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Männlichkeiten und toxische Männlichkeit. Ein geschlechterreflektierender Aufruf

Zurück aus den Sommerferien und mitten in der Planung der Themenschwerpunkte fürs neue Schuljahr erinnerte ich mich einer schulinternen Auseinandersetzung letzten Juni. Streitpunkt war eine Formulierung für den alljährlichen Schullauf. Auf einem Plakat für den alljährlichen Schullauf stand: „Mädchenrunde“ 5km und „Jungsrunde“ 10km. Einige Kolleg*innen und ich äußerten unser Unverständnis zu dieser Formulierung. Uns störte die geschlechtergetrennte Einteilung der Strecken und der tradierten Vorstellung, Jungs seien sportlicher/leistungsstärker als Mädchen. Zudem reproduzierte es die Annahme der Zweigeschlechtlichkeit. Darüber hinaus schreibt es eine nach Geschlechtern getrennten Welt sowie die Zuweisung in „weibliche“ und „männliche“ Sphären (Fußball vs. Frauenfußball) weiter fort.

Nebenbei könnten sich einige Schüler*innen ausgebremst und andere entmutigt fühlen. Bestimmt gibt es Schülerinnen, die gerne 10km laufen möchten, aber Angst haben, als „unweiblich“ beschämt oder ausgegrenzt zu werden. Und genauso gibt es bestimmt Schüler, die gerne nur 5km laufen möchten, aber ebenso die Sorge haben könnten, mit dem Etikett „unmännlich“ versehen zu werden. Warum diese Sorge gerade unter Jugendlichen, aber auch unter erwachsenen Männern ein großes Problem darstellt, möchte ich in weiterer Folge näher erläutern. Ziel dieses Textes ist es, Lehrer*innen einen kleinen Einblick in die sozialwissenschaftliche Diskussion rund um (hegemoniale) Männlichkeit, toxische Männlichkeit und die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit denselben für den feministischen Kampf zu geben.

Zudem ist die Pubertät eine intensive Phase der Identitätsarbeit und -findung. Wir alle sehen uns innerhalb der Gesellschaft mit normativen Vorstellungen von „Frausein“ und „Mannsein“ konfrontiert und müssen uns tagtäglichen gegenüber diesem Erwartungsdruck auf die ein oder andere Weise positionieren. Während erfreulicherweise immer häufiger und selbstverständlicher traditionelle Frauenrollen und -bilder thematisiert werden, findet die Auseinandersetzung mit (toxischer) „Männlichkeit“ seltener Eingang in den Unterricht. Zwar erfahre ich im privaten wie im schulischen Bereich von Freunden und Kollegen Zustimmung bei feministischen Kämpfen, jedoch werden eigene desktruktive Verhaltensweisen wie Dominanz, Erniedrigung, Hyperkonkurrenz und Kontrolle seltener reflektiert. Der Text möchte daher zur Selbstreflexion motivieren sowie den Mut fördern, „Männlichkeit“ und toxische Männlichkeit im Unterricht zu behandeln. Schlussendlich möchte der Text einen kleinen Teil zum feministischen Kampf für mehr Selbstbestimmung und den Abbau von Hierarchien und Ungleichheiten (vor allem im Schulalltag) beitragen.

Definition von Männlichkeit

Allgemein wird unter dem Terminus „Männlichkeit“ positive und negative Verhaltensweisen und Praktiken verstanden, die traditionell mit Männern und Mannsein assoziiert werden. Es umfasst bestimmte Verhaltensweisen und -aspekte, die Männern zugeschrieben werden und kulturell anerzogen sind (Sozialisation). So werde Buben, Jungs und Männer von Geburt an dazu erzogen/angehalten, Schmerz und Trauer, Unsicherheit und Verletzlichkeit, „Weichheit“ und Sensibilität zu unterdrücken. Ein Motor hierfür ist die Sprache. Sprüche wie „Sei keine Pussy!“, „Das ist schwul!“, „Echte Männer weinen nicht!“ und „nimm das nicht persönlich“ und „wisch die Tränen weg“, weil Männer „stark“ sein und sich „nichts anmerken“ lassen müssen, verdeutlichen diese Sozialisierungsprozess.

„Männlichkeit“ ist somit eine geschlechtliche „Konfiguration von Praxis“ (Raewyn Connell). Das bedeutet, dass „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ von Connell als Positionen innerhalb des Geschlechterverhältnisses verstanden wird, die durch Praktiken unsere körperlichen Erfahrungen unsere Persönlichkeit wie auch unsere Kultur prägen.

Mehrheitlich wird „Männlichkeit“ als eine inhärente Charaktereigenschaft verstanden, d.h., dass das eigene Verhalten davon abhängt, was für ein Typ Mensch man ist. Unmännliche Menschen verhalten sich anders: eher friedlich als gewalttätig, eher versöhnlich als dominant etc. Ein Mann, der zu viel Emotionen zeigt, keine Lust auf Sex hat oder auf Frauen hört, gilt diesem Verständnis nach gesellschaftlich als weniger „männlich“. Erweitert wird dies durch Nicht-hetero-sein, trans sein, Dinge tun, sagen oder tragen, die nicht „männlich“ assoziiert sind (Christoph May).

Hier deutet sich eine weitere Relation der Praktiken an. „Männlichkeit“ braucht den Kontrastbegriff der „Weiblichkeit“. „Männlich“ und „weiblich“ werden als Antagonismen verstanden. Unsere heutige Gesellschaft ist geprägt von dem Verständnis polarisierender Charaktereigenschaften von Männern und Frauen.

Nach Connell strukturiert sich „Männlichkeit“ auf drei Ebenen. Erstens durch die Unterordnung von Frauen und die Dominanz von Männern (auch bekannt als Patriarchat). Zweitens mittels unserer Produktionsbeziehungen. So hat die wirtschaftliche Konsequenz der geschlechtlichen Arbeitsteilung zur Folge, dass die „Dividende“ aufgrund der ungleichen Beteiligung an gesellschaftlicher Arbeit für Männer größer ist wie für Frauen. Dazu kommt die ungleiche Verteilung gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kapitals zwischen Männern und Frauen (geschlechtsbezogener Akkumulationsprozess). Und drittens formen und realisieren die Praktiken unser individuelles Begehren oder in Connells Worten unsere emotionale Beziehungsstruktur.

Hegemoniale Männlichkeit

Das Konzept geht von verschiedenen Formen von Männlichkeit aus, die wiederum zueinander in einem Dominanz- und Unterordnungsverhältnis stehen. Jene „Form von Männlichkeit, die in einer gegebenen Struktur des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position“ einnimmt, wird von Connell als hegemoniale Männlichkeit gefasst. Diese kann und wird jederzeit in Frage gestellt, z.B. durch andere „Männlichkeiten“ sowie durch feministische Kämpfe.

Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Formen von „Männlichkeiten“ wird nach Connell durch folgende vier Merkmale strukturiert:

  1. Hegemonie: Zu jeder Zeit werde eine Form von Männlichkeit im Gegensatz zu anderen kulturell herausgehoben. Ihre hegemoniale Stellung entstehe, wenn es zwischen dem kulturellen Ideal und der institutionellen Macht (Politik, Wirtschaft, Militär) eine Entsprechung gebe. Es ist also jene Männlichkeitsform, die mit gesellschaftlicher Machtposition verbunden ist.
  2. Unterordnung: Die wichtigste Unterordnung sei die Dominanz heterosexueller Männer und die Unterordnung homosexueller Männer. Die Unterordnung lässt sich in einer Reihe „handfester Praktiken“ aufzeigen: politischer und kultureller Ausschluss, staatlicher Gewalt, wirtschaftliche Diskriminierung, Boykottierung der Person etc. Zudem werde alles, was „die patriarchale Ideologie aus der hegemonialen Männlichkeit“ ausschließe, dem Schwulsein zugeordnet, wobei Schwulsein mit Weiblichkeit gleichgesetzt wird. An dieser Stelle ist es wichtig, festzuhalten, dass Unterordnung auch heterosexuelle Jungen und Männer trifft. Die „Ausgrenzung aus dem Kreis der Legitimierten“ geschehe mittels eines Vokabulars, das die „symbolische Nähe zum Weiblichen“ offenbare (Schwächling, Schlappschwanz, Feigling, Waschlappen etc.).
  3. Komplizenschaft: „Männlichkeit“ wie auch „Weiblichkeit“ teilt – wie alle normativen Definitionen – das Problem, dass die normativen Ansprüche nur wenige Männer erfüllen. Connell betont, dass trotzdem die überwiegende Mehrzahl der Männer von der „Vorherrschaft dieser Männlichkeitsform“ profitiere, weil sie an der „patriarchalen Dividende“ teilhaben (siehe Produktionsbeziehungen).
  4. Marginalisierung: Hiermit beschreibt Connell die Beziehungen zwischen „Männlichkeiten“ dominanter und untergeordneter Klassen und ethnischer Gruppierungen. Zwar könnten Schwarze Sportler Vorbild für hegemoniale Männlichkeit seien, doch strahle ihr Ruhm und Status nicht auf die anderen Schwarzen ab und verleihe Schwarzen Männer nicht generell „ein größeres Maß an Autorität“.

Toxische Männlichkeit

Dieser Begriff umfasst die regressiven sowie destruktiven Praktiken und Verhaltensmuster, die durch (physische) Stärke, Mangel an Emotionen/emotionale Distanz, Hyperkonkurrenzdenken, Dominanz, Aggression, Einschüchterung, Bedrohung, Gewalt, sexuelle Objektifizierung und Abwertung von Frauen bzw. „Weiblichkeit“ sowie Trans- und Homofeindlichkeit geprägt sind.

Das Adjektiv „toxisch“ verdeutlicht, dass das Verhalten potenziell gefährliche und tödliche Konsequenzen für einen selbst so wie für andere innehaben kann (Suizid bzw. Femizide stellen die Spitze des Eisbergs toxischer Männlichkeitsmuster dar).

Einige Männlichkeitsanforderungen sind mit Versprechen verbunden. Eines dieser Versprechen ist es, souverän zu sein. Souveränität ist dabei oftmals mit einem Überlegenheitsanspruch verbunden (siehe oben). Vorherrschende Männlichkeitsversprechen führen zu einem Anspruchsdenken. Kurz gesagt lautet es: Je „männlicher“ du bist, desto mehr Anspruch hast du auf Respekt, Macht, Jobs und Sex. Wird dieses Anspruchsdenken verneint, löst das oftmals Aggression und Wut aus. Eng verbunden ist auf weiblich gelesene Körper und Aufmerksamkeit (von Frauen). „Männlichkeit“ und toxische Männlichkeit ist somit nichts, was Männer sind, sondern was sie tun. Und hier sollte geschlechterreflektierend Pädagogik ansetzen.

Geschlechterreflektierende Pädagogik

Pädagogisch ist es sinnvoll, grundsätzlich auf eine Entlastung von Männlichkeits- und Weiblichkeitsanforderungen hinzuarbeiten

Einerseits können Widersprüchlichkeiten in Männlichkeitsanforderungen und -versprechen herausgearbeitet werden. Vielversprechende ist es, Jugendliche von ihren Erfahrungen erzählen zu lassen, verstehend mitzugehen und auf Widersprüchlichkeiten hinzuweisen sowie in weiterer Folge eigene Verstrickungen in der Herstellung von Über- und Unterordnungsverhältnissen zu beleuchten. Wenn Jugendliche merken, dass sie Männlichkeitsanforderungen nicht erreichen können oder sie ihnen zu gewalttätig sind, sie ihnen selbst nicht guttun, sie soziale Kontakte verlieren bzw. sie sich als Belastung (Konkurrenz, Dominanz etc.) gestalten, entstehen Brüche, die eine Abwendung ermöglichen.

Andererseits zielt sie darauf ab, möglichst allen Schülern individuelle und differenzierte geschlechtliche Identifikation anzubieten. Sie strebt eine sexuelle und geschlechtliche Vielfalt an, in der Schüler ohne Gefahr der Bedrohung ihre Identifikation entwickeln können. Die einzige Beschränkung ist, dass ihre eigene Identifikation nicht auf einer Diskriminierung anderer fußen darf.

Jonathan Herkommer ist Lehrer an einer BHS in Wien.

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Dienstag, 07.09. Konferenz: Die ersten Kolleg*innen brechen in Tränen aus. „Was ist eine CSV Datei? Wie sollen wir das machen? Was heißt umformatieren? Ich kann das nicht!“ Jahrzehnte der vernachlässigten digitalen Kompetenz brechen nun auf sie herein, wie eine Lawine, ein Erdbeben oder ein Tsunami. 

Ein neues Schuljahr, ein neuer Herbst, ein neues Chaos. Wie schon im letzten Jahr spüren wir Lehrer*innen, dass die Regierung im Sommer besseres zu tun hatte, als ein funktionierendes Sicherheitskonzept für die knapp eine Million Schüler*innen Österreichs zu erstellen – dürfen ja eh noch nicht wählen. 

Jetzt wird gespült. Zweimal wöchentlich über eine Plattform, die für wenige Nutzer*innen täglich konzipiert war. Das Anmelden ist eine Geduldsprobe, jede vierte Anfrage führt weiter. Mit etwas Glück. Dass unsere Schüler*innen mit 10 oder 12 Jahren selten ihre e-card mit sich führen, geschweige denn ihren Reisepass oder Personalausweis, dass viele von ihnen weder Mobiltelefon noch eine funktionierende Kamera haben, sind Nebensächlichkeiten. Dass wir von den Eltern mal die nur in Deutsch ausgesandten Einverständniserklärungen unterschrieben zurückbekommen – unser Problem. 

Dass wir im Unterricht nun montags und mittwochs mit drei Kolleg*innen gut 120 Minuten benötigen, die wir gerne auch mit dem Aufholen der verpassten 1,5 Jahre verbringen würden, um 25 Kindern beizubringen, wie man durch einen Pappstrohhalm in ein Reagenzglas spuckt – who cares? Längst sind wir keine Pädagog*innen mehr, die sich um die Zukunft des Landes kümmern sollten, sondern Betreuer*innen (Lockdown 2 und 3 für die Kinder, die zuhause nicht lernen können), Krankenschwestern (die sich gerne die Naseninhalte der Schüler*innen zu Gemüte führen, Antigentest in 2020/2021) und medizinisches Personal (PCR und Nasenbohrertest Schuljahr 2021/22). Im Vergleich zu den gut geschützten Testpersonen in Teststraßen und Apotheken stehen wir im Klassenzimmer auf engstem Raum mit quantitativ begrenzten Papierhandtüchern etwas erbärmlich aus. Aber was soll’s? Wat mutt, dat mutt! Sagt der Hamburger und wir glauben ihm. 

Der Effekt lässt nicht lange auf sich warten. Die meisten Klassenvorstände haben mittlerweile 10-15 ihrer Freizeitstunden geopfert, sieben Datensätze von 25 Kindern in ein ständig überlastetes System eingegeben (Name (keine Umlaute!!?), Vorname, Adresse (aber bitte ohne Bindestrich und Schrägstrich – doof nur, dass unsere Kinder alle 61-96/41/7 wohnen und die Namen aus Umlauten bestehen), Sozialversicherungsnummer (leider wurde hier für geflüchtete Kinder irgendwann der 13. Monat eingeführt, um von dem ständigen 01.01. wegzukommen und so sind die Sozialversicherungssnummern mancher unserer Kinder XXXX011309, welche aber im System nicht auszuwählen sind – noch hat das österreichische Bürokratiejahr keinen Monat 13, die Kinder sind aber klar stigmatisiert fürs Leben), E-Mail Adresse, aber bitte nicht die der Kinder unter 14 Jahren, doof nur, dass die Eltern oft keine haben…!, Postleitzahl, Ort, Geburtsdatum – bitte in Übereinstimmung mit der Sozialversicherungsnummer. Die Mails, die ich an den Support von Lead Horizon sende, kommen mit „unzustellbar“ zurück, die Dame, die ich irgendwann über die Hotline erreiche, bietet mir sehr freundlich an, dass ich ihr die Datensätze zusenden könne – was mich als Lehrerin aber den Job kosten könnte, da ich Kinderdaten nie weitergeben darf, und zum Geburtsdatumsproblem meint sie: Hm, das habe sie aber noch nie gehört, ich könne ja einfach eines erfinden…. Welcome to my reality – Mittelschule Wien. 

Fünf Schultage also, sechs positive Fälle, vier Klassen in Quarantäne – und die Schulen im Westen haben noch nicht mal angefangen. 

Wir testen also weiter. Mal mehr mal minder erfolgreich im Erreichen der Plattform. 

Code 428 Too many requests! Really? Womit habt ihr denn gerechnet? Wenn sich eine Million Schüler*innen, Lehrer*innen und weiteres Bildungspersonal, Schulwarte, Sekretär*innen, Psychagog*innen, Sozialarbeiter*innen gleichzeitig am Montag- und Mittwochmorgen testen lassen müssen…? Wir stehen also eine halbe Stunde früher auf, in der Hoffnung, dass um 5:00 Uhr morgens noch ein Slot für uns frei ist, in den Klassen dauert es weiterhin knapp zwei Stunden, die Boxen in der Schule werden um 8:45 Uhr geleert, weshalb wir um 10:00 Uhr zum BIPA um die Ecke hechten….

Und dann gibt es noch die umgeimpften Kolleg*innen, diejenigen, die beim ersten COV-19 Fall K1 sind und in Quarantäne müssen, während die Geimpften zur Belohnung in der Schule Stellung halten dürfen. Mit den 2-5 geimpften Kindern…

Wer sich dieses System ausgedacht hat, stand noch nie in einer Klasse. Wer hier zugestimmt hat, ist dem österreichischen Bildungsalltag so fern, wie ein Alm-Öhi einer Kreuzberger Späti-Cornersession. Wie ein Binnensegler einer Atlantiküberquerung. 

Ja, wir lernen derzeit in der Schule. Wir lernen, dass wir immer als Letzte drankommen. Dass sich niemand so richtig um die Kinder schert. Dass der Bildungsminister in seinem akademischen Elfenbeinturm jeglichen Bezug zur Realität verloren hat und wir das unseren Kindern erklären müssen. Und die Kinder lernen auch. Dass ihre Lehrer*innen komplett überfordert, überfragt und ausgelaugt sind. Dass die „von oben“ vorgegebenen Konzepte leider nur schwer bis gar nicht realisierbar sind. 

Was das mit ihnen macht? Das werden wir in ein paar Jahren sicherlich sehen. 

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.

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Willkommen, willkommen! Treten Sie ein!

Beim Betreten des hellen, lichtdurchfluteten Schulgebäudes begrüßt mich eine geräumige Aula mit einladenden Sitzflächen und viel Grün. Die Wände dokumentieren die unterschiedlichsten Projekte der Schüler*innen. Mit mir strömen mehrere Schüler*innen ins Gebäude. Die meisten Schüler*innen kämen eine halbe Stunde früher, erzählt jemand von der Schulleitung. Viele würden sich am Buffet ein kostenloses Frühstück holen, zum Lesen oder Social Media Update in die Bibliothek gehen bzw. sich mit ihren Freund*innen für eine Runde Tischtennis oder zum Austausch über den neuesten Gossip treffen. Mein wandernder Blick erheischt einige dieser gerade mitgeteilten Momente. Großzügige Aufenthaltsräume und -plätze mit verschiedenen Sitz- und Liegemöglichkeiten laden zum Verweilen, Arbeiten und Zusammensein ein.

Architektonisch orientiert sich das Gebäude nicht mehr an vielen, hermetisch abgeschlossenen, ehemals Klassenzimmer genannten Räumen. Vielmehr gibt es fachbezogene Räume. Diese sind mit den entsprechenden Utensilien ausgestattet und werden von den Schüler*innen aufgesucht, wenn sie sich mit dieser Thematik beschäftigen wollen. Dieselben weisen keine Reihe von Tischen und Stühlen auf, sondern sind mit Tischinseln und diversen Sitz- und Arbeitsmöglichkeiten ausgestattet. Je nach Bedarf gibt es so genug Platz für Einzel- bzw. Gruppenarbeiten. Wo gearbeitet wird, ist den Schüler*innen offen gelassen. Des Weiteren ist jeder der Räume mit dem höchsten Stand der Technik ausgestattet und verfügt über vielfältiges Arbeits- und Bastelmaterial, sodass keiner Gestaltungskreativität Einhalt geboten ist. Räume und Gebäude ohne PCs, Tablets und Beamer oder gar WLAN sind unvorstellbar.

Neben der Raumgestaltung hat sich auch der sogenannte Stundenplan verändert. Während der Vormittag überwiegend mit Lernsettings des Sach- und Fachunterrichts aufgebaut ist, schreiben sich die Schüler*innen nachmittags, nach einem gratis Mittagessen aus lokalen und biologisch angebauten Nahrungsmitteln, für Kurse ein. Diese können je nach Interesse sowie Neugier und für die Länge eines Semesters ausgewählt werden. Das Angebot reicht von vielfältigen Sportaktivitäten über Theater und Kunst bis hin zu Vertiefungskursen des Sach- und Fachunterrichts als auch Gartenbau und landwirtschaftlichen Kursen. Selbige sind nicht nach Geschlecht oder Alter getrennt und werden selbstredend von einem diversen Team organisiert und betreut. Dass viel zu lange andauernde in Reih und Glied sitzen und vorgekauten Stoff konsumieren ist passé. Heutzutage entscheiden die Kinder und Jugendlichen mit welchen Inhalten und mit welchen Schwerpunkten sie sich im Semester auseinandersetzen wollen. Diese Kurse lassen sich jedes Semester neu wählen. So können unterschiedlichste Eindrücke gewonnen werden. Gleichzeitig können bei Fortführung Vertiefungskurse belegt und so ein immer größeres Expert*innenwissen aufgebaut werden.

Der Schulort ist ein Ort der gelebten Demokratie. Die Leitung besteht aus einem gewählten Team, das sich die Aufgaben und Verantwortlichkeiten untereinander aufteilt. Unterstützt werden sie von einem personell ausreichend ausgestatteten Büro und Administration. Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen, die ausschließlich unserem Standort zugeteilt sind, ergänzen die psychosoziale Infrastruktur der Schule. Das Team stellt sich nach jeder Periode zur Wiederwahl. Schulinterne bewerben sich um Positionen innerhalb der Schule. Eltern und Schüler*innen haben eine jeweilige, gewählte Vertretung. Das Schulparlament trifft sich einmal im Monat zu Sitzungen und Abstimmungen zu Schulangelegenheiten. Da mittlerweile nur noch eine 25 Wochenstunde vorherrscht, Lehrer*innen mehrsprachig sind sowie Simultanüberstetzungen selbstverständlich sind, haben Eltern Zeit und Sprachbarrieren als Ausschlussmechanismus gehören der Vergangenheit an.

Kommen Sie näher und staunen Sie

Die Lernstation „Design your Life“ ist heute gut besucht. Über 20 Kinder und Jugendliche arbeiten altersübergreifend an ihrem persönlichen „Sinn“ des Lebens. Dazu haben die Lernbegleiter*innen verschiedenes Material und Modelle vorbereitet. Intensiv besucht ist auch der Exchange Room, der völlig selbstverständlich in mehreren Sprachen gleichzeitig stattfindet. Schüler*innen tauschen sich hier nach klassischen Regeln des radikalen Respektes miteinander aus, präsentieren Ideen und suchen Unterstützung und Feedback. Die mehrsprachigen Lernbegleiter*innen, die den Exchange Room moderieren, können selbst auch beitragen. Im Rahmen ihrer Ausbildung haben sie die üblichen Sprachstudien gemacht, sprechen mindestens zwei Fremdsprachen, wovon eine nicht europäischer Herkunft ist und kamen somit auch in den Genuss , eine völlig fremde Schrift zu erlernen. Im Rahmen ihres Auslandssemesters durften sie selbst im außereuropäischen Ausland leben, arbeiten und die Erfahrung machen, wie man sich in einer fremden Kultur, Schrift und Sprache zurechtfindet. Diese Erkenntnis ist obligatorisch, wenn man in Wien an einer Schule mit multiethnischer Schüler*innenschaft arbeiten möchte und hilft immens, sich in die Kinder und Jugendlichen, die ganz selbstverständlich altersübergreifend unterrichtet werden, hineinzuversetzen. Längst sind überall Videodolmetscher*innen implementiert, um die Zusammenarbeit mit den Eltern zu erleichtern und vor allem, um das Defizitgefühl der Eltern aufzufangen, wenn sie die deutsche Sprache nicht beherrschen. Schon lange verlangt man nicht mehr die deutsche Sprache von den Zugewanderten sondern sieht die multilinguale Kommunikation als eine große Bereicherung für diese schon immer mehrsprachig gewesene Stadt. Zu wichtig sind die Qualifikationen und Kompetenzen, die Menschen aus anderen Ländern in diese Stadt bringen, als dass man diese monate- und jahrelang mit ineffizienten Deutschkursen schikanieren muss. Da der Druck nun weg ist und „das Eintrittsticket in die Gesellschaft“ wegfällt, kommt die gemeinsame Sprache sowieso. Die Ghettoisierung hat sich durch die Gesamtschule weitestgehend aufgehoben, alle Kinder werden nun von gleich gut ausgebildeten Lehrkräften auf ihrem Lernweg begleitet und unterstützt.

Erfolgreich hat sich die Gewerkschaft dafür eingesetzt, dass alle Lehrer*innen, denen die neue Ausbildung noch nicht zu Teil wurde, alle 10 Jahre ein verpflichtendes Jahr in der Wirtschaft verbringen, um verschiedene Berufe kennenzulernen und ihren Schüler*innen besser und lebensnäher beim Berufseinstieg, beim Formulieren von Bewerbungen und bei der Berufswahl helfen können, weil sie selbst Spezialist*innen darin sind.

Teamteaching ist ebenso Teil der Ausbildung und über das reine Vermitteln von Unterrichtsstoff im Frontalformat lacht man heute, im Jahr 2049, oft noch herzlich in den gemeinsamen Lernbegleiter*innen- und Lerner*innenräumen bei einem selbstgezüchteten Kombucha. Fächer gibt es schon lange nicht mehr, ebenso wenig wie zeitlich durch eine Klingel begrenzte Stunden und Noten, um das Wirken der Kinder zu bewerten. Schulangst ist aus dem Duden gestrichen und die Bewerbung um den beliebten und gesellschaftlich geachteten Lehrberuf ist langwierig und komplex. Nur noch die Besten werden mit der Ausbildung der Menschen der Zukunft betraut und für ihren Einsatz entsprechend bezahlt. Dass Bildung einst vererbt wurde, kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Wir leben in einem Land, wir arbeiten in einer Stadt, die sinnvoll in Bildung investiert und entsprechende Ergebnisse dafür erhält.

Wagen Sie einen Blick in die Kristallkugel

Gleich neben dem Lernbüro meiner Kollegin sitze ich mit sieben Schüler*innen um einen Tisch. Ayse hat heute ein Zeugnis ihrer Großmutter mitgebracht. Weil Ayse lieber in ihrer Erstsprache türkisch kommuniziert, ist eine Kollegin an ihrer Seite, die bei Bedarf übersetzt. Eigentlich würden wir die Kollegin gar nicht brauchen, weil alle Schüler*innen und ich zurzeit gemeinsam Türkisch lernen. Aber, sie geht lieber auf Nummer sicher.

Das Zeitdokument Zeugnis liegt vor uns. „Damals gab es noch Noten“, erzählt Ayse.  „Noten? So wie in Musik?“, fragt Ella erstaunt. „Haben die dann das Zeugnis ihren Eltern vorgesungen?“, kichert Mansur. „Was wurde dann benotet? Und wie soll das gehen?“, staunt auch Elvetiano. Die Augen meiner Schüler*innen werden immer größer. „Meine Oma hat erzählt, dass sie meistens dann gute Noten bekommen hat, wenn sie still auf ihrem Platz gesessen ist, und schön geschrieben hat. Und dass sie, nachdem sie gelernt hat, immer alles gleich vergessen hat. Und dass vieles, was sie lernen musste, gar nichts mit ihrer Welt zu tun hatte.“ Ayse ist in ihrem Element. Sie ist sprachlich extrem begabt, und liebt es, wenn sie vor allen reden kann. Elena lacht mich an und sagt: „Würdest du mir also eine Eins geben, wenn ich das nächste Mal nichts verstanden habe, aber dafür mit meiner schönsten Schrift brilliere?“ Kluges Mädchen, denke ich mir. Sie ist graphisch eine der Besten. Mansur hat lange nichts gesagt, aber jetzt bringt er sich in die Diskussion ein. „Wozu oder warum gab es die Noten überhaupt?“ Ich versichere mich zuerst, ob nicht ein*e Schüler*in darauf antworten will. Das gehört auch zum Lernkonzept 2050. Expert*innen sind nicht wie selbstverständlich die Lehrer*innen, Vorrang haben die Schüler*innen. Nachdem keiner antworten möchte, erkläre ich den Begriff Leistungsgesellschaft. Diese hat längst ausgedient, zum Glück. Und als ich sage, dass in dieser Gesellschaftsform die Ansicht vorherrschte, dass es jede*r, der oder die wollte es schaffen würde, ein tolles Leben zu führen, unterbricht mich Mansur entrüstet. „Blödsinn. Das kann gar nicht gehen. Meine Großeltern haben immer gearbeitet, aber als sie dann in Pension gingen, waren sie arm. Sie hatten auch kein Geld, um zum Beispiel meinem Vater Nachhilfe zu bezahlen. Nachhilfe war so , dass du nach der Schule noch Privatunterricht bekommen hast. Weil die Schule es nicht geschafft hat, dir etwas beizubringen.“ 

„Aber, gab es in diesen Zeiten keine Lehrer*innen, die Noten und Leistungsgesellschaft kritisch betrachtet haben?“ „Und das haben sich alle gefallen lassen?“ „Und, war es wirklich so, dass viele Schüler*innen Angst hatten in die Schule zu gehen?“ Ich sehe, diese Einheit wird heute länger dauern. Immer mehr Fragen kommen auf. Viele, die ich nicht so leicht beantworten kann. Auch ich brauche eine Expertin oder einen Experten. Zum Glück sind Schulen im Jahr 2050 perfekt vernetzt. Eine Historikerin und Wirtschaftsfachfrau steht uns in einem Videochat Rede und Antwort. Nach drei Stunden, natürlich mit Pausen, verlassen die Schüler*innen das Lernbüro, nur Ella bleibt zurück. „Sag, wann hat dieses Umdenken eigentlich stattgefunden?“, will sie wissen. „Das war ein paar Jahre nach der Corona-Krise.“ „War das diese Pandemie? Können wir morgen darüber reden?“, fragt sie mich. „Gerne. Ich glaube meine Großmutter hat in der Zeit sehr viel darüber geschrieben“, antworte ich.  

Zurück zur Realität

Willkommen zurück im Jahr 2021. Die vergangenen 17 Monate haben uns alle viel Kraft gekostet. Aber sie haben uns deutlich wie nie zuvor die Mängel eines veralteten Bildungssystems aufgezeigt. Jetzt ist die Chance verkrustete Strukturen aufzubrechen, um diese Utopie wahr werden zu lassen. Fangen wir damit am besten morgen schon an. 

Maria Lodjn, Franziska Haberler und Jonathan Herkommer sind Lehrer*innen in Wien und im Redaktionsteam von Schulgschichtn.

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In den letzten Tagen ist medial ( z.B. hier, hier und hier) und in der Politik eine Debatte zu einer Reformierung des Staatsbürgerschaftsrechts entfacht. Die Fragen drehen sich vor allem darum, wie lange man sich rechtmäßig in Österreich aufhalten muss um die Staatsbürgerschaft zu bekommen, und ob hier geborene Kinder automatisch die Staatsbürgerschaft erlangen sollen, wenn zumindest ein Elternteil zum Zeitpunkt der Geburt mehrere Jahre rechtmäßig in Österreich wohnhaft war. 

Österreich ist im internationalen und im EU-Vergleich eines der Länder mit dem schwierigsten Zugang zur Staatsbürgerschaft (eine übersichtliche Darstellung dieser Thematik ist hier zu finden, sowie weitere Informationen hier). Unterschieden muss hier zwischen EU-Bürger*innen und Menschen aus Drittstaaten werden. EU-Bürger*innen können sich nach wenigen Jahren relativ einfach einbürgern lassen, tun dies aber selten, da es für sie kaum Vorteile bringen würde. Die Sache gestaltet sich für Menschen aus Drittstaaten, besonders Flüchtlinge, um einiges schwieriger: Sie kämpfen mit hohen finanziellen, zeitlichen und administrativen Hürden.

Demzufolge ist Österreich unter den Ländern mit den niedrigsten Einbürgerungsquoten in der EU. Das bedeutet, dass viele Menschen, die seit Jahren in Österreich leben, nicht denselben Rechtsanspruch wie ihre eingebürgerten Nachbar*innen haben, geschweige denn sich durch demokratische Prozesse wie zum Beispiel Wahlen am Miteinander und an der Gestaltung unseres Landes beteiligen können. 

Soweit die Theorie. Doch wie sieht die Situation in der Praxis aus? Wir möchten hier einen kleinen Einblick in eine bunt zusammengewürfelte Klasse einer Wiener Mittelschule geben.

Demokratiebewusstsein stärken

Politische Bildung ist eines der Unterrichtsprinzipien, soll also fächerübergreifend in den Unterricht einfließen. Man möchte meinen, das hier vor allem auch die Stärkung des Demokratiebewusstseins im Vordergrund stehen sollte – Wahlen und andere demokratische Prozesse sind die wichtigste Möglichkeit, als Bürger*in mitzugestalten und Entscheidungen zu beeinflussen. Doch wie vermittle ich die Wichtigkeit von demokratischen Prozessen, wenn die Hälfte der Schüler*innen auch mit Erreichen von 16 Jahren nicht wählen wird dürfen? Die meisten davon sind in Österreich geboren und aufgewachsen, haben hier das Schulsystem vom Kindergarten weg besucht und sprechen fließend Deutsch. Österreich ist ihr Zuhause. Aber auch jene, die nicht in Österreich geboren wurden, sind meist schon als kleine Kinder mit den Eltern ins Land gekommen, haben die Volksschule und Mittelschule besucht, die Sprache gelernt, Freunde gefunden und erträumen sich eine Zukunft in diesem Land. Sie haben Österreich zu ihrem Zuhause gemacht. Wählen werden beide Gruppen nicht können. Damit fehlt ihnen eine wertvolle Erfahrung im Leben eines Jugendlichen. Ich persönlich kann mich noch sehr an meine erste Wahl-Erfahrung erinnern: Ich war aufgeregt und nervös, ich fühlte mich erwachsen und als einen wichtigen Teil dieses Landes. Meine Meinung, meine Stimme, zählte. Die Meinung und Stimme vieler Jugendliche und junger Erwachsene in Österreich zählt nicht, wird nicht gehört. 

Was macht das mit den Jugendlichen? Sie merken, sie zählen nicht in diesem Land, sie dürfen nicht mitbestimmen, sie werden ausgegrenzt. Bei manchen trifft das Thema also auf Desinteresse: Es betrifft mich ja eh nicht, es geht nicht um mich. Andere beginnen, sich lieber mit dem Herkunftsland der Eltern zu identifizieren. Dort ist es wahrscheinlich besser. Wieder andere werden ärgerlich: Was kann ich dafür, dass meine Eltern aus einem anderen Land kommen? Ist meine Meinung deswegen weniger wert? Bin ich deswegen weniger wert? In Österreich ist die Antwort auf diese Frage leider nach wie vor: ja.

Ich bin ein Teil von Österreich!

Unsere Schüler*innen sind zwischen 14 und 15 Jahren alt und beenden in wenigen Tagen alle erfolgreich ihre Pflichtschulzeit. Nur ungefähr die Hälfte der Klasse wird bald wählen dürfen. Nach einer Diskussion über die aktuelle politische Debatte zum Thema Staatsbürgerschaft fassen viele ihre Meinung zum Thema zusammen: 

“Integration bedeutet für mich die Sprache zu lernen, mich ans Gesetz zu halten und eine Bildung zu bekommen. Wir alle hier tun das.”

Abbas*, tschetschenischer Staatsbürger, in Österreich seit 12 Jahren

“Ich hätte gerne die österreichische Staatsbürgerschaft, weil ich selbst eine Partei wählen will, die meine Interessen vertritt.” 

Farisa, tschetschenische Staatsbürgerin 

“Kinder, die in Österreich von österreichischen Eltern geboren werden, haben es besser.”

Aman, afghanischer Staatsbürger, seit 6 Jahren in Österreich

“Kinder, die in Österreich geboren sind, deren Eltern nicht aus Österreich sind, sollten als Österreicher angesehen werden, weil sie hier geboren sind.”
Stefan, österreichischer Staatsbürger

“Ich bin hier geboren und zu Hause. Es macht mich traurig, dass das offiziell nicht anerkannt wird.

Cemal, bosnischer Staatsbürger, in Wien geboren 

“Die österreichische Staatsbürgerschaft bedeutet für mich in Österreich normal leben zu können.“

Lisa, österreichische Staatsbürgerin 

“Kinder, die in Österreich geboren sind, sollten auch die österreichische Staatsbürgerschaft haben. Sie ist wie ein wichtiges Ticket, das man für viele Dinge im Leben braucht.” 

Edita, albanische Staatsbürgerin, in Wien geboren 

Wann beginnt Integration? 

Die Verleihung der Staatsbürgerschaft müsse an Leistung geknüpft sein und solle am Ende eines gelungenen Integrationsprozesses stehen, so die die Gegner*innen eines möglichen neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes. Für Menschen, die als Erwachsene nach Österreich kommen, scheint diese Forderung bis zu einem gewissen Grad einleuchtend und nachvollziehbar. Für in Österreich geborene und aufgewachsene Kinder ist sie eine Verhöhnung. Die Forderung beinhaltet, dass sie sich von Tag 0 an beweisen müssen, fortwährend eine Leistung für etwas erbringen müssen, das für die meisten anderen selbstverständlich ist: Das Recht, in ihrem Zuhause auch als gleichwertig*e Bürger*in anerkannt zu werden. 

Doch wie sieht denn nun dieser gelungene Integrationsprozess aus, von dem alle sprechen? Das gesamte Bildungssystem zu durchlaufen, Deutsch zu erlernen und trotz aller Widrigkeiten nicht aufzugeben, zählt für manche Politiker*innen noch nicht als Integration, die einen österreichischen Pass wert ist. Sicherheitshalber werden daher auch Kinder, die bereits ihre gesamte Schullaufbahn in Österreich durchlaufen haben, zu einem Wertekurs verdonnert. Die Konsequenz eines Nichtbesuchs ist die Streichung der Sozialleistungen für die ganze Familie. Ganz normal, dass sich 12-jährige damit herumschlagen müssen oder? Sie sollen schließlich etwas leisten. Darüber, dass man im Rückschluss annehmen könnte, dass die Schule eben diese integrationserforderlichen “österreichischen” Werte nicht vermittle, müssten wir einen eigenen Artikel schreiben. 

Wenn du es schaffen willst, musst du härter arbeiten als die anderen. Ja, das ist unfair, aber es ist nunmal so.” Diesen Satz haben bereits viele 10-jährige verinnerlicht und leben ihn. Sie strengen sich mehr an, geben immer ihr Bestes und bekommen am Ende wieder zu hören und zu spüren, dass es nicht reicht. 

In einem Punkt stimmen wir den Gegner*innen eines möglichen neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes zu: Geboren zu werden ist keine Leistung.  Nein, wo man geboren wird ist schlicht eine Frage des Glücks. 

*Namen von der Redaktion geändert.

Die Autor*innen sind Lehrerinnen an einer Mittelschule in Wien.

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Komm, heute spielen wir ein Spiel!

Wir wollen heute ein Spiel spielen. Nennen wir das Spiel: Mensch, wundere dich nicht. Vier Kinder habe ich mir dafür ausgesucht. Sie heißen Tanja, Fatih, Lisa und Kamran. Lisa bekommt von mir 10€, Fatih 5€, Tanja 2€ und Kamran 1€. Um dieses Spiel zu gewinnen, müssen die vier folgende Challenge bestehen: Mit diesem Betrag sollen alle exakt das Gleiche einkaufen gehen.  Sagen wir Milch, Butter, Brot, Wurst und Eistee. Nur wer es schafft, alles einzukaufen, kann das Spiel gewinnen.

Vermutlich werden sich Fatih und Tanja beschweren, dass dieses Spiel ungerecht ist. Kamran wird sich denken, dass er einfach zu doof ist, um mit einem Euro die Challenge zu meistern. Deshalb beschließt er, gar nichts zu sagen. Er nimmt den einen Euro und geht nach Hause. Nach Kamran werde ich nicht lange suchen. Er hat es nicht verstanden. Tanja und Fatih klopfe ich auf die Schulter und sage: „Wer will, der schafft es auch!

Alles nur eine Frage des Willens und des Fleißes

Den Tüchtigen gehört die Welt, hat zumindest meine Oma gesagt. Ganz erschlossen hat sich dieser Spruch mir nie. Immerhin gab es schon zu meinen Zeiten die Klassenkolleg*innen mit 10€ und jene mit 1€. Auch wir unterrichten Kinder und Jugendliche, die schon seit Jahren im Bildungssystem verharren, alle ausgestattet mit einem Rucksack, in dem sich ihr persönliches soziales Kapital befindet. So stehen in dem oben genannten Spiel Butter, Brot, Wurst, Milch und Eistee für Herkunft, Resilienz, „heile Kindheit“, Beziehungen, Kontakte und Leistungsvermögen. Zusammenfassend also die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die ein Mensch mitbringt. 

Sprechen wir über Butter. Die Herkunft, und wie sie sich in der Realität gestaltet. Hier am Beispiel der Corona-bedingten Quarantäne, die für viele unserer Kinder schon lange kein Spiel mehr ist.

Die eine und die andere Quarantäne

(Bericht einer Mutter und DaZ-Lehrerin)

Einer der Vorteile von Corona ist ja, dass die Kinder viel neues Vokabular lernen. Maske, K1, Quarantäne und Abstand sind nur einige davon. Wie unterschiedlich die Bedeutung dieser Worte jedoch in der Realität sind, ist kaum jemandem bewusst.

In der Klasse meiner Tochter war kürzlich ein positiver Corona-Fall. Das bedeutet 10 Tage Quarantäne. Zwei PCR Tests. „Sie dürfen nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen,“ stand auf dem Bescheid des Gesundheitsamtes. Gut, mein Mann ist Autofetischist, vier davon stehen vor meiner Haustür. Kein Problem, auch dass die Termine mitten am Tag sind, wenn normale Menschen arbeiten, ist hier in der Speckgürtelschicht kein Thema. Zur Not fährt die Oma, die um die Ecke wohnt. Das Kind war glücklich, endlich keine Schule, mehr Zeit am Hof bei ihren Pferden, da dort keine Menschen sind, gehörte dieser noch zu ihrem Wirkungskreis. Den Rest des Tages verbrachte sie, nach den Aufgaben, die sie selbstständig mit ihrem iPad und ihren Heften lösen konnte, auf dem Trampolin, im Garten oder in ihrem Zimmer. Sie hat zwei Geschwister mit denen sie spielen konnte. Wurde es ihr langweilig, schaute sie über Netflix ein paar Serien oder las ein Buch. Meine Tochter liebt Quarantäne.

Anders sieht es bei meiner Schülerin aus. Ich unterrichte an einer Mittelschule in Wien. Wir haben ausschließlich multilinguale Kinder und sozio-ökonomisch benachteiligte und oft diskriminierte Familien. Wie tief diese Diskriminierung geht, sieht man auch im alltäglichen Leben.

Dienstagnachmittag erreicht mich eine Teams-Nachricht: „Frau Lehrerin, bitte Sie müssen mir helfen! Bitte! Mein Vater und meine große Schwester sind positiv. Sie dürfen es niemandem sagen, denn“ :

[Dienstag 14:55] Tanja

Sie müssen mir helfen

[Dienstag 14:56] Tanja

Sie müssen mir eine Tabletten 💊 bringen das ich morgen Schule kommen kann sie haben gesagt ich kann dir helfen ich will nicht wieder in Quarantäne bleiben

[Dienstag 14:57] Tanja

Ich werde sterben wenn ich wieder in Quarantäne bin letztes mal war das gleiche ich will nicht wieder

Sie lebt mit ihren sechs Geschwistern auf 70 Quadratmetern. Sie haben drei Zimmer und waren in den letzten vier Monaten schon drei Mal in Quarantäne. Die Mutter arbeitet als Pflegerin, die Kinder gehen in sechs verschiedene Schulen.

Tanja kommt immer zur Betreuung in die Schule. Sie bleibt zu jedem freiwilligen Förderkurs. Sie schreibt nur gute Noten, obwohl sie erst seit kurzem Deutsch lernt. Als Lehrerin bricht mir hier das Herz. Als Mutter würde ich sie gerne zu mir nach Hause holen.

Trotz Fleiß kein Hauptpreis – zurück zur Butter!

Noch ist Tanja sehr fleißig und bemüht, um es in Lehrer*innen-Sprache auszudrücken. Es ist aber zu befürchten, dass auch sie eines Tages bemerken wird, dass ihr das nicht viel weiterhelfen wird im Leben. Denn Tanja ist nicht doof. Sie sieht wie sich ihre Eltern abrackern, wie sie versuchen eine neue, größere Wohnung zu bekommen. Sie spürt den rauen Wind, der ihr und ihren Eltern entgegenweht, weil sie keine autochthonen Österreicher*innen sind. Weil sie aus einem Land geflohen sind, deren Einwohner*innen hier wenig Ansehen haben. Weil sie die „falsche Religion“ haben. Tanja wird auch mit viel Fleiß keinen Preis bekommen. Außer, sie hat Glück und findet Menschen, die tatsächlich an sie glauben. Aber ein Bildungssystem auf dem Faktor Glück aufzubauen ist blauäugig und zerstört wichtiges Potential.

Und das andere Mädchen?  Bei ihr wird es vermutlich egal sein, ob sie fleißig oder bemüht ist. Aus ihr wird sicher etwas. Denn auf sie ist das System Schule perfekt zugeschnitten.

Der Teufel sch…t immer auf den größten Haufen

Wie eingangs erwähnt, besuchen unsere Schule 98% nicht-autochthone Österreicher*innen. Unser Lehrkörper ist äußerst innovativ was Aufgabenstellungen, Kommunikation mit den Eltern, hohe Fluktuation der Klassen und Beschäftigungen draußen ohne Schulhof angeht. Auch im Krisenmanagement und im Umgang mit Konflikten sind wir ziemlich gut. An unserer Schule arbeiten Psychagog*innen, Jugendchoaches, Autismusspezialist*innen und Sozialarbeiter*innen Hand in Hand. Unsere Schule ist sauber, die Wände unbeschmiert, die Toiletten funktional und hygienisch. Kunstwerke zieren den winzigen Außenbereich, wir bieten gratis Freizeitprogramme an und Theaterkurse. Wir haben uns um den Innovationspreis des BMBWF beworben – ebenso wie 191 andere Schule österreichweit. Kürzlich kam die Mail für die engere Auswahl. Wir sind nicht dabei. Wohl aber eine bilinguale Schule in einem anderen Bundesland, welche mein Sohn besucht. Die Schule ist ein grauer Betonklotz, vor dem Schultor eine jahrelange Baustelle. Externe glauben, das Gebäude sei möglicherweise ein Gefängnis gewesen, so einladend sieht es aus. Die Schule betreut gut 800 Schüler*innen, die Eltern zahlen über hundert Euro pro Semester als Beitrag für den Förderverein. Die Eltern kommen zum größten Teil aus sehr wohlhabenden Familien, ein Klassenausflug, Paddeln, Klettern, kostet gerne mal 30€. Mehrmals pro Schuljahr. Extra.

Die Toiletten hier sind mit Graffiti verziert, der Betonbau gleicht einem Gefängnis. Materielles an sich ist hier kein Wert, sondern eine Selbstverständlichkeit.

Der Preis der Innovationsstiftung ist mit 50.000€ dotiert, oder fünf Mal 10.000€ für die weiteren Sieger*innen. Das Geld hätten wir gut gebrauchten können, denn da unsere Eltern leider gar kein Geld übrig haben, gibt es bei uns nicht mal mehr einen Förderverein.

Wie sagt mein Vater immer, der selber 40 Jahre als Lehrer arbeitete: Der Teufel sch*** immer auf den größten Haufen – und anscheinend trifft dieses nirgendwo so sehr zu, wie im österreichischen Bildungssystem.

Die Spielregeln

Lisa hat das Spiel gewonnen. Wurst und Butter sind aus Bioanbau und das Brot hat die Hausfrau und Mutter mal eben schnell selbst gebacken, damit das Geld reicht. Fatih sitzt leider im Knast, weil er versucht hat Milch, Brot, Butter und Wurst zu klauen, den Eistee hat er für das Geld bekommen. Tanja verhandelt immer noch mit den Angestellten des Supermarkts und Kamran arbeitet heute als Leiharbeiter auf einer Baustelle, wenn sein Chef einen billigen Arbeiter braucht. Er klagt nicht, schließlich ist er selbst schuld.

Auch die Eltern derjenigen Kinder, die kürzlich in der Volksschule meiner Tochter eine brennende Mülltonne in den Keller bugsierten, klagen nicht. Sie sind gut versichert und haben teure Anwälte. Die Kinder waren 9 und 10 Jahre alt. Ihnen war langweilig, sagt man. Man müsse Verständnis haben, glaubt man.

Wären es unsere Schüler*innen gewesen, die Boulevardpresse hätte sich überschlagen.

So geht das Spiel des Lebens. Alle kennen die Regeln, niemand tut etwas dagegen. Ist doch eh gerecht, wenn Bildung, Wohlstand und Zukunft vererbt werden. Oder?

Die Autorinnen sind Lehrerinnen an einer Mittelschule in Wien.