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Immer wieder ist in den Schlagzeilen zu lesen, dass die Mehrsprachigkeit von Kindern ein großes Problem für unsere Gesellschaft darstellt. Schüler*innen können schlecht Deutsch und bekommen einen Mittelschulabschluss ohne sinnerfassend lesen zu können, die Kinder von heute sprechen nur mehr “Ausländerdeutsch”, also mit vereinfachten Strukturen und fehlender Grammatik, und manche können sich überhaupt in keiner Sprache adäquat ausdrücken.

So gerne ich diese (Vor-)Urteile zumindest aus meinem eigenen Erfahrungsschatz nach ein paar Jahren an einer NMS in Wien gerne entkräften würde – leider treffen sie auf viele Schüler*innen zu. Auch die Standardüberprüfungen des BIFIE (Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation & Entwicklung des österreichischen Schulwesens) im Jahr 2015 zeigen deutlich, dass mehr als die Hälfte (!) der Schüler*innen mit Migrationshintergrund die Bildungsstandards für Leseverständnis in der 4. Schulstufe nicht, oder nur teilweise erreichten. Dass auch ein Drittel der Schüler*innen ohne Migrationshintergrund die Mindeststandards nicht ausreichend erreichten, zeigt die allgemeine Tragweite dieses Problems auf, soll jedoch jetzt nicht im Fokus stehen. Fakt ist, dass die Anzahl derer, die die Standards nicht ausreichend erreichten, bei Schüler*innen mit Migrationshintergrund um fast 30% höher ist als bei solchen ohne Migrationshintergrund.

BIFIE_Leseverständnis
Abb. 1: Verteilung auf die Kompetenzstufen in Leseverständnis nach Migrationshintergrund (BIFIE 2015: 37)

Nun könnte man meinen, dieses Ergebnis sei logisch. Wer zuhause nicht Deutsch lernt, der wird eben in der Schule nicht so gut Deutsch lesen können. Zwei wichtige Punkte dürfen wir hier allerdings nicht außer Acht lassen: Erstens, dass laut BIFIE (2015: 30) zumindest 26,6% der Schüler*innen mit Migrationshintergrund entweder ausschließlich Deutsch als Muttersprache haben, oder bilingual mit Deutsch erzogen wurden. Zweitens, dass ein großer Teil der Schüler*innen mit Migrationshintergrund selbst sehr wohl in Österreich geboren und aufgewachsen sind. Das bedeutet, diese Kinder haben in Österreich den Kindergarten besucht (zumindest in Wien ein verpflichtendes Kindergartenjahr), und vier Jahre Volksschule hinter sich gebracht. Wie kommt es also, dass die Diskrepanz im Leseverständnis nach der 4. Schulstufe zwischen diesen beiden Gruppen so groß ist?

Die Gründe hierfür sind wohl genauso vielfältig wie die Theorien, die versuchen die Statistiken zu erklären: fehlende Kenntnisse der Muttersprache (schon ab dem Kleinkindalter, aber auch fehlende Förderung in Kindergarten und Schule), wenig soziale Durchmischung und dementsprechend kaum Möglichkeiten Deutsch inklusiv zu erlernen, fehlende Deutschförderung (ab dem Kleinkindalter)… ich möchte in diesem Artikel nicht versuchen, Ursachenforschung zu betreiben (dafür sind Linguistiker*innen zuständig – wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema gibt es in Fülle). Vielmehr möchte ich einen Vorschlag dazu machen, wie wir mit dieser Sprachenvielfalt konstruktiv umgehen könnten, anstatt sie als Problem zu sehen.

Lösungen, die Probleme verursachen

Wie wird nun an den Schulen mit dem Thema Mehrsprachigkeit umgegangen? Mein Eindruck ist, dass die meisten Lehrer*innen versuchen ihr Bestes zu tun, um Schüler*innen mit Wertschätzung zu begegnen und sie so gut wie möglich zu fördern. An den Türen steht in vielen verschiedenen Sprachen “Willkommen”, die Herkunftsländer der Schüler*innen und/oder der Eltern werden thematisiert, und vielleicht sogar Lieder in anderen Sprachen als Deutsch oder Englisch gesungen. All das sind schöne Methoden, um allen Schüler*innen das Gefühl zu geben, dass sie (“trotz” ihrer Herkunft) einen Platz in Österreich haben.

Leider wird das Thema Mehrsprachigkeit, auch im öffentlichen Diskurs, allerdings oft sehr negativ gesehen, oder fragwürdige Ratschläge weitergegeben. Eltern, die selbst kaum Deutsch sprechen, werden dazu aufgefordert, mit ihren Kindern nur noch Deutsch zu sprechen, anstatt ihnen ihre Muttersprache auf möglichst hohem Niveau näherzubringen. Würden Sie mit Ihrem Kind nur mehr Russisch oder Portugiesisch sprechen, sollten Sie gezwungen sein, nach Russland oder Portugal auszuwandern? Egal ob eine Migration in ein anderes Land eine freie Entscheidung oder eine Flucht war, eine Sprache bedeutet immer auch ein Stück Heimat, und das geben die wenigsten gerne auf. Mal abgesehen davon, dass sich die meisten Menschen nur ihren Muttersprachen wirklich gut ausdrücken können. In den Pausen werden Schüler*innen jedoch mancherorts ermahnt miteinander nur Deutsch zu sprechen; sogar Geschwister mit derselben Muttersprache. An manchen Schulen wird das Sprechen anderer Sprachen als Deutsch (abgesehen vom Fremdsprachenunterricht) generell verpönt. Damit bekommen Schüler*innen vermittelt, dass ihre eigene Sprache weniger wert ist als Deutsch, und das Deutsch-Lernen wird mit einem Zwang und einem Druck verbunden, statt als hilfreich und notwendig empfunden zu werden.

Der Wert einer Sprache

Jede Sprache öffnet Türen. Türen zu einer Kultur, zu bestimmten Denkweisen, Ritualen, Weltanschauungen, Literatur, und womöglich auch zu Jobs. Jede neue Sprache ist somit eine Bereicherung für das Individuum. Dennoch haben Sprachen sehr unterschiedliches Prestige. Sprachen wie Englisch, Französisch, Spanisch oder Italienisch werden in Österreich an vielen Schulen angeboten, und bilinguale Kinder werden meist bewundert für ihr außergewöhnliches Können. Allein in Wien gibt es laut Europabüro der Bildungsdirektion durch das Programm “Vienna Bilingual Schooling” 8 Volksschulen und 9 Schulen der Sekundarstufe 1 (davon 4 Neue Mittelschulen), die bilinguale Klassen für deutsch- und englischsprachige Schüler*innen anbieten. In jeder dieser Klassen ist “das Verhältnis von dominant englisch- bzw. dominant deutschsprachigen Kindern möglichst ausgewogen”. Nur durch diese Durchmischung kann bilinguales Lernen erfolgreich stattfinden. Die englischsprachigen Schüler*innen lernen mit Hilfe ihrer Mitschüler*innen besser Deutsch, und umgekehrt. Beide Sprachen erhalten denselben Stellenwert und dieselbe Wertschätzung. Die Schüler*innen profitieren voneinander, lernen voneinander und haben am Ende ihrer Schullaufbahn im Idealfall beide Sprachen perfektioniert.

In Österreich gibt es allerdings nicht so viele Kinder, die Englisch als Muttersprache haben. Schüler*innen wachsen bilingual mit Türkisch, Serbisch, Kroatisch, Albanisch oder Arabisch auf, um nur einige zu nennen. Meist wird diese Mehrsprachigkeit allerdings nicht als Ressource gesehen, sondern als Hindernis. Diese Sprachen besitzen in Österreich wenig Prestige, das heißt wenige Menschen sehen einen Nutzen darin, diese zu erlernen.

Ein Traum?

Wenn wir Sprachen als Ressourcen sehen wollen, dann müssen wir ihnen den nötigen Raum schaffen. Wenn wir bilingualen Kindern mit Wertschätzung begegnen wollen, dann müssen wir auch ihre Sprachen wertschätzen. Was spricht also dagegen, bilinguale Schulen für Deutsch-Türkisch oder Deutsch-Arabisch zu gründen? Auch hier könnten die Schüler*innen voneinander und miteinander lernen, und jede*r Schüler*in hätte etwas dazu beizutragen. Solche Schulen könnten dabei helfen, Mehrsprachigkeit in Österreich als eine Chance zu sehen und als eine Ressource zu nutzen. Das bedeutet natürlich nicht, dass Deutsch nicht genauso wichtig ist wie bisher – immerhin erfolgt der alltägliche Sprachgebrauch zumindest zu einem Großteil in Deutsch – aber es wäre eine Möglichkeit, einer neuen Sprache auf Augenhöhe zu begegnen. Auch für deutschsprachige Kinder haben bilinguale Schulen einen Vorteil, da sie eine Fremdsprache von Sprechern ebendieser Sprache lernen, statt nur im Unterrichtskontext. Weiters würden bilinguale Schulen dazu führen, sich mit den Ansichten, Meinungen und kulturellen Kontexten der Mitschüler*innen intensiver auseinanderzusetzen, was zum Abbau von Vorurteilen und zu einer größeren Toleranz führen könnte. Schüler*innen mit Migrationshintergrund würden weniger Ausgrenzung erleben und könnten sich besser integrieren.

Ich plädiere hier nicht für eine flächendeckenden Schulreform, an der alle teilnehmen müssen. Aber einen Schulversuch mit entsprechender Evaluierung halte ich für eine wichtige Chance. Mir ist auch bewusst, dass sich momentan wahrscheinliche wenige Eltern finden würden, die ihre Kinder in solch eine Schule schicken würden. Womöglich wäre es auch schwierig, gut ausgebildete Lehrkräfte zu finden, die diese Bilingualität (vor-)leben können und wollen. Aber das Träumen lasse ich mir nicht nehmen…

Die Autorin ist Lehrerin an einer NMS in Wien.

Quellen:

BIFIE “Standardüberprüfung 2015, Deutsch, 4. Schulstufe. Bundesergebnisbericht” Herausgegeben von Simone Breit, Michael Bruneforth & Claudia Schreiner. (Abgerufen am 23.2.2019)

Europabüro der Bildungsdirektion Wien “VBS – Vienna Bilingual Schooling” (Abgerufen am 23.2.2019)

2 Kommentare
  1. Mag. Sine Nomine
    Mag. Sine Nomine sagte:

    Leider ist die Kenntnis einer Sprache nicht automatisch ein Wert an sich, und es sind nicht alle Sprachen gleich wertvoll — wobei sich der Wert nach Zeit und Ort richtet. Wenn man Sprache auf ihre prinzipielle Funktioen reduziert wird sie zum Werkzeug: sie ermöglicht verbale Kommunikation. Der Wert einer Sprache lässt sich also durchaus daran messen, wie geeignet ihre Kenntnis ist, diese Kommunikation zu ermöglichen. Die Kenntnis der lokalen Umgangssprache, in unserem Fall eben Deutsch, hat damit regelmäßig den höchsten Stellenwert.

    Deutsch ist damit nicht automatisch eine „wertvollere“ Sprache als Türkisch, oder Arabisch — in Österreich aber schon. (In der Türkei wäre es umgekehrt.) Eine ähnliche Abstufung wird man aber auch bei Fremdsprachen zu treffen haben: wer spricht diese Sprache sonst noch, mit wem kann ich in dieser Sprache kommunizieren? Dass hier Weltsprachen wie insb. Englisch die Nase vorn haben, dürfte eigentlich nicht verwundern. Es erklärt auch, warum der Bedarf an zB türkisch/deutschen Schulen außerhalb der türkischen Diaspora vermutlich nicht besonders groß wäre.

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  2. Maja
    Maja sagte:

    Vielen Dank, liebes Schulgschichtnteam, ihr sprecht mir aus der Seele.

    Ich glaube es würde vielen Menschen in erster Linie helfen sich selbst einzugestehen, dass ihre Köpfe voller Vorurteile sind. Auch meiner ist es, und das obwohl er mit! Migrationshintergrund ist. Das ist ja heute fast wie beim Kebap bestellen – mit scharf, ohne scharf. Entschuldigt den Sarkasmus, aber hier und da braucht man ihn, um die Realität verdauen zu können.

    Hier bei uns im Westen werden Kulturen, und somit Sprachen, in die guten und die weniger guten geteilt. Hört man ein Kind am Gang, oder eine Familie im Bus Spanisch oder Französisch reden, dann hören wir gerne zu auch wenn wir vl nichts verstehen. Welches Gefühl löst es in uns aus? Bei mir ist es meistens Neid- ich möcht’s einfach auch können. Bei slawischen Sprachen ist es dann bei den meisten eher ein – mhm ja Ostblock, oder Jugo – Gastarbeiterwurzeln jedenfalls. Was in unseren Köpfen vorgeht, wenn wir Türkisch, Arabisch etc hören, muss ich hier wohl nicht erläutern. Alles was ich hiermit sagen möchte ist, dass wir Menschen sind, wir Vorurteile haben und das in Ordnung ist. Es liegt aber in unserer Verantwortung uns dessen bewusst zu werden und dafür zu sorgen diesen eigenen Konflikt, den wir in unseren Köpfen haben, nicht auf den Rücken der Kinder mit Migrationshintergrund auszutragen. Die haben nämlich schon mit genug zu kämpfen, sie auch noch mit unseren Vorurteilen und inneren Konflikten zu konfrontieren, ist nicht fair.

    Sehen wir uns um – ich hätte da einige „westliche“ Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung, die weder tolerant noch weltoffen sind – Werte, die wir doch den „Zugezogenen“ vermitteln möchten. Auch solche werden auf Schüler*innen „losgelassen“. Und hat nicht erst ein FPÖ Politiker (ihr wisst schon wer) die Richtig/Wichtigkeit der Menschenrechte in Frage gestellt?! Vom Miteinander sind wir weit entfernt, solange wir glauben, wir seien die Besseren, in einigen Bereichen fortgeschrittener, aber besser mit Sicherheit nicht. Wir wollen Kulturen an uns anpassen, sie uns gleichmachen- also die weniger guten, die anderen können bleiben, wie sie sind, denn Vielfalt ist ja eigentlich erwünscht. Es muss ein Umdenken stattfinden, in den Köpfen beider Seiten. Und wir Lehrer*innen mit bestem Beispiel voran.

    @ Mag. Nomine -Sprache auf ein „Werkzeug“ zu reduzieren, kann man machen, wird aber nicht mal im Fremdsprachenunterricht (Englisch, Spanisch zum Beispiel) gemacht. Auch da wollen wir den Schüler*innen die, der Sprache zugehörige Kultur näher bringen. Wir reisen nach England, Irland, Spanien, bringen die Schüler*nnen bei Gastfamilien unter, um möglichst viel Authentizität in die sprachliche Erfahrung zu bringen. Sprache ist Kultur und somit Identität, nehmt Menschen ihre Identität nicht weg, dann haben sie auch nicht das Gefühl sie krampfhaft schützen und suchen zu müssen, an Orten und bei Menschen, die problematisch und perspektivenlos sind.

    Lange Rede, kurzer Sinn – ich habe das Gefühl wir Lehrer*innen werden alleine gelassen. Es benötigt Bildung – wir sind nicht ausgebildet, um mit solchen Problemen richtig umgehen zu können, es wird aber sogar von uns erwartet, sie zu lösen. Immigranten werden zu Deutschkursen verpflichtet- fair enough. Verpflichtet uns Lehrer*innen zu Seminaren, in denen wir lernen Vorurteile zu kanalisieren, mit traumatisierten Kindern umzugehen, Diversität zu feiern und eine Balance zu finden, mit beratungsresistenten Eltern umzugehen (die Liste ist endlos).

    Und es benötigt Austausch, Erfahrung und Kommunikation. Dafür Danke ich dem Schulgschichtnteam. Ihr seids genial!

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