügellos, und ich gestehe, dass ich – neben den Gesprächen darüber – dazu übergegangen bin, Kinder, die in meiner Gegenwart solche Ausdrücke verwenden (nicht mir, sondern ihren Mitschüler*innen gegenüber), mit Extraaufgaben einzudecken. Im Moment drücke ich ihnen dann ein Buch in die Hand, das „Holy Shit“ heißt, eine Geschichte des Fluchens, hochinteressant übrigens – und bitte sie, einen Absatz daraus abzuschreiben. Ich bin nicht wahnsinnig stolz auf mich, aber die Kombination aus beidem – ständige Hinweise, ständiges Einstehen für einen freundlichen Umgangston – und diese Aufgabe scheint im Moment zu wirken. Manche Ausdrücke haben sich derart eingesessen, dass es mich überrascht, sogar von guten Schüler*innen vollkommen selbstverständlich Sätze zu hören wie „Sie hat Make-up auf der Fresse“ … deswegen gehört übrigens meiner Meinung nach auch Literatur auf den Lehrplan der NMS („diese Kinder brauchen das nicht“ – habe ich oft gehört), aber das ist ein anderes Kapitel.

Die Autorin ist Lehrerin an einer NMS in Wien.

2 Kommentare
  1. Erich Wallner
    Erich Wallner sagte:

    Es muss irgendwann 1970 gewesen sein, als mein Deutschlehrer mit uns in der 6. Klasse Gymnasium im Freifach „Literaturpflege“ Faust I gelesen hat. Ich wusste zuvor, dass das ein berühmtes Werk der deutschen Literatur ist – aber wieso der Faust so berühmt ist, verstand ich auch nachher nicht.

    Selber Lehrer geworden, hielt ich mir dieses Beispiel immer vor Augen, um meine eigenen Schüler nicht mit Dingen zu konfrontieren, die ihren Horizont übersteigen: Ich selber war jedenfalls mit 16 nicht reif für den Faust.

    Jetzt lese ich hier, dass der Faust mit Abtreibung, Kondomen und AIDS aufgemotzt wird – für Dreizehnjährige (!) – und frage mich, was dann erst der Religionslehrer aus der unbefleckten Empfängnis Mariens machen wird?

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