Lesezeit: 4 Minuten

Die Zensuren

In einer ersten Klasse liest die Klassenlehrerin die endgültigen Noten vor. Es herrscht Totenstille.

Mathematik 3, Deutsch 2, Englisch 1, Geografie 1, Biologie 1, Bewegung und Sport 1, Bildnerische Erziehung 1, Geografie 2, Musik 1. Du hast das Schuljahr mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen.

Dragana springt auf und jubelt. „Und ich hab so Angst gehabt, dass ich einen Vierer habe.“  Ich wundere mich. Dragana ist das, was man als eine gute Schülerin bezeichnet. Okay, ab und zu vergisst sie ihre Hausübungen oder ist nicht so perfekt auf eine Überprüfung vorbereitet. Weil sie eine gute Schülerin ist, wird ihr das verziehen. Also wo genau sollte da eine Vier herkommen?

Als die Lehrerin Valentinas Noten vorliest, merke ich, dass Valentina immer mehr in sich hineinkriecht. Jede Vier macht sie ein Stückchen kleiner. Beim Sehr gut in Bildnerischer Erziehung lächelt sie kurz. Dann versinkt sie wieder in sich. Auch die Zwei in Bewegung und Sport stimmt sie nicht wirklich froh. Ein bisschen wundere ich mich, weil ich sie im Theaterunterricht als sehr bewegungsfreudige Schülerin erlebe, ständig Handstand an die Wand machend oder Räder schlagend. Tanzfreude hat sie ohnehin enorm viel in sich. Vielleicht hat sie die Zwei, weil sie ab und zu ihre Sportsachen vergisst. Als nicht so gute Schülerin kann sie nicht auf Nachsicht hoffen.

Es geht weiter.

Denis jubelt über eine Vier in Mathematik. Mehmet zuckt mit den Schultern und unterstreicht mit einer Handbewegung, dass ihm die Schule ohnehin egal ist. Nicoletta kämpft mit den Tränen und Anna hält sich die Ohren zu, weil sie keine Lust auf ihre Noten hat.

Die Frage

Die Klassenlehrerin verlässt den Raum, ich bleibe mit den Schüler*innen zurück. Kurz nachdem die Türe zufällt, entlädt sich die Spannung.

Unfair!“ „Meine Eltern bringen mich um!“ „Geil, ich bekomme ein neues Handy!“ „Nicht einmal eine einzige Eins habe ich!“ „Ich hasse die Schule!“ „Ehrlich, bei mir ist das so. Ich kann lernen, so viel ich will, aber meine Noten ändern sich nicht!“ „Voll! Bei mir auch. Für Geografie habe ich gar nichts gelernt, aber ein Zwei bekommen.“ „Kenn ich. Deshalb lerne ich gar nichts mehr.

Nach zwei lauten Minuten ist der größte Frust draußen. Ich habe mir das alles angehört, habe nicht eingegriffen. Ab und zu dürfen Kinder auch laut sein, müssen sie sogar.  Ich bin sowieso der Meinung, dass man Kinder und Jugendliche erst dann nachhaltig erreicht, wenn man sie einmal so richtig laut erlebt hat.

Eine Frage hätte ich an euch.“ Ich muss die Stille nützen. „Was habt ihr dieses Schuljahr gelernt?“ Schweigen. „Ehrlich, was habt ihr gelernt?“, hake ich nach.

Nichts“, ruft Dennis. Andere stimmen ihm zu. Ich bin fassungslos. Wo kommen dann all die Noten her, wenn diese Schüler*innen, ihrer Ansicht nach, nichts gelernt haben. Irgendwann meldet sich Dragana zu Wort. „Dezimalzahlen“, ruft sie. Zumindest etwas denke ich mir. Auch wenn das Kapitel Dezimalzahlen das allerletzte Kapitel war, das wir in diesem verrückten Schuljahr durchgenommen haben. Aber es hängt allem Anschein nach noch im Kurzzeitgedächtnis. Ein anderer Gedanke kommt mir auch. Vielleicht fällt es Dragana deshalb so schwer sich selbst einzuschätzen, weil sie keine Ahnung hat, was sie in diesem Schuljahr gelernt hat.

Ich stelle diese Frage auch in anderen Klassen. Meistens bekomme ich die gleich ernüchternde Antwort. Ein Mädchen antwortet, dass sie nun wüsste, was Corona sei. Am liebsten würde ich sie umarmen.

Wozu also Notengebung?

Am 2.7. war Heinz Faßmann in der ZiB2 zum Interview eingeladen. Lou Lorenz Dittelbacher fragte nach einer möglichen Note im Krisenmanagement der Schulen.

Weil ich ja durchaus für Ziffernnoten bin, möchte ich hier keine Ausweichantwort geben. Ich würde mir ein Gut geben.

Mit ist ohnehin schon länger klar, dass es kaum Chancen gibt, die Schule in den nächsten Jahren zu einem beurteilungsfreien Raum wachsen zu lassen. Mit der nicht vorhandenen Unterstützung von obersten Stelle gehe ich mal davon aus, dass meine mittlerweile zweijährige Enkeltochter auch ab sechs Jahren ein Sehnsuchtsziel haben wird, nämlich nur Einser im Zeugnis.

Aber was sagt das aus? Was bedeutet das Gut, dass sich Faßmann selbst für sein Krisenmanagement gegeben hat? Was sagt ein Zeugnis mit lauter Einsern aus? Was kann das Kind? Was hat es gelernt?

Kinder und Jugendliche wollen sich vergleichen. Das ist eines der Argumente, die ich nicht mehr hören kann. Ja, sogar den jüngsten Volksschulkindern ist es wichtig, dass sie Ziffernnoten haben. Dann wissen sie, woran sie sind. In erster Linie dienen die Zensuren in diesem Fall den Eltern, die ihre Kinder mit anderen vergleichen wollen. Später vergleichen sich die Schüler*innen tatsächlich, weil sie es nicht anders gelernt haben.

Ohne Noten würde ich nichts lernen, sind sich die meisten Schüler*innen einig. Die meisten Lehrer*innen sehen das ähnlich.

Schule als beurteilungsfreier Raum – eine Illusion?

Einigkeit herrscht auch darüber, dass, würde man auf Noten verzichten, ohnehin alles beim Alten bliebe. Mit dementsprechenden Formulierungen wäre ja dennoch klar, dass der/die Schüler*in  versagte, ein Ziel nicht erreicht hat. Ich teile diese Meinung sogar. 

Bei der Forderungen nach Abschaffung der Noten gehe ich einen Schritt weiter. Ich will die Schule und damit auch Lernen zu einem beurteilungsfreien Raum machen.  Es muss doch irgendwann Schluss sein mit der Anhäufung von Bulimiewissen. Warum kann man nicht mal Kinder und Jugendliche fragen, was sie lernen wollen. Bei allem was sie wissen und erlernen wollen braucht man ein Basiswissen. Auch diese Erfahrung  werden die Schüler*innen ganz schnell machen. Lernen um des Lernens Willen, das wäre mein ersehntes Ziel.

Klar, würde es zu einer Umstellung im Bereich Schule und Notengebung kommen, müssen wir damit rechnen, dass zu Beginn der Lerneifer der Schüler*innen schwinden würde. Nur bin ich mir sicher, dass dieser nach einer Übergangsphase wieder zum Leben erwacht. Und vielleicht wissen dann zumindest ein paar Schüler*innen, was sie in diesem Schuljahr gelernt haben.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.

Lesezeit: 2 Minuten

Herr Professor, können wir nicht noch eine Stunde Geo machen? Das ist so wichtig.“ Das Thema: Rassismus. Die Umsetzung: Fotos, Eigenerfahrungen, ganz viel Gespräch – super reflektiert. „Herr Professor, es ist so schön… können wir nicht rausgehen?“ Sicher. Spaziergang. Die Straße entlang hin zum Wiederkehr. „Mein Normal: Unternehmen entlasten – Jobs schaffen“ ist am NEOS-Plakat bei der schulnahen Bushaltestelle plakatiert. Was bedeutet das? Warum hängt das? Durch welche Entlastung können welche Jobs geschaffen werden? Wie sehen es die anderen Parteien? Spazieren wir weiter. Information, Fragen, Debatte. Fazit: „Das hat so viel Sinn gemacht. Voll super.“ Und außerdem: „Ich hab über das Rassismus-Thema nachgedacht. Darf ich Ihnen nachher noch ein Video zeigen?“ Klar.

Dynamisches Lernen, gemeinsames Reflektieren und Diskutieren, Thematisierung gesellschaftspolitisch relevanter Phänomene – es macht Sinn und nach dem Unterricht wird im lebendigen digitalen Raum weiterdebattiert. Es beschäftigt und ermutigt. Die halbierte Klassenportion ist erfreut über die Möglichkeit nachzufragen und Meinung kund zu tun. Es geht leichter von der Hand für beide Seiten. Man fühlt sich gehörter denn je im Kleingruppenformat. Sacré bleu und quelle surprise.

Dass es so bleibt (weniger Schüler*innen je Lehrer*in in Kombination mit gesteigerter Diskussionsmöglichkeit im dem Wetter angepassten Outdoor-Unterricht): Illusion. Also zurück zum alten Schema ab September? Schema F: Notendruck, Lernzwang, zu viele Kinder auf zu wenig Raum. Doch kann es das geben? Eher zu wenig Lehrer*innen und zu wenig Raum. Änderungsbedarf, Investitionspflicht – Outdoorklassen, späterer Unterrichtsbeginn, gesünderes Angebot in der Schulkantine, interaktives Lernen in Kleingruppen, verbesserte Kommunikationsstruktur im analogen und digitalen Raum, gemeinsames Reflektieren über Erlebtes, Sinndebatte über die Reifeprüfung, individualisiertes Lernen statt kollektivem Schweigen – ein Aufschrei der verstummt. Denn, das was kommt, sei fördernd, innovativ und sozial, der Mehrwert sei unbestritten: die Sommerschule.

Geh bitte… da geht dir ja keiner freiwillig hin“, so der allgemeine Tenor im Konferenzzimmer (m)einer Wiener AHS. Also ab ins Schema F – mit den Eltern reden, ihnen vermitteln, dass das schwache Kind MUSS. Wir müssen sie zwingen und für die Notenschwäche bzw. die Inkompatibilität mit dem existierenden System bestrafen. Der vom Minister ausgeschickte Stundenplan für die Volksschule (wie sieht es für NMS und AHS aus?), liest sich verheißungsvoll: Förderung der Kreativität, Erkundung der Umgebung, Basteln, Bewegung, Sprachtraining… so macht (Sommer)-Schule Sinn. Was aus mir „spricht“, ist die tiefe Überzeugung, dass Lernen Freude bereitet und dass Kinder Sinnhaftigkeit und Freude erkennen, spüren und schätzen. Lasst uns mit den Kindern reden und sie davon überzeugen, vom Lernen mit Sinn, Freude und Variation – abwechslungsreich und vielfältig, bewusst und individuell.

Aber: Wenn schon, dann g’scheit.

Von einer, meiner AHS läge der nächste Sommerschul-Standort 40 Öffi-Minuten entfernt. Es gibt schlichtweg keine einzige Sommerschule im zweitgrößten Wiener Gemeindebezirk mit massenhaftem Förderpotenzial – auch im Sommer. Den Eltern wird nun sieben Tage vor Meldeschluss vermittelt, dass sie ihre nach den Anstrengungen der Corona-bedingten schulischen Neuerungen die Ferien herbeisehnenden Kinder anmelden können, wenn sie denn wollen. Schema F. Die unzähligen Eltern mit nicht-deutscher Muttersprache und mangelhaften Deutsch-Kenntnissen, die vielzähligen Eltern, die von der beruflich-familiär-sozialen Konstellation täglich bis an und über’s Limit gefordert werden, die hunderttausenden ambitionierten Kinder mit Gestaltungs-, Partizipations- und Lernmotivation werden mit einem formellen Schreiben allein gelassen, wenn nicht die Klassenlehrer*innen die Notwendigkeit erkennen, individuell, persönlich, empathisch, geduldig, motivierend mit denen zu reden, die bereit sind und wollen, wenn das Angebot stimmt: mit unserer Zukunft, unseren Kindern. 

Also dann: bitte g’scheit.

Der Autor ist Lehrer an einer AHS in Wien.

Lesezeit: 3 Minuten

Das bildungspolitische Hin und Her hält Lehrer*innen kontinuierlich auf Trab und erfordert ausgeprägte Anpassungsfähigkeit von allen am Schulgeschehen Beteiligten. Eine Reform, die vermeintlich alles besser machen soll, wird ohne Evaluation von der nächsten abgelöst. Mit der Umsetzung werden Schulen und Lehrkräfte schließlich alleine gelassen. “Schulautonomie” ist das Schlagwort der Stunde.

Wieder alles neu

Es war ja schon im Gespräch, also wir wussten bereits von abermals neuen Veränderungen, doch nun ist es amtlich: Wir bekommen wieder ein neues Differenzierungs- und Notensystem! Ich bin wirklich wütend und zugleich traurig und erschüttert darüber, wie man sich innerhalb von 30 Jahren immer wieder etwas Neues ausdenken kann ohne endlich das umzusetzen, was schon lange diskutiert und sogar schon erprobt und als gut empfunden wurde.

Vor ca. 30 Jahren waren wir umgestiegen von A und B Zug auf drei Leistungsgruppen, um noch besser differenzieren zu können. Das Ergebnis war genauso schlecht wie vorher, nämlich dass Schüler*innen weder voneinander lernen konnten noch das „bessere“ Vorbild hatten, um einen Ansporn zur Verbesserung zu bekommen. Schließlich wurden auch die Leistungsgruppen abgeschafft zugunsten von heterogenen Klassen, die von mehr Lehrkräften betreut werden sollten. Anfangs funktionierte das auch gut, doch bald wurden die Ressourcen gestrichen und mittlerweile haben wir weder nur gering reduzierte Schülerzahlen noch mehr Lehrkräfte in einer Klasse. Damit wird das Differenzieren und Individualisieren natürlich schwierig.

Nebenbei läuft seit Jahren die Diskussion, ob man Noten abschaffen sollte zugunsten von verbalen Beurteilungen. Teilweise liefen sie parallel und engagierte Lehrer*innen beherzigten diese Möglichkeit und nutzten sie sehr gut und positiv für die Schüler*innen. In meiner Schule – einer NMS – gibt es (zumindest bis jetzt) keine Noten bis zur achten Schulstufe. Dann müssen wir Noten geben, um die Schüler*innen in höhere Schulen oder in eine Lehre entlassen zu können. Auch das verstehe ich nicht, da wir bereits von Lehrherr*innen wissen, wie dankbar sie um die verbalen Einschätzungen sind, weil sie wesentlich aussagekräftiger sind als Noten.

Mit dem neuen Differenzierungssystem „AHS Standard“ oder „Standard“ spalten wir nicht nur wieder die Schülergemeinschaft in zwei Gruppen – auch wenn sie nicht räumlich getrennt werden – sondern wir haben unsere „wunderbare“ Notenskala erweitert auf nunmehr neun Noten, die ja übrigens in den letzten Jahren bereits erweitert wurde auf sieben Noten (auch hier kann man die Sinnhaftigkeit in Frage stellen)!

Handeln wider besseren Wissens

Wir wissen, dass (leistungsbezoge) heterogene Gruppen viel Gutes bringen weil sich die Kinder gegenseitig motivieren, und es ihnen ermöglicht wird, einander zu helfen. Sie profitieren davon also enorm.

Wir wissen, dass eine geringe Schülerzahl es ermöglicht, individuell auf die Bedürfnisse der Schüler*innen eingehen zu können.

Wir wissen, dass es durch Teamteaching möglich ist, sich zu einzelnen Schüler*innen zu setzen und gezielt mit ihnen  – und konkret an einzelnen Problemen – zu arbeiten.

Wir wissen, dass verbale Beurteilungen unsere Schüler*innen motivieren, weiterzukommen und sich zu verbessern. Im Gegensatz dazu sagen Noten weder aus, was der oder die Schüler*in kann, noch wirken sie motivierend – schlimmer noch: schlechte Noten demotivieren.  

Ein demotivierendes System – Was verbale Beurteilungen bewegen können 

Einer meiner Schüler kam vor vier Jahren an unsere Schule mit keiner sehr großen Begabung in Deutsch (Muttersprache). Er hatte nicht nur Defizite in der Rechtschreibung und Syntax, sondern auch im Ausdruck und beim Lesen. Er arbeitete intensiv und trotz immer wiederkehrender Rückschläge konnten wir ihn gut motivieren und ihm immer wieder rückmelden, dass er besser geworden war und vor allem durch seinen Fleiß weitergekommen war. In den verbalen Zeugnissen stand nicht, dass er so toll in Deutsch war, doch es stand, dass er immer besser wurde und was er nicht schon alles gelernt hatte. Mittlerweile kann er sich korrekt ausdrücken, hat eine recht gute Rechtschreibung, liest flüssig und kann korrekte Texte formulieren. Im Halbjahr konnte ich ihm (erstmals Notenzeugnis!) einen Zweier geben und er freute sich. Nun möchte er aber gerne einen Einser bekommen und tut alles dafür. Allerdings musste ich ihm sagen, dass er den Einser nicht erreichen wird, weil ihm dazu noch das gewisse Etwas an Begabung und sprachlicher Eloquenz fehlt, das schwierig zu erlernen ist. Er sagt nun mit Recht: „Wenn ich nichts tue, kann ich mich verschlechtern, aber wenn ich viel bzw. alles mache, was gefordert ist und noch darüber hinaus, kann ich mich trotzdem nicht verbessern. Warum ist das so? Das ist ungerecht!“ Ich kann ihm nur recht geben. Es wäre nie zu so einer Diskussion gekommen, wenn die Noten nicht wären. Er hätte für sich und sein Weiterkommen einfach weitergearbeitet. Nun ist er gebremst durch die Notengebung, der Anreiz ist ihm genommen!

So – denke ich – geht es vielen unserer Schüler*innen. Sie lernen nur für die Note und „erledigen“ ihre Arbeiten, darüber hinaus denken sie aber nicht an ihr eigenes Vorwärtskommen und das Ziel, aus eigenem Interesse besser zu werden, etwas zu beherrschen und Freude daran zu haben. Das nehmen wir ihnen durch diese nicht-aussagekräftigen Ziffern!

Ich wünsche mir, dass unsere „Schulgschichten“ auch im Ministerium gelesen werden und Neuerungen vor Inkrafttreten besser hinterfragt und geprüft werden. Vielleicht wäre es gut, wenn sich die dafür zuständigen Personen einmal kontinuierlich in Schulen aufhalten, am Unterricht teilnehmen, mit Schüler*innen und Lehrer*innen sprechen würden.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Oberösterreich.

Lesezeit: 4 Minuten

Die Krise zeigt auf, was im Schulsystem schief läuft und was zu lange vernachlässigt wurde. Damit birgt sie große Chancen, eine konstruktive Entwicklung anzustoßen und voranzutreiben.

Ein gerechteres System

Es ging groß durch die Medien, hat Aufsehen erregt und für viele Diskussionen gesorgt. Die Ergebnisse einer Umfrage zeigten, dass 20% der Kinder – so war es zumindest am Beginn des Homeschoolings – nicht erreicht wurden. Das ist eine unheimlich große Zahl an Kindern und zurecht war die öffentliche Empörung darüber enorm. Kennt man aber Schulen, in denen Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien kommen, überrascht diese Zahl kaum noch. Die traurige Tatsache ist nämlich, dass auch im “Normalbetrieb” nicht alle Kinder immer erreicht werden. Fehlende Unterstützungssysteme, Traumatisierungen, zahllose Fehltage oder familiäre Verantwortung, die keinem Kind zugemutet werden sollte, führen auch im Regelbetrieb dazu, dass Kinder zurückbleiben, dass man nicht zu ihnen durchdringt und dass sie den Anschluss verlieren. Auch wenn es vielleicht nicht immer 20 Prozent sind, ist dennoch jedes Kind, das auf diese Weise zurückgelassen und aufgegeben wird, eines zu viel. Endlich empört sich auch die Öffentlichkeit darüber. Endlich wird der Blick auch in diese unangenehmen Ecken unseres segregierenden Schulsystems gelenkt. Endlich wird sichtbar, was viel zu oft unter den Teppich gekehrt wird. Was einmal an der Oberfläche ist, kann nicht mehr so leicht verdrängt werden. So ist die Sichtbarmachung dieses systemimmanenten Problems hoffentlich der erste Schritt in Richtung einer Lösung. Ein Schritt hin zu einer Schule und einem Schulsystem, das erst dann als erfolgreich gilt, wenn es in der Lage ist Ungleichheiten aufzuzeigen und auszugleichen und in dem kein Kind mehr übersehen oder nicht erreicht werden kann.

Teamarbeit

Der Lehrer*innenberuf ist vielerorts leider immer noch geprägt von Einzelkämpfertum. Die derzeitige Krise hat durch das Social-Distance-Learning viele Lehrkräfte und Pädagog*innen zur Teamarbeit gezwungen. Aufgaben müssen aufeinander abgestimmt, Abgabetermine koordiniert und Kommunikationskanäle vereinheitlicht werden. Natürlich ist hier noch viel Luft nach oben, Eltern und Schüler*innen klagen über Social-Distance-Learning via 5 verschiedener Apps und 3 verschiedener Videotools. Dennoch blitzen immer mehr Phasen des echten Teamworks auf, wo gemeinsame Ziele und Aufgaben für eine Klasse geschaffen werden. Diese Art des Zusammenarbeitens, die Koordination, die Absprache und das Schaffen gemeinsamer Ziele sollten nach Überstehen der Krise zum Arbeitsstandard an jeder Schule zählen. Hoffentlich hilft uns das Virus, das Einzelkämpfertum im Lehrer*innenzimmer hinter uns zu lassen und als Team zusammenzuarbeiten.

Digitaler Unterricht als Normalität 

Schulalltag ist stressig und dicht getaktet. Stunden vorbereiten, Material erstellen, verbessern und natürlich: unterrichten. Meist bleibt wenig Zeit und Raum für “Spielereien”. Man hört immer wieder von neuen Tools, spannenden Websites und Angeboten und nimmt sich vor, sich diese “mal anzuschauen” und auszuprobieren. Im Alltag neigen solche Vorsätze allerdings dazu, in den Hintergrund zu verschwinden. Wenn man Vorbereitungen nach einem langen Unterrichtstag macht, wird in der Regel doch auf Bewährtes und Vertrautes, meist Analoges, zurückgegriffen.

Bis vor ein paar Wochen hätte ein Großteil der Lehrkräfte digitale Planungen, Lernvideos, Arbeitsaufträge, Quizzes oder Share Plattformen wohl kaum zu diesem bewährten und vertrauten Aufgabenkanon gezählt. Nun wurde die Umsetzung dieses lange vor sich hergeschobenen Vorsatzes von der Krise beschleunigt, ja regelrecht erzwungen. Innerhalb weniger Tage und Wochen fand ein Großteil der Lehrkräfte neue Wege, hat teilweise von 0 auf 100 begonnen digital zu arbeiten. Und siehe da, es ist gar nicht so kompliziert wie gedacht, es kann funktionieren und die Arbeit nicht nur für die Kinder ansprechender und zeitgemäßer gestalten, sondern sogar für Lehrkräfte Vorteile und Erleichterungen bringen. Natürlich läuft noch bei weitem nicht alles optimal, es werden zu viele verschiedene Plattformen genutzt und durch das problemlose Erstellen von Aufgaben werden Kinder teilweise mit Aufgaben überflutet. Hier muss also noch nachgebessert werden, aber die Richtung stimmt. Wenn diese Entwicklung auch nach der Krise nicht vergessen, sondern fortgeführt, weiterentwickelt, vereinheitlicht und perfektioniert wird, liegt darin die Chance Schule und Unterricht tatsächlich zu modernisieren und obendrein auch Schüler*innen wirklich digital zu bilden.

Schulautonomie mitnehmen

Viele Vorgaben, wie mit den neuen Herausforderungen umzugehen ist, gab und gibt es in Corona-Zeiten nicht. Schulleiter*innen, Lehrer*innen und Schüler*innen müssen deshalb gemeinsam für ihren Standort Entscheidungen treffen. Welche E-Learning Plattform wollen wir verwenden? Wie kommunizieren wir miteinander? Wie werden Journaldienste eingeteilt? Mit der stufenweisen Öffnung der Schulen ab Mai werden hier noch viele weitere Fragen gestellt und Lösungen gesucht werden müssen. Die Krise zeigt: Jede Schule braucht etwas anderes und die Kolleg*innen und Schüler*innen vor Ort wissen am besten, was für sie der richtige Weg ist. Auch nach Corona sollte die Schulautonomie gestärkt werden, damit jede Schule selbst entscheiden kann, wie der Schulalltag gestaltet sein soll. Nur so ist auch Innovation im Bildungssystem möglich!

Autonomie hat ihre Tücken – auch jetzt

Schulautonomie ist wichtig, kann aber auch dazu führen, dass manche Verantwortlichen ihre Verantwortung nicht wahrnehmen. So zeigt die Krise durchaus auch, dass es Schulleiter*innen gibt, die sich der Suche nach Lösungen entziehen und die Kolleg*innen ohne Vorgaben oder Kontrollen machen lassen was sie möchten. Es gibt Lehrer*innen, die sich kaum Mühe geben, das Homeschooling so zu gestalten, dass es bei den Schüler*innen auch ankommt. Es gibt Schulen, in denen Kommunikation in diesen schwierigen Wochen kaum stattfindet. Schulautonomie soll deshalb nicht Wegschauen bedeuten: Wir brauchen zentrale Vorgaben, wir brauchen Ziele und auch Überprüfung, aber vor allem brauchen wir Angebote und Ressourcen. Wie soll eine Schule innerhalb von 2 Tagen eine E-Learning-Strategie erarbeiten, diese allen Schüler*innen und Lehrer*innen nahebringen und dann auch noch die nötigen Geräte bereitstellen? Dieses Versäumnis gilt Bildungsministerium und Bildungsdirektionen – diese Strategien hätten schon längst eingefordert werden müssen, mit der nötigen Begleitung und (auch finanziellen) Unterstützung. Dann können sie auch je nach Schule autonom gestaltet werden. Hoffentlich lernen wir aus dieser Krise, dass wir uns auf die nächste besser vorbereiten sollten, anstatt erst dann zu handeln, wenn wir schon mittendrin stehen.

Die Krise legt offen, was schon lange schief geht

Die derzeitige Krise schafft neue Probleme, keine Frage. Vor allem aber legt sie jene Probleme schonungslos offen, die schon seit Jahren (mehr oder weniger) latent im System vorhanden sind.  Dass ein gewisser Prozentsatz von Kids an Mittelschulen nur schwer oder gar nicht erreichbar ist, empört zu recht, überrascht aber wenige, die im System arbeiten. Schon vor der Krise gab es dieses Problem, fand aber in der breiten Öffentlichkeit wenig Beachtung.  Dass die Krise besonders jene trifft, die es sowieso schon nicht leicht haben, zeigt, dass unser Bildungssystem auch davor schon ungerecht war. Dass manche Lehrer*innen von digitalen und pädagogischen Neuerungen nichts wissen wollen, war auch vorher schon klar. In der Krise zeigt sich, wer seine Verantwortung wahrnimmt. Fehlende Konzepte und gemeinsame Ziele, fehlende Abstimmung, Koordination und Vereinheitlichung waren schon lange ein Problem (ändert sich gerade, siehe oben) und wird durch die Krise deutlich offenbart.

In vielen dieser Bereiche finden gerade innovative Prozesse und Verbesserungen statt. Wir müssen diesen Schwung mitnehmen um nach der Krise nicht wieder in alte Muster zu fallen.

Felix Stadler, Simone Peschek und Verena Hohengasser

Dieser Beitrag erschien auch auf der Plattform umbruch.at.

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Bildungscampusse

Ich muss gestehen, dass ich seit dem letzten Tag der Weihnachtsferien immer wieder von Neidgefühlen heimgesucht werde. Exakt an diesem Tag stolperte ich auf W24 über eine Sondersendung zum Thema Bildungscampusse und Clusterschulen. Also Orte, an denen sich unterschiedliche Pflichtschultypen und Kindergärten architektonisch klug durchdachte Gebäude zum Zwecke der gemeinsamen, zeitgemäßen Bildung teilen. Es gibt Lerninseln, viele Fenster, helle Gänge, verschiebbare Wände, Sitzmöbel, die mitwachsen, Ruheräume und noch viel mehr. Wie zum Beispiel einen Kino- oder Theatersaal. Einen von diesen, wo die Sitzreihen stufenförmig angeordnet sind und die Bühne am tiefsten Punkt des Saales ist. Ein Ort, von dem ich als begeisterte Leiterin einer wunderbaren Theatergruppe nicht einmal zu träumen wage.

Eine andere Schule

Mein Arbeitsplatz ist eine andere Schule. Dunkel Gänge, kleine Klassenräume, zwei Turnsäle, in denen es schon vor dem Sportunterricht so riecht, als hätte man bereits mit 400 Schüler*innen beinhartes Crossfit-Training gemacht. Lüften hilft da nicht mehr. Dann gibt es noch einen EDV-Raum, eine Schulküche, drei Werkräume, je einen Raum für die Beratungslehrerin und fürs Jugendcoaching. Wobei letzteres eher als Kammerl zu bezeichnen ist. Während der Unterrichtszeit sind alle Türen geschlossen, nur ein paar Kolleg*innen unterrichten bei offener Klassentür. Aber nicht um andere an ihrem Unterricht teilhaben zu lassen, sondern um den Durchzug von frischer Luft in den alten Gemäuern zu gewährleisten. In den Pausen ist Laufen am Gang verboten. Es ist zu gefährlich.

Neidgefühle

Neid ist ein mieses Gefühl, das, ähnlich den Dementoren bei Harry Potter, sämtliche Energie aus dem Körper zieht. Neid hat perfekten Partner, das Jammern und Klagen. Das immer alles auf etwas schieben, warum etwas nicht klappen kann.

Also zum Beispiel: Ich würde ja so gern mit Kindern Theater spielen. Aber wie soll das gehen? Weder gibt es einen geeigneten Raum, noch eine Bühne. Ich könnte ja so tolle Dinge machen, aber wie soll es unter diesen Umständen gehen.

Bescheidenheit

Ich spiele dennoch Theater, und zwar in einem der Sportsäle. Meinen Spieler*innen ist es ziemlich egal, ob es eine Bühne gibt oder nicht. Sie würden mit mir auch in einer Rumpelkammer Theater spielen. Ich trotze diesen widrigen Bedingungen seit vielen Jahren.

Gemessen an den uns zur Verfügung stehenden Räumen bieten wir unseren Schüler*innen viel, sind Weltmeister*innen im Improvisieren. So werde ich aller Voraussicht nach im Keller einen Raum für meine Theatergruppe bekommen, den ich in Gedanken schon mit kleinen bunten Teppichen, Pölstern und einem Regal einrichte. Richtig kuschelig wird das dort. Da bin ich mir sicher. Genauso sicher bin ich mir allerdings auch, dass meine Schüler*innen den Turnsaal als Spielstätte vermissen werden.

Andere Schulen haben weder eine eigene Küche, noch drei Kreativräume. Sollte ich nicht damit zufrieden sein? Es könnte so viel schlimmer sein. Unsere Fenster sind dicht und nirgendwo tropft das Regenwasser hinein, wir haben eigene Spindräume, saubere WC-Anlagen und einen winzig kleinen Schulhof.

Dennoch

Trotz aller Bescheidenheit muss klar sein, dass die Ungerechtigkeit in der Verteilung der finanziellen Ressourcen im Pflichtschulbereich nicht in Ordnung ist. Es kann nicht sein, dass sogar innerhalb der einzelnen Bezirke Schulen grob vernachlässigt werden. Die neue Regierung hat versprochen Brennpunktschulen mehr zu unterstützen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass wir neben personellen Ressourcen eben auch räumliche Veränderungen brauchen. Wen wundert es, dass Aggressionen zunehmen, wenn sich bis zu 25 Jugendliche einen viel zu kleinen Klassenraum teilen? Einen Raum, in dem ein normal gewachsener Teenager nicht einmal seine Beine ausstrecken kann, weil sich die Schüler*innen in der Reihe davor attackiert fühlen. Räume, in denen Lehrer*innen eine Art Tetris spielen müssen, um einen geeigneten Sitzplan zu entwerfen. A kann nicht neben B sitzen, weil C sonst hinter A verschwindet. D würde so gerne in der ersten Reihe sitzen, aber ihre Körpergröße lässt das nicht zu. Denn dann verschwindet nicht nur C, sondern auch gleich E, F und G.

Ich bin die letzte, die nach starren Sitzordnungen schreit. Am liebsten würde ich alle Tische an die Wand stellen, vieles im Sitzkreis erarbeiten, auf die Tafel und meine rauen Kreidehände verzichten. Ich bräuchte auch keinen eigenen Tisch. Aber ich bin keine Insel und die meisten Kolleg*innen bevorzugen das klassische Sitzmodell.

Fazit

Ich will nicht, dass der einen Schule Mittel zulasten der anderen entzogen werden. Ich will, dass insgesamt mehr Geld in den Neu-, Aus-, und Umbau der Schulen fließt. Ich verstehe diesen Beitrag als offizielle Einladung an jene Architekt*innen, die die großartigen Clusterschulen entworfen haben.  Ich möchte mit diesen durch mein Schulgebäude gehen und ebenso kluge Lösungen finden, um auch unseren Schüler*nnen die Chance auf neues, zukunftsorientiertes Lernen zu geben.

Die Autorin ist Lehrerin an einer NMS in Wien.