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Ein Bericht zur Realität in der Mittelschule

Es ist vollkommen verständlich, dass, will man in Österreich leben, sich auch in Deutsch verständigen muss. Logisch. Die Landessprache ist Deutsch und die muss man beherrschen können – in Wort und Schrift. Ach, und der schöne, weiche Akzent im österreichischen Deutsch macht die Sprache nur noch angenehmer.

Dafür nimmt ein zugewanderter, elfjähriger Schüler sogar in Kauf, erstmal nicht in eine Klasse zu kommen, die seinen Vorkenntnissen und seinem Alter entspricht. Die Familie denkt sich: Ach geh! Er wird es schon schaffen. Bald hat er Schulfreunde, alle sprechen Deutsch untereinander und in den Fächern, in denen er in seinem Heimatland gut ist, wird er auch glänzen.

Die Traumgedanken wurden alle über den Haufen geworfen. Aber nicht nur durch die Pandemie, sondern auch durch eine Lernsystematik der deutschen Sprache, die einem Spießrutenlaufen gleicht, wobei das Ziel MIKA heißt.

Anfang 2020 zogen meine Enkelkinder (6 und 11) nach Wien und mein Enkel wurde in die 5. Klasse eingestuft – entspricht der 1. Klasse Mittelschule. In seinem Heimatland hatte er die 5. Klasse mit sehr guten Noten schon abgeschlossen. Er war ein gesprächiger, lustiger und guter Schüler. Er hatte sich – also nicht nur er, sondern wir auch – schon vorgestellt, wie Mathe und Erdkunde und Geschichte in Deutsch sein würden. Und, dass er bald Physik lernen würde.

Von wegen! Nach dem Deutschunterricht durfte er zum „normalen“ Unterricht rübergehen. Alle von der Deutschförderklasse. Er verstand diesen oder jenen Teil des Unterrichts (nicht zu vergessen, er hatte die 5. Klasse ja schon gemacht), aber es schien normal zu sein, dass die Deutschförderklasse nur geduldet wurde, denn keine/keiner bekam ein einziges Mal ein Übungsblatt, als dieses ausgeteilt wurde. Soll das Integration heißen? Als Schüler*in der Deutschförderklasse wird man nicht in den normalen Unterricht integriert. Man ist dabei und zählt doch nicht als Mitglied. Dabei wäre das so wichtig, die Übungen mitzumachen!

Und die Kommunikation?

Na, wie war dein Tag heute?“ Gemurmel war die Antwort.

Erzähl doch mal! Was habt ihr heute gelernt? Und deine Schulkolleg*innen? Sprecht ihr ein bisschen Deutsch untereinander?

Die lakonische Antwort: „Nein!“ „Ja, warum denn? Hast du keine Klassenkolleg*innen? Sitzt du alleine da? Kinder reden doch immer miteinander. Und du magst doch so zu sprechen.

Ich kann aber kein Türkisch, kein Arabisch, kein Hindi, kein Rumänisch, kein Bulgarisch und kein Kroatisch. Und keiner kann Portugiesisch!

Ok, dafür seid ihr ja in der Deutschförderklasse. Alle lernen Deutsch zusammen.

Du verstehst nicht Oma, sie bilden Gruppen und sprechen untereinander in ihren Landessprachen, ich spreche Englisch mit dem einen und dem anderen.

Na, das wird ja heiter!“, dachte ich mir.

Das System der Deutschförderklassen ist so auf das Deutschlernen fokussiert, dass es einen wichtigen Teil des Erlernens einer Sprache vergisst – nämlich den Gesellschaftskontext.

Man erlernt keine Sprache um mit sich selber oder mit der Wand zu sprechen. Man erlernt eine neue Sprache, um zu kommunizieren. Zur Kommunikation muss ein Wille da sein, der durch eine Notwendigkeit ausgelöst wird. Diese Notwendigkeit entsteht, wenn man etwas erklärt, wenn man etwas haben möchte, wenn man etwas erzählt oder wenn man verstehen möchte, usw. Diese Situationen finden nur statt, wenn man in einer Gruppe integriert ist. Gedankenaustausch mit der Wand funktioniert vielleicht bei Eigenbrötlern, aber nicht bei Kindern. Sie brauchen Gesellschaft.

Plötzlich war aber das nur eines der Probleme. Es kam ein größeres dazu. Die Pandemie wurde ausgerufen und alle mussten zuhause bleiben. Meine Tochter war mit meiner kleinen Enkelin beschäftigt, die auch einen Berg von Übungsblättern zu bewältigen hatte, und die noch nicht richtig lesen und schreiben konnte. So ging der Hilferuf über den Ozean an die Oma.

Es ist frühmorgens, irgendwann Ende April. In Brasilien 5.15 Uhr, in Wien 10.15. Ich habe es geschafft, mich pünktlich an den Computer zu setzen (nicht immer ging das so schnell). Seit drei Wochen helfe ich meinem Enkel sich in den Übungsblättern zurechtzufinden. Schwere Entscheidungen muss er verstehen und treffen: der-das-die? Den oder dem? Er hatte eine Mappe bekommen, in der wahllos Übungsblätter für den normalen Deutschunterricht reingelegt waren. Zuerst habe ich mal diese organisiert, von einfach zu schwer, vom Nominativ zum Dativ, usw. Das letzte Blatt waren Übungen zum Relativpronomen. Es hat lange gebraucht, bis wir dieses Blatt anfingen.

Ich verstehe, dass alle Lehrkräfte plötzlich vor unerwarteten Herausforderungen standen. Es gab keinen Plan für die Deutschförderklassen. Die Übungsblätter von der ersten Mappe waren der damals aktuelle Grammatikstoff der 5. Klasse. Aber die Erklärungen dazu? Woher und wie sollten die Schüler*innen wissen, wie die Übungen zu machen wären? Das Warum-Wieso-Weshalb fehlte. Was machten diejenigen, die keine*n Privatlehrer*in zuhause hatten?

Fotos von den Übungsblättern wurden geschickt, ich suchte im Internet nach, um sie für mich runterzuladen. Bis auf ganz wenige, fand ich alle. Whatsapp und der Computer liefen auf Hochtouren, bis das Handy heiß wurde. Aber am Schluss waren wir beide stolz, dass der Präsens schon mal richtig konjugiert worden war.

Es folgten noch zwei weitere Mappen mit Übungsblättern, auch aus dem Internet. Diese aber waren logischer aufgebaut, was sehr geholfen hat.

Doch ohne die Sprachkenntnisse umsetzen zu können, war das negative MIKA-Resultat vorauszusehen. Nochmals Deutschförderklasse im zweiten Halbjahr. Doch vorher kam das Sommer-Camp. Mein Enkel war so glücklich, dass er endlich Gleichaltrige treffen und normalen Unterricht in Deutsch geben würde! In diesen zwei kurzen Wochen hat er sein Selbstbewusstsein stärken können, denn er durfte seine Vorkenntnisse zeigen, Erfahrungen teilen, hat Freundschaften geschlossen und wurde wieder gesprächig, auch in Deutsch.

Im zweiten Halbjahr lief der ganze Schulunterricht online. Täglich drei bis vier Stunden. Eine Meisterleistung der Lehrkräfte. Dadurch bildeten sich keine Gruppen, alle saßen im gleichen Boot, alias vor dem Computer, es durfte nur Deutsch gesprochen werden und mit dem Verstehen und Kommunizieren verlief das Deutschlernen leichter. Mein Enkel bewältigt seine Aufgaben schon lange alleine.

Der zweite Anlauf auf den MIKA-Test steht auf dem Programm. Mittlerweile ist mein Enkel zwölf geworden. Und wenn er es nicht schafft, muss er in der Deutschförderklasse noch ein Semester bleiben? Und wenn er es schafft, muss er die ganze 1. Klasse Mittelschule wiederholen? Also nochmal die 5. Klasse? Dann ist er mit vierzehn in der 2. Klasse Mittelschule, wo das normale Schulalter zwölf ist. Erst mit zwanzig bekommt er seinen Abschluss? Was nützt es dann überhaupt Deutsch zu büffeln, wenn er vom Regen in die Traufe und nicht vorwärts kommt? Warum gibt es keine Zwischenlösung für diejenigen aus den Deutschförderklassen, und MIKA-Testler mit positiven Ergebnissen, sodass diese Schüler*innen am Ende eines Schuljahres eine Prüfung ablegen, die es ihnen ermöglicht, den Sprung in die nächste höhere Klasse zu wagen? Für Mathe, Chemie und Physik braucht man nicht viele Deutschkenntnisse, für Musik, Zeichnen, Malen, Werken und Sport auch nicht. Aber man lernt etwas sehr wichtiges: Freundschaften aufbauen, Gruppenarbeit, anderen helfen, von seinen Erfahrungen erzählen können, Gedanken austauschen. Die Texte über die Römer könnten auch im Parallel-Deutschunterricht bearbeitet werden und so das Verstehen der Grammatik erleichtern. Wie interessant kann doch ein Erdkundeunterricht gestaltet werden, wenn man den halben Globus bei sich in der Klasse sitzen hat?

Aber, das Gefühl „des-doch-nicht-dazu-Gehören“ haftet während der ganzen Zeit, in der Deutsch gefördert wird. Es gibt keine plausible Erklärung dafür, dass Deutsch so gelehrt werden muss, außer des sturen Pragmatismus. Warum wird Grammatik nicht erklärt sondern gepaukt und auswendig gelernt, wie anno dazumal? Listen und Listen. Viele waren von Webseiten, die eher Deutsch für den Erwachsenenunterricht lehrten.

Hut ab. Den Schüler*innen von Deutschförderklassen meinen großen Respekt. Diese Kinder müssen eine große Disziplin haben, die viele Erwachsene nicht besitzen. Sie müssen nur Hürden bewältigen. Eine nach der anderen. Es geht gar nicht um Integration. Im Grunde spielt diese keine Rolle mehr. Man muss Deutsch richtig sprechen, dann muss man den MIKA-Test schaffen und erst dann geht man in das normale Leben wieder zurück, sprich in den echten Unterricht. Erst dann existiert man! Aber ein normaler Unterricht ist das nicht, wenn man nicht unter Gleichaltrigen sitzt. Der Unterschied in der Auffassungsgabe von zehnjährigen zu elfjährigen ist groß und wird noch größer zu vierzehnjährigen.

Es wird von Kindern erwartet, dass sie sich grammatikalisch richtig ausdrücken und nicht, dass sie sich aufgenommen fühlen, dass sie kommunizieren, dass sie sich integrieren. Eine soziale Parallelklasse wird aufgebaut, für die die Chancen zum Arbeitsmarkt oder zum Zugang auf die Uni schon so früh erschwert werden.

Die Autorin lebt in Brasilien und ist Großmutter von zwei Kindern, die in Wien eine Mittelschule besuchen.

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Sie haben sich in einer anderen Schule beworben, obwohl Sie bei uns unterrichten? Waren wir für Sie also nur eine Zwischenschule?“ „Ist das, was wir lernen für Sie zu kindisch?“  „Verdienen Sie dort mehr?

Meine Schüler*innen sprechen aus, was ich mir denke. Wieder eine Kollegin, die uns verlässt, weil sie spontan eine Stelle an der AHS bekommen hat. Freudenstrahlend erzählt diese Kollegin es den Kindern am 23. Dezember. „Wisst ihr, dafür hab ich ja studiert. Natürlich schaut man sich dann auch während des Schuljahres um.“ 

Ahja. Danke. Wir, also meine Schulleiterin und ich als ihre Stellvertreterin, haben am 21. Dezember davon erfahren. Auf drei angenehme Tage vor Weihnachten waren wir eingestellt. Noch ein paar nette Stunden, die dieses verrückte Jahr ausklingen lassen. Eine spontane Stellenausschreibung ist es geworden. Sechs Bewerber*innen, fünf davon mit der absolut falschen Ausbildung. Bewerbungsgespräch am 23. Dezember. Inklusive der Absage dieses Bewerbers am gleichen Tag – er habe schon eine andere Stelle. Gut. Wir starten also im Jänner mit Supplieren im Distance-Learning. 

Aber die Kollegin ist glücklich! Sie fährt ab jetzt lieber eine Stunde mit dem Auto in eine Richtung, um in der AHS zu arbeiten, als in der eigenen Stadt in der Mittelschule. 

Wir bleiben zurück an unserer Mittelschule. Wir anderen Kolleg*innen, die in dieser Schule mit Leidenschaft unterrichten. Die viel Energie und Liebe in unsere Arbeit stecken. 

Und die Kinder bleiben zurück, weil es die zweite Lehrerin in zwei Jahren ist, die genau diese Entscheidung getroffen hat. Die Kinder, die es verdient haben, eine stabile Lehrperson in einem Hauptfach zu haben. 

Uns wird so oft suggeriert, dass wir ja „nur eine Mittelschule“, also „weniger wert“ sind. Manche Kinder kommen zu uns und sagen, sie seien zu dumm fürs Gymnasium, deshalb seien sie bei uns. Das wird den Kindern in der Stadt beigebracht. Es dauert Monate ihr Selbstbewusstsein aufzubauen. 

Wenn ich sage, ich arbeite an einer Mittelschule, und dann sogar noch als Sonderschullehrerin, bekomme ich mitleidige Blicke und die Aussage „Puh, das könnte ich nicht.“ 

Heuer hatte ich ein Online-Kennenlernen mit interessierten Eltern. Der dritte Sohn soll bitte zu uns kommen. Die anderen Kinder gehen ins beste Gym der Stadt. Der dritte Sohn wird dem Druck dort nicht standhalten. Die Noten passen nicht. Die Eltern bitten mich darum, ihnen das System der Mittelschule zu erklären, sie wissen eigentlich nichts davon. Warum auch, den Eltern wird in vielen Volksschulen vermittelt, dass, überspitzt formuliert, nur aus den Kindern, die ins Gymnasium gehen, etwas werden kann. 

Manchmal frage ich mich wirklich wie man dieses System durchbrechen kann. Ganz sicher nicht, indem das Fenster für die Ausschreibungen der Bundesschulen zwei Wochen vor dem Fenster der Allgemeinen Pflichtschulen ist. Ist es also auch da so. Die Kolleg*innen dürfen sich zuerst bei den AHSen bewerben, und wer dann „übrig bleibt“, der muss sich halt dann wohl oder übel für die Mittelschule aufopfern. 

Und wir, uns werden dann diese frohen Weihnachten mit Vorstellungsgesprächen und Rechtfertigungen vor den Eltern, warum schon wieder eine neue Lehrerin in diesem Fach kommt, beschert. 

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in der Steiermark.

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Vor geschlossener Türe

Es ist acht Uhr. Meine Kollegin und ich haben vor der Schule Aufsicht gehalten, auch um die geforderten Abstandsregeln zu kontrollieren – Covid ist überall, unsere neuen Aufgaben nie-endend. Wir gehen in den ersten Stock und stellen zum xten Mal fest, dass genau ein Klassenraum nicht aufgesperrt wurde. Ganz ohne Abstand stehen die Schüler*innen in einer Traube vor der Türe. Schulintern scheint diese 11köpfige Klasse nicht zu existieren. Den Eindruck hatte ich schon 15 Minuten davor, als ich die Obstkiste der Deutschförderklasse vom Schulwart abholen wollte. „Nein, die bekommen die nicht. Die haben ja das Obst in der Stammklasse“, erklärt mir der Schulwart.

Es gibt kein Klassenbuch, kein MS-Teams, keine Aufsicht, keine Zeugnisse. Kein einhaltbares Curriculum, da weder beständige Schüler*innenzahlen noch zeitliche Planbarkeit und vor allem wenig Zukunftsaussichten.

Nicht-Klasse

In der Deutschförderklasse verbringen die Schüler*innen derzeit 20 Unterrichtstunden miteinander. Abgeschottet und so ein bisschen weggesperrt vom schulischen Alltag und Miteinander, lernen sie hier gemeinsam die Unterrichtssprache. Sie kommen aus der Ukraine, aus Syrien, aus Rumänien, aus der Türkei, aus Bulgarien, aus Ghana, aus Ungarn und aus Tschechien und sind zwischen 10 und 15 Jahren alt. Trotz der Altersunterschiede haben sich in den letzten Monaten Freundschaften in dieser Klasse entwickelt. Aber eigentlich sind sie ja keine Klasse. Sie sind eine Nicht-Klasse. Ein Restpool von Übriggebliebenen, von unzureichenden Kindern. So ihre Beurteilung nach der MIKA-D Testung (Messinstrument zur Kompetenzanalyse-Deutsch). Eine vorübergehende Angelegenheit, die möglichst schnell durchlaufen werden sollte. Und dennoch nach zwei Jahren beendet sein muss. Unabhängig von ihren Sprachkompetenzen, ihren potentiellen Traumata, ihren emotionalen Befindlichkeiten. Wie und warum diese Kinder ihr Heimatland verlassen mussten, ist hier irrelevant. Funktionieren sollen sie. Ausreichend werden.

20 Stunden Deutsch pro Woche. Offiziell sind keine Ausflüge, kein Sport, kein Werken vorgesehen. Heißt ja auch DEUTSCHförderklasse und nicht Beihilfe zum Wohlfühlen in der neuen Lebensrealität oder so ähnlich.

Deutschförderklassen

Diejenigen Klassen, die keine Schüler*innenobergrenze haben. Die sich täglich ändern können, neue Schüler*innen kommen, alte werden „herausgetestet“. Die absurdeste Wortschöpfung übrigens seit „entfreunden“. Und doch ähnlich. Erst eine Gemeinschaft, ein Zusammen-, ein Füreianderdasein. Dann wird einer oder eine zu gut. Zur Strafe muss er oder sie in seine Stammklasse, die er/sie in nicht-Corona Zeiten 9 Stunden pro Woche besucht. Der „Stamm“ ist hier sehr euphemistisch zu interpretieren. Als Außenseiter haben sie meist weder Platz noch Bücher und schon gar keine Freunde oder Verbündete. 

Die Stammklasse

Die Stammklasse ist jene Klasse, die den Schüler*innen altersmäßig zugeteilt wird. Oft haben die Schüler*innen einen Platz in der letzten Reihe, weil sie ja ohnehin nie oder selten in der Klasse sind. Der Zugang zum Tagesgeschehen fehlt ihnen. Wurde etwas ins Mitteilungsheft eingetragen? Entfällt eine Stunde? Steht ein Lehrausgang am Plan?

Wenn sie Pech haben, erklärt die Lehrerin/der Lehrer noch vor der versammelten Klasse, dass sie oder er eh nichts verstehen würden. Damit erhalten quasi die Klassenkolleg*innen die Legitimation sich nicht um den oder die Schüler*in kümmern zu müssen. Irgendwie werden also die neun Stunden in der Klasse abgesessen. Es gibt sie, die Schüler*innen, die trotz dieser Umstände in der Klasse Anschluss finden. Den meisten wird aber unterstellt, dass sie keine Lust haben sich zu integrieren. Dass sie abblocken, nichts lernen wollen. Klar, sie blocken ab, aber schließlich wurden sie auch nicht gefragt, ob sie nach Österreich wollten oder nicht.

MIKA-D Testung einfach erklärt

Einmal pro Semester muss von „qualifiziertem Personal“ eine Sprachstandserhebung durchgeführt werden. Die Qualifikation erfolgt über ein online Seminar – gesprochen in einfacher Sprache. Dieses Messinstrument deckt angeblich verschiedene linguistische Bereiche zu Wortschatz, Sprachverständnis und Sprachproduktion ab. Auf diese Weise wird festgestellt, ob Schüler*innen ausreichende Kenntnisse  in der Unterrichtssprache Deutsch erworben haben, um dem Unterricht folgen zu können.

Die Testung für den Bereich Mittelschule ist seit Sommersemester 2020 sowohl schriftlich als auch mündlich. Es gibt drei erstrebenswerte Beurteilungen:  ausreichend, mangelhaft und ungenügend.

Ausreichend bedeutet, dass der/die Schüler*in mit der Stammklasse in die nächste Schulstufe aufsteigen kann.

Ungenügend bedeutet, dass der/die Schüler*in in der Deutschförderklasse verbleibt, und im nächsten Schuljahr die Klasse wiederholen muss. Also wieder 20 Stunden Deutschkurs die Woche, wieder nur neun Stunden in der neuen Stammklasse und wieder versäumt er oder sie das meiste vom Unterricht.

Mangelhaft bedeutet in dem Covid-Schuljahr 2019/20, dass der/die Schüler*in nicht mehr in die Deutschförderklasse gehen muss, aber die Schulstufe wiederholen muss. Die Motivation, dieses Prädikat zu erreichen ist besonders hoch. Theoretisch bekämen diese Kinder dann zusätzliche sechs Deutschförderstunden, die aus Personalgründen meist nicht realisiert werden können. Zumindest nicht, wenn die Anzhal der Schüler*innen unter acht beträgt.

Der ausreichende – und somit ORDENTLICHE! Status – kann nicht erreicht werden, wenn das Kind statt „Dann geht der Bub weg!“ sagt „Dann der Bub geht weg!“. Für alle Muttersprachler ist die Bedeutung in beiden Sätzen gleich, nicht jedoch vor dem Gott der Klausel. Und dieser entscheidet über vieler Kinder Zukunft.

MIKA-Testung  – die Realität

Uns allen ist klar, dass kaum wer diesen Test bestehen wird, obwohl wir seit der Wiedereröffnung der Schulen nach Corona unwahrscheinlich viel üben. Die zehn Wochen des Lockdowns fehlen gerade diesen Kindern und Jugendlichen besonders. Sie waren zuhause und haben in ihrer Muttersprache kommuniziert, weil ihre Eltern meistens nicht länger als sie selbst in Österreich leben und oft den ganzen Tag in systemrelevanten Berufen arbeiten. Zwar wurde von offizieller Seite immer um Milde bei der Notenvergabe ersucht, bei den Deutschförderklassen muss aber strenger beurteilt werden als zuvor. Dass viele Kinder nach den Testergebnissen in stille Tränen ausbrechen, wird vom Ministerium nicht gesehen.

Unsere Schüler*innen schaffen das mit der Inversion gar nicht so schlecht, aber in der Prüfungssituation geht dann gar nichts mehr. Der Druck ist groß. Schließlich wollen alle in eine „normale“, eine „echte, richtige, ordentliche“ Klasse mit Noten und so gehen. Vor allem aber wollen sie nicht 6 oder 7 Jahre in der Sekundarstufe 1 verbringen. Hier geht es um Zeit, um wahre Lebenszeit.

Doch schaffen sie die Prüfung, gibt es meist noch den einen oder anderen Kollegen, der sie mit saftigen „Fleck“ am Aufsteigen hindert. „Der versteht ja nicht mal „Haube“! Das kann nichts werden!“, lautet die eher fragwürdige Argumentation.

Von elf Schüler*innen haben nur zwei ein Mangelhaft „geschafft“. Und die sind jetzt schwer enttäuscht, dass sie die Klasse wiederholen müssen.

Nach zwei Jahren?

Ja, man sagt, Kinder lernen schneller und mehr Deutsch, wenn sie in einer mehrheitlich-deutsch-sprechenden Klasse sind.  Sie lernen auch im Unterricht mit den anderen mit, haben alle Gegenstände und sind deutlich besser in der Klasse integriert.

Nach zwei Jahren müssen sie eh, müssen sie ohnehin in eine Stammklasse. Egal, ob nun der Test mit mangelhaft oder sonstwas beurteilt wird. Dann bekommen sie Noten, ob sie sprechen und schreiben können oder nicht. Das definiert in etwa das Sprachniveau der Stammklasse.

Sinnhaftigkeit?

Sinnvoll? Naja – wird im Bildungssystem nach Sinn und Sinnhaftigkeit gefragt? Nach Machbarkeit und Effizienz? Geh! Ich bitte Dich! Wir sind schließlich nicht in der Privatwirtschaft. Evaluation ist Luxus und Messbarkeit wird Pi mal Daumen bestimmt.

Willkommen in der Realität der Mittelschule.

Die Autorinnen sind Lehrerinnen an einer Mittelschule in Wien.

Lesezeit: 3 Minuten

Aus gegebenen Anlass findet die Konferenz im Festsaal statt. Die Stühle stehen im Abstand von mindestens einem Meter. Zögernd nehmen wir die Masken ab. Dürfen wir das denn? Ja, wir dürfen, sagt die Schulleiterin.

Ich gucke aus dem Fenster. Der graue, regenverhangene Himmel hat sich allem Anschein nach meiner Stimmung angepasst. Die in den Gängen angebrachten Hinweisschilder über die neuen Regeln der Zusammenarbeit wirken nach. Alles bestimmt und exakt durchgeplant. Die Benützung des Eingangstors, einzeln eintreten, Hände desinfizieren, zügig in das jeweilige Stockwerk gehen, Schuhe vor der Klasse ausziehen und zu dem Platz gehen, den die Lehrer*innen für die Schüler*innen vorgesehen haben. Aufstehen ist nur mir ausdrücklicher Erlaubnis der Lehrer*innen erlaubt. Der Aufenthalt in den Gängen ist nur mit Maske erlaubt.

Wer sich nicht an die Regeln hält, wird für diesen Tag vom Unterricht ausgeschlossen.

Die Schule vor Corona fällt mir ein. Alles lebte und pulsierte. Es wurde umarmt, die Köpfe wurden zusammengesteckt, Wasserflaschen geteilt und oft guckten fünf Schüler*innen gemeinsam Videos auf einem Smartphone.

Die Konferenz

Es folgt zu Beginn eine längere Einführung und Auffrischung des Regelwerks. Vieles, was manchen selbstverständlich erscheint, stellt andere vor Rätsel.

Die Einteilung der Pausen erfolgt individuell. Die Pausenglocke, eines der Relikte aus der K&K-Zeit, wird deaktiviert. Zumindest etwas positives, denke ich mir.

Ein Kollege meldet sich zu Wort.

„Ich würde dann durchgehend unterrichten. Pause brauchen die eh keine, weil sie ja aufs Klo dürfen, auch während der Stunde. Und, also wenn ich tatsächlich Pause mache, dann reichten ja auch fünf Minuten zum Essen.“

„Ja, was machen wir den mit denen in der Pause? Das wird ja fad!“

Ich krame in meinem Rucksack. Irgendwo hatte ich noch Schokolade. Schokolade beruhigt die Nerven. Meine Nerven brauchen das jetzt, genau in dieser Sekunde. Ha! Da ist sie, Erdbeer-Schokolade. Was für ein Glück.

Dann fällt das Thema, wie kann es anders sein, auf die Notengebung.

„Also mit einem Fünfer dürfen sie in jedem Fall aufsteigen? Mit zwei oder mehr nur nach Beschluss der Klassenkonferenz?“

„Na meistens ist ein zweites Nichtgenügend in Aussicht und das Lehrer*innen-Team entscheidet dann. Alles klar! Den Kevin* müssen wir eh nicht mitnehmen. Keine Angst!“ Es folgt erleichterndes Gekicher. Wer will schon Kevin in der Klasse haben?

„Nein, Jadranka wiederholt fix. Von der habe ich seit Wochen nichts gehört. Vielleicht wurde sie von ihren Eltern nach Serbien geschickt. Also, sicher sogar. Ich habe ja nichts von ihr gehört.“ Kluge Eltern, denke ich mir. Schließlich arbeiten beide im Pflegebereich.

„Geh bitte! Immer diese Ausreden! Krise hin oder her. Leisten müssen sie dennoch was. Den Rest ihres Lebens werden sie auch nicht gefragt werden, ob sie es denn zuhause schwer hatten.“ Totschlagargument Nummer eins, fällt mir ein.

Ich schiebe mir eine Rippe Schokolade in den Mund. Der Geschmack nach Blendi-Erdbeer-Zahnpasta lenkt mich ab. Leider nur kurz.

Wieder einmal dreht sich alles um die Beurteilung der schulischen Leistungen. Ich bin fassungslos. Menschen verlieren ihre Arbeitsplätze und stehen vor dem Nichts. Kinder und Eltern können wochenlang der Enge viel zu kleiner Wohnungen kaum entfliehen. Soziale Kontakte müssen eingeschränkt werden. Kindergärten und Schulen sind geschlossen. Familiären Konflikten kann kaum etwas entgegenhalten werden. Und die Institution Schule hat nur eine Sorge. Nämlich kann ich jetzt Mohamed durchfallen lassen, oder muss ich den in die nächste Klasse mitnehmen. Leistung ist Leistung. Keine Leistung ist keine Leistung. Wer nicht folgt, fliegt!

Die zweite Rippe Schokolade bleibt mir fast im Hals stecken.

Hallo Schule? Was geht?

Die Corona-Note

Ich bin keine Freundin der Notengebung. Weil ich mir schon sehr lange bewusst bin, dass mit Hilfe von Zensuren maximal Anpassungsleistung gemessen wird. Wer sich am besten mit dem System Schule arrangiert, zählt zu den Systemgewinner*innen. Aber, wenn die Sehnsucht nach Beurteilung so groß ist, dann führen wir doch die Corona-Note ein. Dann benoten wir die nicht-schulischen Leistungen, die die Schüler*innen in den letzten Wochen der Krise erbracht haben.

Yussuf, 12 Jahre: Sehr gut in allen Bereichen. Er kümmert sich tagsüber um seine kleinen Geschwister, weil die Mutter im Handel arbeitet. Der Vater ist gleich zu Beginn der Corona-Krise untergetaucht.

Elena, 14 Jahre: Sehr gut in allen Bereichen. Sie erklärt seit Wochen nicht nur ihrer Kernfamilie, wie Schule und Leben in der Krisenzeit funktionieren. Übersetzt Formulare, füllt Ansuchen aus, nicht nur die, die die Schule betreffen.

Manuela, 11 Jahre: Sehr gut in allen Bereichen. Sie erträgt seit Wochen ihre häusliche Situation. Die sie ständig überwachende Mutter, der kontrollsüchtige Vater, der angeblich nur aus reinem Verantwortungsgefühl handelt. Der geistig behinderte Bruder, der die elterliche Aufmerksamkeit bekommt, die nach Totalüberwachung der Tochter noch vorhanden ist. Den Schutzraum Schule gibt es zurzeit nicht.

Ali, 15 Jahre. Sehr gut in allen Bereichen. Er verzichtet seit Wochen auf sein Fußballtraining. Er liebt es, weil er nicht zuhause sein muss. Weil er sich so richtig auspowern kann. Dann vergisst er, dass der Kühlschrank nicht immer voll ist, und die sorgenvolle Blicke seiner Eltern, wenn sie abends über den Kontoauszügen sitzen. Jetzt kann auch er dem Ganzen nicht entfliehen. Also baut er seine Eltern auf, spricht ihnen Mut zu.

Maxi, Elisabeth, Justin, Ayse, Vanessa, Dragana und all die anderen: Sehr gut in allen Bereichen, weil sie das Distance-Learning perfekt gemeistert haben.

Ich bin für eine Gesamtnote über die letzten Wochen. Alle erhalten eine Eins. Und die können ja meine geschätzten Kolleg*innen in die Jahresnote einfließen lassen. Dann dürfte der positive Abschluss des Schuljahres 19/20 kein Problem mehr sein, auch bei Kevin.

*Namen wurden geändert.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule.

Lesezeit: 3 Minuten

Lockdown

Das erste Wochenende geht vorüber. Es hat noch was von „…dann mache ich mir es eben daheim gemütlich„. Das kann ich ja zum Glück. Ich habe eine große Wohnung und damit ein Dach über dem Kopf. Ein gefüllter Kühlschrank, Internet und Handy. Vieles erscheint mir surreal. Die letzten Tage in der Schule, als wir alle noch hektisch die Schulbücher bestellt haben. Als wir Übungen für die Schüler*innen zusammengesucht haben. Der tatsächlich letzte Schultag am Freitag, als nicht einmal die Schüler*innen im Ferienmodus waren. Die Verabschiedung von den Kolleg*innen, auch beklemmend. Es erschien mir wie ein schlechter Film, bei dem ich sehnlichst auf den Abspann wartete.

Montagmorgen

Am Montag wache ich zur gewohnten Zeit auf, zwanzig vor sechs ohne Wecker. Am Vormittag melden sich die ersten Schüler*innen:

Mir ist fad zuhause. Darf ich morgen mit V. in die Schule kommen?

Warum dürfen wir nicht einmal in den Park gehen?

Alle meine Geschwister sind zuhause. Ich wünschte, ich wäre ein Einzelkind.

Was genau muss ich heute machen?

Zählt das alles zur Note?

Frau Lehrerin? Nicht ihr Ernst? Das ist viel zu viel!

Mein Bruder hat gesagt, dass ich hässlich bin. Also muss ich hässlich sein.

Ich mach jetzt die Hausübungen.

Montagabend

Am Abend sitze ich, wie so oft in diesen Tagen, vor dem Fernseher. Ich habe zu diesem Zeitpunkt noch nicht die gesunde Mischung aus wie viel Information vertrage ich, und wie viel nicht, heraußen. Im Fernsehen läuft das Format Thema, im Fokus Covid19. Nach vielen Informationen und Fakten spricht am Ende eine klinische Psychologin über die neue häusliche Situation. Auch zwei Familien werden gezeigt und befragt, wie sie die kommenden Tage meistern werden? Die Wohnungen der beiden groß, hell und geräumig mit Balkon oder Garten. Eine männliche Person, die im Garten mit einem Kind lernt. Das andere Kind turnt auf einem Klettergerüst. Alle sind sich einig, das könnte schnell langweilig und fordernd zugleich werden.

Was könnte man dagegen tun?“, will die Reporterin wissen.

Denken Sie sich immer neue Sachen aus. Schaffen sie neue Anreize. Kochen sie gemeinsam oder machen sie eine Schnitzeljagd durch die Wohnung. Oder, schaffen sie eine Verkleidungsecke.

Die andere Realität

Ich steige gedanklich ab.

Mir fällt K. ein. K. ist mit seinen elf Jahren der älteste von sieben Kindern. Vor drei Wochen kam das jüngste zur Welt. Die Familie lebt in einer 45m² Wohnung. K. liebt es, die Zeit draußen zu verbringen. Ich stelle mir K.s Mutter vor, wie sie in der Küche steht und vermutlich alles andere will, als die Kinder in den Akt des Kochens einzubinden.  Sie wird auch keine Schnitzeljagd machen oder eine Verkleidungsecke einrichten. Wo auch?

Ein anderer Junge lebt unter ähnlichen Verhältnissen. Der Vater arbeitet am Markt, die Mutter ist den ganzen Tag bei den Kindern. Die Hauptlast liegt bei der Mutter. Haushalt, Kindererziehung und sämtliche schulische Angelegenheiten. Und jetzt sollte sie noch mit den Kindern üben und lernen. Stimmt, und eine Schnitzeljagd organisieren.

V. lebt bei seiner Großmutter. V. hat Probleme. In der Schule eckt er mit seiner nicht vorhandenen Anpassungsfähigkeit an. Er scheitert täglich am System Schule. Die Großmutter ist bemüht, aber stößt permanent an ihre Grenzen. V. hat bis heute keine einzige Aufgabe geschickt. Manchmal kommt mir der Gedanke, dass er vielleicht schon im Krisenzentrum lebt.

Die ganze erste Woche des Lockdowns kommen auf unterschiedlichen Kanälen mantraartig die gleichen Tipps, und immer werden Familien gezeigt, die nicht die Lebensrealität meiner Schüler*innen abbilden. In den meisten Fällen macht der Vater nicht Homeoffice. Die Mutter macht eine Art Homeoffice, spricht sie ist ohnehin zuhause. Meine Schüler*innen haben zu 90% keine Laptops, kein W-Lan, keine Gärten und keine Eltern, die mit ihnen so nebenbei noch lernen. Nicht weil sie es nicht wollen, sondern weil sie es nicht können.

Die Verlierer*innen

Was meine Schüler*innen haben? Sie haben Ängste. Angst, dass die Eltern ihre Arbeit verlieren. Sie haben Angst, dass ihren Eltern das Geld ausgeht. Sie haben Angst, genau das mit ihren Eltern zu besprechen. Sie merken, dass es zuhause eng wird, und wissen nicht, wie sie dieser Enge entfliehen sollen. Sie haben Angst, dass wenn sie doch nach draußen gehen, dass die Eltern Strafe zahlen müssen. Sie haben Angst, dass sie das Jahr nicht schaffen werden. Sie haben vermutlich nur wenig Kraft sich den Schulaufgaben zu widmen. Denn, bevor man sich mit Bildung und mit sich selbst beschäftigen kann, braucht man soziale Sicherheit. Diese ist in sehr vielen Fällen nicht gegeben. Gerade in diesen Familien bleibt kein Stein auf dem anderen.

Die Verlierer*innen in dem System Coronakrise sind wieder einmal die Schüler*innen der Mittelschulen. Denn schon jetzt kündigt Bildungsminister Heinz Faßmann an, dass die höchste Priorität bei der Öffnung von Schulen der Matura gilt.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.