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Die Evaluierung 

Vor fast zwei Monaten fand in der Arbeiterkammer Wien die offizielle Präsentation der Evaluierung der Deutschförderklassen statt. Es wurde erhoben, wie sich das Modell bis jetzt bewährt hat. Das Ergebnis ist wenig überraschend. Das System, so wie es zurzeit besteht, bringt nicht die erwarteten Ergebnisse.

Der Blick zurück

98 % Prozent der Schulleiter:innen und 91 % der Sprachförderlehrer:innen sehen Optimierungsbedarf*. Das System erlaubt wenig Freiheiten im Umgang mit den Schüler:innen. Zum Einstieg in die Klasse erfolgt die Sprachstandserhebung mittels MIKA-D-Test. Dann die Zuteilung in die Deutschförderklasse. Nach einem halben Jahr wird erneut getestet. Wenn der Sprachstand, wenig überraschend, ungenügend ist, dann folgt ein weiteres halbes Jahr in einer Extra-Klasse bis zur nächsten Testung. Dazwischen gibt es nicht viel. Mal abgesehen davon, dass das Messinstrument an sich einer grundlegenden Überholung bedarf. Die Klassen sind mancherorts viel zu groß, der Pool an Kolleg:innen, die berechtigt sind in diesen zu unterrichten, zu klein. Bis heute gibt es keine Klassenschüler:innenhöchstzahl. An manchen Standorten, vornehmlich in Wien, sitzen bis zu zwanzig Schüler:innen in einer dieser Klassen.  Selbst begnadete Pädagog:innen haben einem solchen Setting kaum eine Chance die erwarteten Erfolge zu liefern. Dazu gibt es eine Vielzahl an Schüler:innen, die im Alter von vierzehn oder dreizehn Jahren nach Österreich kommen. Die, bis der Spracherwerb vielleicht abgeschlossen ist, im zehnten oder elften Schuljahr sind. Denn der Verbleib von nur neun Stunden in den Stammklassen gewährt keinen Zugang zum Regelunterricht. Die achte Schulstufe muss im schlechtesten Fall drei Mal wiederholt werden, sollte ein elftes Schuljahr gewährt werden. Das folgt keiner Logik sondern einer persönlichen Einschätzung, die wiederum stark an das Verhalten der Schüler:innen anknüpft. Nicht jedem fällt es leicht in einer Klasse mit Kolleg:innen zu sitzen, die drei Jahre jünger sind. Die Aussicht auf einen positiven Schulabschluss ist gering.

Das System ist nicht flexibel. Von den Kolleg:innen, die in der Deutschförderklasse unterrichten, wird das aber im hohen Maß verlangt. Nach mehr als vier Jahren Erfahrungen mit diesen Klassen weiß ich, dass sich die Schüler:innenzahl innerhalb weniger Tage ändern kann und damit das gesamte Setting. Wir haben schon oft erlebt, dass endliche alle die Basics des Schulbetriebs kannten und genau zu diesem Zeitpunkt uns zwei neue Schüler:innen zugeteilt wurden.

Was in den Deutschförderklassen auch fehlt ist muttersprachliches Unterstützungspersonal in Form von Psychagog:innen, Beratungslehrer:innen und Schulsozialarbeiter:innen. Wir wissen nicht mit welchen Blessuren die Kinder und Jugendlichen zu uns gekommen sind. Wir haben mit wenig Ausnahmen keine Ahnung von Flucht und Krieg. Und es ist eine Farce zu verlangen, dass große Dankbarkeit und Anpassung von Seiten der Schüler:innen zu erfolgen haben. Ehrlich, wäre ich ein Mädchen, das gar nicht in dieser Schule sein möchte; wäre ich ein Kind, das auf der Flucht hungern musste; wäre ich ein Teenager, der viele Nächte immer wieder in einen Keller flüchten musste, wäre das letzte Gefühl, das in mir hoch käme, dass ich dankbar sein muss. Und ich hätte auch keinen Kopf vier Stunden am Tag Grammatik abzuspeichern. Ich würde wahrscheinlich nur auf meinem Sessel sitzen und warten, dass der Tag vergeht. Dass ich nach Hause komme und die Sicherheit habe, dass meine Eltern noch am Leben sind. Aber das darf alles in diesem System nicht sein. In zwei Jahren muss die Sprache beherrscht werden, der Rest ist „Nebensache“.

Woran es auch fehlt? Es gibt tatsächlich Kolleg:innen, die immer noch nicht bereit sind, für diese Kinder und Jugendlichen Empathie zu entwickeln. Denen müssen wir nämlich jedes Jahr vom Neuen erklären, dass jedes Kind ein Recht auf eigene Schulbücher habe, unabhängig von der Zeit, die es in der Klasse verbringt. Es sollte selbstverständlich sein, dass alle Kinder der Klasse an einem Ausflug oder einem Projekttag teilnehmen. Und schon gar nicht okay ist, die Schüler:innen auf ihre Herkunft oder auf ihre Religion zu reduzieren. Im „normalen Klassenverband“ kann das schon auch passieren. Aber viel leichter ist es natürlich Schüler:innen auszugrenzen, die ohnehin durch das System segregiert wurden. Es muss endlich eine Sensibilisierung dieser Kolleg:innen erfolgen.

Der Ausblick

So, nun weiß man also, dass dieses System nicht die erwarteten Ergebnisse bringt. Welche Lehren werden daraus gezogen? Kaum welche.

Die Deutschförderklassen werden bestehen bleiben. Sie haben sich zwar nicht bewährt, aber das ist allem Anschein nach egal. Schließlich handelt es sich um ein Prestigeprojekt der damaligen schwarz-blauen Regierung. Schule ist also ein Politikum. Kinder und Jugendliche spielen in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle. Wie so oft geht es in der Schule nicht um sie.

Es gibt Zugeständnisse von Seiten des Bildungsministeriums. So hat man finanzielle Ressourcen freigeschalten, um zum Beispiel die Betreuung durch mehr Kolleg:innen gewährleisten zu können. Dieses Angebot liest sich in Zeiten des akuten Personalmangels wie ein schlechter Witz. Eine Schulleiter:in kann nicht irgendwelche Kolleg:innen zum Unterricht in die Deutschförderklasse einteilen. Theoretisch ist es gar nicht erlaubt, dass ohne DAF/DAZ- Ausbildung in diesen Klassen unterrichtet wird. In der Praxis sieht es allerdings anders aus, denn es gibt viel zu wenige Kolleg:innen mit diesem Studium. Daher können alle in die DKL eingeteilt werden. Die Vermittlung einer neuen Sprache erfordert didaktische Höchstleistungen. Wenn jemand das nicht beherrscht, wird es problematisch. Außerdem brauchen wir in diesem Zusammenhang Kolleg:innen, die empathisch genug sind zu verstehen, was es heißt keine Heimat mehr zu haben. Was sich also ändern wird? Nichts, so einfach ist das.

Vor langer Zeit habe ich hier mal einen Beitrag geschrieben, in dem ich den Verdacht geäußert habe, es soll Menschen, die in Österreich Arbeit oder Schutz oder beides suchen, nicht zu gemütlich gemacht werden. Ich sehe das nach wie vor so.

Eine mögliche Zukunft, die immer mehr zur Utopie wird

Nach der Bekanntgabe der Evaluierungsergebnisse fand eine Podiumsdiskussion statt. Was klar zur Sprache kam, wäre ein möglicher Lösungsweg. Es ist an der Zeit, dass wir uns von dem monolingualen Schulsystem verabschieden. Gerade im urbanen Raum ist Mehrsprachigkeit stark vorhanden. Nein, es handelt sich nicht um einen Makel, sondern um ein Geschenk. Wir haben Kinder und Jugendliche an der Schule, die drei oder vier Sprachen sprechen. Auch diese, die noch nicht lange in Österreich leben, beherrschen zumeist mehr als eine Sprache. Aber anstatt dem Rechnung zu tragen, reduzieren die Behörden sie auf die fehlende Sprachkompetenz in der Unterrichtssprache Deutsch. Gerade im urbanen Raum könnte man mit einem Umdenken Neues und Großartiges schaffen.  

Quelle: https://www.lv-wien.at/downloads/Quo vadis Deutschförderklassen-kurse.pdf

Maria Lodjn, Lehrerin an einer MS in Wien

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Ein Schüler, nennen wir ihn Julian, rastet kurz nach dem Beginn der Stunde aus. Es ist die letzte Woche vor den Weihnachtsferien. Am nächsten Tag steht ein Besuch des Weihnachtsmarkts an. Julian wird von diesem Ausflug ausgeschlossen und muss in der Schule bleiben. Muss schreiben, lesen und lernen, während die anderen Spaß haben. Muss!

Klasse 2e kommt heute nicht zur Ruhe, dem Lärmpegel ist nicht wirklich beizukommen. Kaum ist in der einen Ecke die Konzentration hergestellt, geht es in den vorderen Reihen los. Irgendwann reißt der Kollegin der Geduldsfaden. Den Schüler:innen wird die Kunststunde gestrichen. Statt malen müssen eine Doppelstunde lang die Lebensläufe von Picasso und Flora geschrieben werden. Sie müssen schreiben.

Sebastian und zwei andere Schüler:innen vergessen immer wieder ihre Sportsachen. Anstatt mitzuturnen, müssen sie die Schulordnung schreiben. Sie müssen schreiben!

Dann gibt es noch Valerija und Iris, die sich in der Pause nicht benommen haben. Die Konsequenz daraus ist, dass sie ein Gedicht auswendig lernen müssen. Sie müssen auswendig lernen.

Echt jetzt?

Die oben angeführten Beispiele könnte ich beliebig fortsetzen. Was sie alle eint? Dass wir in der Schule Kinder und Jugendliche mit Tätigkeiten bestrafen, die mit Schule und Lernen zu tun haben. Dass Fehlverhalten mit Abschreiben, doppelt so viel Hausübung, absagen der Sportstunde geahndet werden. Dass wir Schüler:innen alles streichen, was Spaß macht. Übrig bleibt der normale Unterricht im frontalen Setting und die Botschaft, dass Lernen eben keinen Spaß macht. Dass Schreiben und Auswendiglernen keine kreativen Prozesse sind, sondern ein Erziehungsmittel. Dass Hausübungen keine Übung sind, sondern die Möglichkeit Schüler:innen die Freizeit zu versalzen. Dass in der Schule bleiben müssen, eine Strafe ist.

Ja, auch ich habe mich im Zuge meiner fast 30-jährigen Lehrerinnentätigkeit dieser Mittel bedient. Habe meinen Klassen Lehrausgänge gestrichen und sie zum in der Schule bleiben verdonnert. Habe statt Malen und Zeichnen Kunstgeschichte gemacht. Okay, die Nummer mit der Schulordnung statt der Bewegung, habe ich ausgelassen. Weil mir lieber ist, die Kinder und Jugendlichen bewegen sich in ihrem Alltagsgewand als gar nicht.

Wie schräg diese unterschiedlichen Facetten der Bestrafung sind, fällt mir erst in den letzten Monaten vermehrt auf. Wir machen uns selbst das Leben schwer.

Also muss der Lehrer die Möglichkeit haben, Strafen auszuteilen

„Die Unterrichtszeit soll dazu genutzt werden, den Stoff durchzugehen.
Für Diskussionen ist da keine Zeit. Also muss der Lehrer die Möglichkeit haben, Strafen auszuteilen damit das Kind den Unterricht nicht weiter stört.“ (Leser:innenzitat Der Standard)

Zitate wie dieses lese ich immer wieder. Auch solche, in denen bitter geklagt wird, dass den Lehrer:innen im Jahr 2023 die Hände gebunden sind. Früher, ja da war alles besser. Da hat die Lehrperson ein Machtwort gesprochen und alle waren ruhig.

Mein Volksschullehrer hat nicht nur Machtwörter gesprochen, sondern auch gehandelt. Als meine Finger voll mit blauer Tinte waren, schickte er mich nicht Hände waschen, sondern machte mich vor der ganzen Klassen lächerlich. Danach stand ich in der Ecke mit immer noch blauen Fingern. Wiederholt wurde er handgreiflich, zog und zerrte Kinder von A nach B. Auch die eine oder andere Ohrfeige gab es. Keine gebundenen, sondern schlagende Hände.

Ist dieses Früher gemeint? Ich hoffe nicht!

Mir ist klar, dass Regelbrüche Konsequenzen haben müssen. Es geht nicht, dass ein Schüler eine Klasse terrorisiert. Es ist nicht okay, wenn statt einem gesunden Arbeitslärm, Chaos herrscht. Ja! Kinder und Jugendliche wollen und brauchen Grenzen. Nur wie sollen wir es anstellen?

„Das ist doch keine Strafe, sondern eine wunderbare Gelegenheit!“

Das erklärt der Rabe Abraxas der kleinen Hexe in dem gleichnamigen Film, als diese bis zur nächsten Walpurgisnacht alle Hexensprüche auswendig lernen muss. Wenn wir Strafen oder Konsequenzen in der üblichen Art austeilen oder setzen, dann versperren wir den Schüler:innen sämtliche Gelegenheiten, die freudvolles und lustbetontes Lernen bieten.

Pablo Picasso und Paul Flora sind wunderbare Künstler, die sich mehr als negative Aufmerksamkeit verdient haben. Kunstgeschichte ist kein Trauerspiel, sondern ein wichtiger Beitrag zur Bildung.

Aber ich warne an dieser Stelle davor, Kinder und Jugendliche sämtliche Konsequenzen als super Gelegenheit zu mehr Bildung zu verkaufen. Die sind zum Glück nämlich nicht dumm und durchschauen diesen Schwindel innerhalb kürzester Zeit. Ich glaube, wir müssen weg von dieser Art der Straf-Kultur.

Aber was tue ich, wenn?

Vielleicht sollten wir mal unterscheiden lernen, welches Verhalten tatsächlich dringend Konsequenzen braucht und welches eigentlich nur unsere persönlichen Befindlichkeiten stören. Bei ersterem es ist mE leicht, diese zu definieren. Grobe Verstöße wie Gewalt, Mobbing oder andere kriminelle Straftaten müssen mit Hilfe von Expert:innen besprochen werden. Konsequenzen setzt da im Übrigen das Strafgesetzbuch. Ich bin mir dessen bewusst, dass eine Meldung solcher Straftaten schwere Folgen für Kinder und Jugendliche haben kann. Aber in diesem Fall nicht zu reagieren, finde ich persönlich fatal. Weil ich Gewaltausbrüche als Hilfeschreie sehe. Hilfe, die ich aber nicht geben kann. Das sehe ich nicht als ein Zeichen von Hilflosigkeit, sondern viel mehr als eine Sache, die meine Kompetenz übersteigt. Ob dann der Lehrausgang mitgemacht werden darf oder nicht, steht nicht zu Debatte. Wenn wir die Ressourcen hätten, dann würde ich in diesem Fall eher eine zusätzliche Lehrperson mitnehmen, die hauptsächlich für XY zuständig ist. Er oder sie darf sich nicht mit Freund:innen auf dem Weihnachtsmarkt bewegen, sondern nur in Begleitung der Lehrer:innen. Mit der Erklärung, dass es zurzeit keine Vertrauensbasis gibt.

Unter Befindlichkeiten verstehe ich Dinge, die mich persönlich stören. Dass die sich nicht immer mit denen meiner Kolleg:innen decken, ist mir bewusst. Daher ist schwer, eine einheitliche Lösung zu finden. Nicht einmal ich selbst reagiere immer gleich. Klar, meine Schüler:innen beschweren sich dann, aber so lange ich erklären kann, warum ich welche Konsequenzen setze, habe ich auch damit kein Problem.

Statt Ausflüge zu streichen, würde ich Inhalte oder Lernstoff mal beiseitelassen und mit einer Klasse, die nicht zu beruhigen ist, eine Woche lang nach draußen gehen, in den Wald oder einfach ins Freie. Eine Woche mit viel Gehen, Bewegung und frischer Luft, unabhängig von der Jahreszeit. Mit Hilfe von Expert:innen würde ich so arbeiten, dass wieder Unterricht für alle möglich ist. Dafür fehlt uns Lehrer:innen der Handlungsspielraum, aber nicht um grausam und hart zu bestrafen.

Strafen und ihr Einfluss auf das Klassenklima

Es ist bis heute nicht bewiesen, dass in Klassen, in denen eine härtere Strafkultur vorherrscht, das Klassenklima besser ist oder der Unterricht größere Erfolge erzielt. Im Gegenteil: dort  wo hart bestraft wird, die Lehrpersonen keine Widerrede dulden, wird Mobbing und versteckter Gewalt Tür und Tor geöffnet. Die Lehrer:innen bekommen das oft nicht mit, weil in den Stunden ja die Disziplin passt. Was Schüler:innen in diesem Setting lernen ist, dass sie machen können, was sie wollen, Hauptsache es wird von den Erwachsenen nicht bemerkt. An diese wenden sich die meisten Mobbingopfer auch nicht, weil sie Angst haben. Und das wiederum spielt den Täter:innen in die Hände. Dass ein Klima der Angst keine lernfreundliche Umgebung ist, muss ich nicht näher ausführen, weil es längst bewiesen ist.

Als Ausklang gewähre ich Einblick in das Schulunterrichtsgesetz, wo genau festgelegt ist, was Lehrer:innen dürfen oder nicht. 

Im Schulunterrichtsgesetz ist klar geregelt, welche „Strafen“ Lehrer*innen verteilen dürfen. Verboten sind jede Art von körperlicher Züchtigung, also Gewalt, Handgreiflichkeiten, aber auch Beleidigungen oder Strafen an der ganzen Klasse. Es darf also z. B. nicht die ganze Klasse bestraft werden, wenn „der*die Schuldige“ nicht gefunden wurde.

Wer möchte kann das als kleinen Reminder an sich selbst sehen und vor der nächsten Bestrafung kurz innehalten. Um dann in weiterer Konsequenz darüber nachzudenken, ob sich um eine Befindlichkeit oder ein echtes Problem handelt.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.

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Passierschein A38

Es klingelt. Um mich herum hasten Kolleg:innen zurück in die Klassen, noch schnell ein illegaler Schluck aus der Cola Zero Flasche genommen – immerhin sind wir Vorbilder- und weiter geht’s. 

Als ich den Klassenraum betrete, finde ich einen einsamen Haufen an Jugendlichen vor, der Rest dürfte noch irgendwo in den unendlichen Weiten des Ganges verloren sein, bevor sie dann mit fünfminütiger Verspätung endlich den Weg zurück in die Klasse finden. Ich möchte gerne starten, aber leider bin ich anscheinend die einzige Person in diesem Raum, die das im Sinn hat. Die meisten Schüler:innen sitzen noch auf Plätzen, die nicht ihnen zugeteilt wurden, in der Hoffnung, dass ich es nicht merke und sie neben ihrem „Bro“ sitzen bleiben können. Sehr zum Verdruss merke ich es aber doch und schicke sie zurück. Während ich auf Ruhe warte, kommt von hinten plötzlich ein Papierknäuel geflogen und landet neben mir auf dem Boden. Großes Gelächter folgt, denn das Ziel war eigentlich der Papierkorb drei Meter neben mir. 

„Kannst du nicht zielen, Alter?“, ruft es von ganz hinten.

„Der schießt wie Mädchen!“, ertönt es von links vorne. 

„He, hast du was gegen Mädchen?“, schaltet sich nun auch die weibliche Fraktion ein. 

„Ihh, er hat gefurzt!“, schrillt es von der Mitte. 

Sofort eilt ein Schüler zum Fenster und reißt dieses auf, streckt kurz den Kopf hinaus und holt theatralisch Luft. Einige Zeit vergeht bis er endlich meinen Aufforderungen folgt und sich wieder hinsetzt. 

Ich setze mich auf den Lehrertisch und warte immer noch, dass Ruhe einkehrt. Endlich begreifen auch die letzten, dass ich gerne mit dem Unterricht starten würde und hören auf miteinander zu reden, als plötzlich, wie aus dem Nichts, das Unvorstellbare passiert. 

„Oh Gott!“, schreit es hysterisch vom Fenster. Kinder springen auf, rennen durcheinander, fuchteln wild mit den Armen. Eine Biene hat die Bühne des Klassenraums betreten. All mein gutes Zureden von wegen, bleibt ruhig, dann passiert nichts, eine Biene stirbt, wenn sie einmal sticht und hat kein Interesse daran, außer sie hat Todesangst, wird geflissentlich ignoriert. Endlich – nach gefühlt Stunden – erbarmt sich die Biene, lässt uns alle am Leben und verzieht sich wieder nach draußen. 

Zwanzig Minuten sind vergangen, als endlich alle leise auf ihren Plätzen sitzen und mich erwartungsvoll anschauen. Na gut, anschauen, die Hälfte starrt auf ihre unter dem Tisch versteckten Handys, aber wenigstens ein Teil blickt zu mir und wartet. Ich selbst bin nach diesen 20 Minuten schon etwas erschöpft, denn der Weg zu dieser Stille war kein leichter. 

Ich denke an ein Lied „Dieser Weg, wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer“ und seufze, ja steinig ist es hier auf alle Fälle. 

Ich teile den Kindern ein Arbeitsblatt aus, es geht um Kinderrechte und sie sollen die einzelnen Artikel daraufhin leise für sich lesen. Während das mit dem „Leise lesen“ nicht ganz so perfekt funktioniert, wie ich es mir gewünscht hätte, schweifen meine Gedanken ab. 

Ich erinnere mich daran, als ich genau dieses Thema damals in meiner Schulpraxisklasse machen sollte. Was war das für eine traumhafte Stunde, was war ich motiviert. 25 Augenpaare strahlten mich begeistert an, warteten nur darauf, dass ich ihre Köpfe mit Wissen überschütten würde. Stundenlang hatte ich diese eine Unterrichtseinheit geplant und mich darauf vorbereitet und freute mich auf angeregte Diskussionen und Erfahrungsaustausch mit den Jugendlichen. Alles klappte wunderbar und danach verließ ich fröhlich summend das Schulgebäude und freut mich schon darauf, endlich mit dem Studium fertig zu sein und unterrichten zu können. 

Jetzt saß ich da und fragte mich, was zur Hölle ich hier eigentlich tat. Hier waren 22 Kinder vor mir, die mich tagtäglich an den Rand des Wahnsinns trieben. Regeln? Ja, sind gut, aber muss man sich nicht unbedingt daran halten. Neues Lernen? Ja, auch das wird irgendwie von uns Lehrpersonen überbewertet, bockt einfach total nicht. Hausübungen machen? Na wo kommen wir da denn hin, immerhin haben die Jugendlichen von heute Wichtigeres zu tun, dringende Termine und so. 

Was zur Hölle war mit meinem Traum des Unterrichtens passiert und wo waren all die lieben, leuchtenden Augen meiner Praxisklasse hin verschwunden, die doch so gerne etwas lernen wollten?

Hier starren mich gerade eher genervte und gelangweilte Augen an. Viele davon starren auch nicht mich an, geht ja auch schwer, wenn man gerade nebenbei auf Tiktok hängt. 

„Kann ich Klo?“ „War doch gerade erst Pause!“ „Frau Lehra, da musste ich andere Sachen machen!“ Alles klar, wie konnte ich auch denken, dass man in der Pause Zeit hat, um in Ruhe die Toilette aufzusuchen. Während A also zur Tür hinaus verschwindet, steht V auf. „Was machst du?“ „Wasser!“ „Kannst du nicht bis zur Pause warten?“

„Man, Frau Lehraaaa, ich verdurste.“ 

Während ich V zugestehe, sich vor dem sicheren Tod durch Verdursten zu bewahren, schießen sich E und F hinten in der letzten Reihe gegenseitig mit Kugelschreibern ab. 

„Genug jetzt!“, sage ich etwas lauter, während hinter mir beim Wasserhahn ein lautes Schlürfen erklingt. Allgemeines Gelächter folgt darauf. 

Genervt rolle ich mit den Augen und sage: „Bei euch ist es wie bei Asterix und Obelix im Haus, das Verrückte macht, mir fehlt nur der Passierschein um weiterzukommen!“ 

„Was für ein Pissschein?“ 

Jetzt werden sie doch neugierig und wollen wissen, was es mit Asterix und Obelix auf sich hat. 

Ich erkläre kurz und nun wenden wir uns dann doch gemeinsam den Kinderrechten zu. 

„Jedes Kind hat das Recht auf Schutz vor Gewalt.“ steht da und ein allgemeines Raunen geht durch die Menge. „Wenn Vater sauer ist, ist er halt sauer, kann man nix machen!“, ruft A von hinten. 

Ich versuche ruhig zu erklären, dass niemand – auch nicht Eltern – das Recht haben, Kinder zu schlagen, aber das wollen sie so leicht nicht gelten lassen. 

„Ach, bisschen Schlag tut nichts, tut mir gar nicht weh!“, meint A., doch seine Augen sagen etwas Anderes. „Ja genau, Watsche ist bei uns ganz normal, ist bei Ausländern so!“ „Meine Mutter schießt immer mit Patschen, wenn sie sauer ist!“ 

Nach und nach tauschen die Kinder ihre Erfahrungen aus und man merkt, dass die meisten schon mit Gewalt innerhalb der Familie zu tun hatten. 

Wir besprechen die verschiedenen Formen von Gewalt und was das mit einem macht, als es zur Pause läutet. Wildes Durcheinander, die meisten stürmen auf den Gang, sicher nicht, um die Toilette zu besuchen, sondern um andere Sachen zu machen, wichtigere Sachen. 

Am Gang angekommen, landet eine Flasche vor meinen Füßen. „Ups Frau Lehra, sorry, du musst doch fangen!“ Ich hebe die Eisteeflasche auf und runzle die Stirn. „Jaja, ich weiß, ist verboten, aber ist für dich!“ 

Ich rufe meinem Schüler noch ein Danke nach, lasse die illegale Eisteeflasche schnell in meinem Rucksack verschwinden und mache mich auf den Weg zum Lehrer:innenzimmer. 

Auf dem Weg dorthin, fängt mich eine Schülerin ab und sagt leise: „Frau Lehrerin, war eine gute Stunde. Können wir bitte noch einmal über das Thema reden? Hat mir gefallen.“ Ein bisschen perplex nicke ich und gehe weiter. 

Ich denke wieder an das Lied. Nein, dieser Weg wird nicht leicht sein, aber vielleicht lohnt er sich ja doch! Auch in einem Irrenhaus kann es schöne Momente geben, Momente, in denen die Augen leuchten, in denen man zusammen weiterkommt und vielleicht sind es genau diese kleinen Momente, die es ausmachen! 

Die Autorin ist Lehrerin an einer Wiener Mittelschule.

Lesezeit: 3 Minuten

Wenn wir es mit Inklusion in der Bildung wirklich ernst meinen, wird es nicht reichen, an einzelnen Schrauben zu drehen. Und wenn an Schrauben im System gedreht wird, muss immer mitbedacht werden, was die Veränderung für bestimmte Gruppen – zum Beispiel Kinder mit Behinderung – bedeutet.

Die Vision:
Eltern kommen mit einem Kind, das nicht in die Schublade „NORMAL“ passt, zur Schuleinschreibung in die Schule, für die sie sich entschieden haben.
Sie werden freundlich begrüßt und willkommen geheißen. Die Schule macht sich ein Bild von den Bedürfnissen des Kindes und schafft Bedingungen, damit das Kind sich in einer Gruppe von Kindern gut weiterentwickeln kann. In der Schule gibt es gut ausgebildete Pädagog:innenteams mit der Haltung, jedem Kind einen guten Platz zum Lernen zu bieten. Diese Teams begleiten eine Gruppe von Kindern kontinuierlich. Der Personalschlüssel ist so, dass genügend Ressourcen da sind, um Beziehung zu den Kindern aufzubauen und jedem einzelnen Kind, ob „tief-, mittel- oder hochbegabt“ (frei nach Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und die Tieferschatten, 2008) einen guten Platz zum Lernen zu schaffen.
Wenn es eine kleinere Gruppengröße als die übliche braucht, kann die Schule das im Rahmen ihrer Autonomie ermöglichen.
Wenn Unterstützungspersonal notwendig ist, kann das zur Verfügung gestellt werden.
Wenn es fachliche Expertise braucht (z.B. unterstützte Kommunikation, Gebärdensprache, Brailleschrift), wird sie zur Verfügung gestellt, so viel und so lange wie nötig – darüber kann die Schule entscheiden.
Die Schule bietet ganztägige Betreuung für ALLE Kinder an.
Die Schulverwaltung vertraut darauf, dass die Schulleitung mit ihrem Team gute Entscheidungen trifft und sich Unterstützung holt, wenn sie welche braucht. Es muss nicht ständig alles kontrolliert und gerechtfertigt werden.
Es gibt unbürokratischen Austausch auf Augenhöhe mit der nächsten Hierarchieebene.

Derzeitiger Stand der Dinge ist jedoch:
Es gibt Integrationsklassen mit motivierten Lehrer:innen. Teams mit langjähriger Erfahrung und guten Unterrichtskonzepten. Sie tun was sie können, unter Rahmenbedingungen, die ihre Arbeit zunehmend erschweren.
Im Rahmen unserer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema in der Initiative Bessere Schule Jetzt! tauchte der Leitfaden für Inklusion, Integration und Sonderpädagogik in Wien (Hrsg. Stadtschulrat für Wien, 2014) auf. Hier sind die Rahmenbedingungen für die Integration von Kindern mit Behinderungen klar formuliert. Darauf konnten sich Pädagog:innen jahrelang stützen.
Ein Schelm, wer glaubt, die Bedingungen hätten sich in Richtung Inklusion verbessert. Nein, der Leitfaden hat keine Gültigkeit mehr.
Die Regelungen ändern sich so schnell, dass es fast unmöglich ist, am neuesten Stand zu sein.

  • Höchstens 21 Kinder in der Integrationsklasse – Geschichte
  • Verminderung der Klassenschüler*innenhöchstzahl abhängig vom Grad der Behinderung – diese Zeiten sind vorüber
  • Regelung, wie viele Kinder mit Behinderung höchstens in einer Integrationsklasse sein dürfen – nicht vorhanden
  • Schulleiter:innen, die die Zusammensetzung der Klassen ihrer Schule genau kennen, entscheiden, wie viele Kinder mit welchen Beeinträchtigungen neu aufgenommen werden können – vorbei
    Jetzt werden Schulplätze zentral vergeben, aufgrund der Zahlen im Schulverwaltungsprogramm, ohne die Situation vor Ort zu kennen.
  • Klar zusammengefasste Information für Schulen mit Integrationsklassen über derzeitige Regelungen – gibt es nicht
  • Ansprechpersonen, die schnell und unbürokratisch Auskunft geben – wir warten auf Rückruf
  • Plätze für Kinder mit schwereren Beeinträchtigungen am Nachmittag – mit viel Glück ein paar Bezirke weiter
  • Teamstunden in Integrationsklassen für Kinder, die zusätzliche Förderung brauchen, aber keine Behinderung haben – wieso? „Da sind eh 2 Lehrer:innen drin.“
  • Möglichkeit der alternativen Beurteilung für Kinder, die Fortschritte beschreibt, den konkreten Leistungsstand widerspiegelt und sie nicht an einer vorgegebenen Norm misst – nein, Ziffernnoten ab Ende der 2. Schulstufe auch für Kinder mit Lernbehinderung
  • Schulpsychologische Gutachten, die eindeutig aussagen, dass ein Kind dringend individuelle Unterstützung braucht, um die Anforderungen des Volksschullehrplans erfüllen zu können – Ressourcen dafür? mit viel Kreativität und Verhandlungsgeschick – unter Umständen
  • Verdacht auf Autismus Spektrums Störung – 12 Monate Wartezeit auf einen Termin zur Abklärung – außer es kann privat bezahlt werden
  • Kinder mit Behinderung, die bisher keine Entwicklungsdiagnostik hatten – alle kostenfreien Angebote über Monate ausgebucht, bitte warten, wenn Sie nicht privat bezahlen
  • Kinder mit Lese-Rechtschreibschwäche in der Klasse: Die Schule muss durch gezielte und regelmäßige symptomspezifische Fördermaßnahmen reagieren (vgl. Rundschreiben Nr. 2021-24, Rundschreiben Datenbank bmbwf.gv.at) – Ressourcen gibt es dafür keine
  • Vertretung für Pädagog:innen im Krankenstand – niemand da, muss irgendwo anders abgezogen werden und fehlt dann dort

Diversität und Inklusion erfordert vor allem eines: Flexibilität, die Fähigkeit, sich auf unterschiedliche Bedürfnisse einzustellen – die Neuerungen im Schulsystem der letzten Jahre haben die Spielräume der einzelnen Schule, der einzelnen Pädagog:innen zunehmend beschränkt.

Innovative Schulkonzepte dürfen nicht zum Etikettenschwindel werden

Gerade Wien nimmt hier als Großstadt eine Sonderstellung ein. Die Bevölkerung wächst, sie ist bunt und heterogen. Es gibt viele Familien mit besonderen Herausforderungen. Das spiegelt sich auch in den Schulklassen wider.
Gleichzeitig werden die Klassen größer, die Personalressourcen weniger. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Das steht einem zeitgemäßen Unterricht entgegen.
Viele innovative Schulkonzepte wurden in Wien entwickelt und erfolgreich gelebt, zum Beispiel die verschränkte Ganztagsschule oder integrative Mehrstufenklassen. Ohne genügend Personalressourcen werden sie verschwinden oder zum Etikettenschwindel.

Wenn der Computer nicht mehr funktioniert, hilft manchmal ausschalten und neu starten.
Was hilft im Schulsystem???

Die Autorinnen sind eine Sonderpädagogin in einer Wiener Volksschule und eine Mutter, die ein IT-Unternehmen und eine inklusive Familie managt. Beide sind engagiert in der Initiative Bessere Schule Jetzt!

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Dr. Patrick Frottier, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie:

„Hass gab es immer schon, etwa als Reaktion auf unbewältigte Kränkungen, als Folge eines Selbstwertproblems,  eines bewussten oder unbewussten Gefühls innerer Unsicherheit. Die Projektion dieses Minderwertigkeitgefühls auf eine Person, auf eine Personengruppe,  auf alle anderen außer sich selbst oder gar unter Einbeziehung seiner eigenen Person ist demnach nicht neu. Neu ist jedoch die Geschwindigkeit der Verbreitung, die mögliche Unbegrenztheit der Reichweite, die Perfektionierung der Anonymität des verursachenden Auslösers. Das Neue liegt also in den Möglichkeiten, die der digitale Raum dem Hassenden  bietet und nicht der Hass an sich.“

Wir sprechen über Klassenchats. Shitstorms, Hass im Netz – oft wird man „versehentlich“ Opfer. Klassenchats sind allgegenwärtig. Die berühmten „WhatsApp“ Gruppen, wohlgemerkt oft von Lehrpersonen selbst initiiert – „so Kinder, dann könnt ihr euch gegenseitig die Hausaufgabenafträge senden, das Organisatorische besprechen und euch gegenseitig an Referatstermine erinnern.“ Das ist die oft naive Vorstellung der Inhalte eines Klassenchats. Manchmal sind die Lehrpersonen dabei, oft nicht. Legal wäre das nicht, aber das ist die Nutzung von WhatsApp für Kinder unter 14 auch nicht. Und schon im 1. Lockdown 2020 wurde WhatsApp als zwar nicht gewünschte, dennoch aber (von der Bildungsdirektion) geduldeter Einstieg ins Distance-Learning schweigend toleriert.

Als Lehrperson bekommt man oft wenig mit von den wahren Ausmaßen des „Bashings“, welches an Stelle der Referatserinnerungen innerhalb der Klassenchats kursiert. Die mildeste Variante ist noch das Spammen, das Versenden von mehreren hundert Nachrichten ohne Inhalt. Es steigert sich oftmals bis hin zu einer wahren Hexenjagd, Bloßstellungen, Beschimpfungen, Beleidigungen. Bei einem Kind kursierten gefakte Pornobilder unbeliebter Lehrerinnen, bei einem anderen wünschte jemandes Mutter einen unfreiwilligen Geschlechtsverkehr mit einem überdimensionales Geschlechtsteil eines nicht österreichischen Mannes, an dessen Folgen sie bitte verenden möge. Ohne das „Bitte.“

Schulen sind machtlos. Die Inhalte zu kurzlebig, zu schnell wieder gelöscht. Doch sind sie das wirklich? Nichts was einmal im Netz war verschwindet für immer…

„Es ergibt sich eine Dynamik von digital versendeten Hassnachrichten, die im sozialen Netzwerken weder bezüglich der Verbreitung noch bezüglich der Reaktion irgendeiner Steuerung unterliegt. Der sich daraus ergebende emotionale Kontrollverlust berührt alle Beteiligte in schwer vorhersehbarer Weise, die möglichen wirksamen Variablen übersteigen bisher alle gültigen Prognose- und Gegensteuerungsmaßnahmen. Dieser Kotrollunmöglichkeit ist für den Nachrichtensender Anreiz sein Gefühl auszuleben und Vermeidung einer diesbezüglichen Konsequenz zugleich. Er setzt mittels weniger gedrückter Tasten einen minimalen Impuls mit einer unvorhersehbar großen Konsequenz, ganz der Symbolik seines Minderwertigkeitsgefühls entsprechend: aus ganz klein wird ganz groß.“ 

Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Was können wir tun? SaferInternet Workshops werden besucht, Schilfs zu diesen Themen wachsen aus dem Boden.

„Die  Sehnsucht nach allgemein gültigen Tipps im pädagogischen Bereich entsprechen meist der eher naiven Sehnsucht, jedes Problem hätte auch eine zugehörige Lösung. Jede Eingrenzung des Benützens von sozialen Netzwerken führt regelhaft zu Widerstand, sei aus einer demokratischen oder trotzigen Reaktion heraus. Da jedoch Hass als Mischgefühl des Neides, des Zorns und der inneren Angst seit Bestehen der Menschheit, also in unserer Kultur seit Kain und Abel, gegenwärtig ist, wäre die offene Diskussion über die ganze Palette der Gefühle, ihrer Ursachen und der Umgang mit ihnen, auch als Unterrichtsstoff, welcher unabhängig von inadäquatem und dysfunktionalen Umgang mit digitalen Medien gelehrt werden sollte, sinnvoller als eine Begrenzung neuer Medien.“

Aber irgendwas müssen wir doch tun!?

„Mit Schülern und Schülerinnen eine Diskussion über enttäuschte Erwartungen und dem sich daraus  entwickelnden unberechtigten Anspruchsdenken, welche in Hass münden können, zu führen – also einen wiederholten Diskurs über des Menschen offensichtliche eingeschränkte Fähigkeit unabweisliche und tägliche Kränkungen des Lebens zu tolerieren, zu jedem sich ergebenden Anlass anzuregen – das wäre eine pädagogische Aufgabe, die zwar niemals ein Ende nehmen, sich aber zweifellos lohnen würde. Und jeder könnte sich fragen: wen habe ich zu welchem Anlass schon einmal gehasst, wie habe ich meinen Hass ausgelebt, wann bin ich schon gehasst worden und wie habe ich mich dabei gefühlt. Die Gemeinsamkeit der Erfahrung könnte die dem Hass zugrundeliegende Trennung zumindest bewusst machen, das wäre ein erster Schritt hin zur Solidarität welche eine Klasse erst zu einer solchen macht, welche erst dann dem Wort „Klassengemeinschaft“ eine Berechtigung gibt.“ 

Erfahrung einer Lehrerin (BHS)

Letztes Jahr wurden mir durch Erziehungsberechtigte Klassenchats weitergeleitet, die hinter der Grenze der Legalität waren. Ich hatte das Glück, dass ich mich gleich an mehrere Fachexperten wenden konnte: einerseits an die Direktion, wo ich viel Unterstützung bekommen habe, andererseits an einen in Mediation, Mobbing- und Gewaltprävention sehr erfahrenen Kollegen und Coach, und auch an einen Freund, der in einer staatlichen Organisation arbeitet und Erfahrungen mit diesen Themen gehabt hat.

Die Intervention seitens der Direktion ging in mehrere Richtungen. Einerseits wurden Gespräche mit den betroffenen Schülerinnen und Schülern im Beisein ihrer Eltern geführt, die dazu geführt haben, dass mehrere Personen die Klasse bzw. die Schule verlassen haben. Andererseits wurden diese Personen an die Behörden gemeldet und die Fälle von den zuständigen staatlichen Stellen weiterbearbeitet.

Mit der Klasse wurde unmittelbar danach ein ganztägiger Workshop gemacht, in dem über das Gewicht des Geschehenen aufgeklärt wurde, über die gesetzliche Lage in Österreich sowie über die geschichtlichen Zusammenhänge und Hintergründe für diese Gesetze. Und es wurden danach mehrere Chancen genutzt, gruppendynamische Übungen zu machen. Dies war gut, denn die Situation am Anfang war schwierig, es herrschte Fassungslosigkeit, denn „das war ja nur Spaß“. Nach dem Workshop konnten die Schülerinnen und Schüler die Situation einordnen, auch wenn nicht alle mit den Konsequenzen für ihre MitschülerInnen einverstanden waren. Das Klassenklima hat sich aber sukzessive gebessert.

Für mich selbst waren diese 2 Wochen unheimlich schwierig, ich hatte aber viel Unterstützung im Kollegium und von der Schulleitung. Was es in der Prävention braucht? Aufklärung, echte Geschichten und Fälle, und vor Allem Sensibilisierung der SchülerInnen dafür, dass „Spaß“ kein Freibrief für ist.

Und was sagen die Schüler:innen?

Um die Sicht auf Klassenchats von den Schüler:innen zu erhalten, haben wir uns entschieden, sie anonym und schriftlich Fragen beantworten zu lassen. Dadurch hofften wir auf möglichst ehrliche und wahrheitsgetreue Antworten. Im Großen und Ganzen blieben die Antworten dennoch vage. Ein vertiefendes Gespräch wäre sicher noch aufschlussreicher, um hier auch einzelne Rollen der Schüler:innen in den Chats herausfiltern und analysieren sowie mit ihnen reflektieren zu können, wie und warum sie in dem Moment gehasst haben.

Wenig überraschend sehen die Schüler:innen den Klassenchats als einen wichtigen Austauschkanal an, um vor allem schulische Fragen zu klären. Viele befürworten eine Klassengruppe zum Austausch über Verpasstes, ausgefallene Stunden oder Unterstützung bei der Hausübung. Interessant bei letzterem ist, dass hier besonders fertige HÜs angefragt werden, dass in einer Klasse bei einigen für Unmut sorgen dürfte.

Unerwünscht sind Personen, die den Chat zum Spamm

en verwenden; die also tagtäglich unaufgefordert Sticker, Videos und Memes teilen. Bei Mitschüler:innen, die beleidigen, Gerüchte verbreiten, jemanden absichtlich verletzen und schlecht über andere schreiben, durchzog sich der Tenor des Blockieren-Wollens laut und deutlich. Weil zum „Scheiße schreiben“, sei der Chat nun mal nicht da. Ebenso beschwerten sich einige, dass manche viel zu viel „Unnötiges“ in den Chats schrieben, private Konflikte hintrügen und sie als Bühne nützten bzw. andere heruntermachten, wenn nicht geantwortet würde.

Interessant waren auch die verschiedenen Antworten hinsichtlich der Reflexion der eigenen Rolle im Chat. Viele nehmen sich als helfend wahr. Andere beobachten lieber, um am Laufenden zu bleiben. So manch eineR hat den Chat bereits wieder verlassen und fragt lieber privat nach. Stumm gestellt ist er bei den meisten. Spannend ist hier die Veränderung zu Unterstufe.

Die deutliche Mehrheit meinte, in der Unterstufe sei es lustiger zugegangen und sie hätten sich produktiver ausgetauscht; auch weil sie sich schon besser gekannt hätten. Viele führten die fehlende Klassengemeinschaft als Grund für die oftmals schlechte Stimmung in den Chats an. Das traf besonders auf die Befragten in ersten Jahrgängen zu.

Zum Ende lassen sich zwei Umgangsmöglichkeiten mit dem Klassenchat aus den Antworten der Schüler:innen herauslesen:

1) Sie ziehen sich zurück; das kann heißen, sie werden zu Leser:innen und vermeiden das aktive Schreiben, Antworten und Interagieren oder sie verlassen den Chat ganz und kontaktieren einzelne Mitschüler:innen oder gründen kleinere Privatgruppen.

2) Sie befürworten den Chat weiterhin, weil für sie die positiven Eigenschaften des Austausches, des Dazugehörens und der Hilfemöglichkeiten überwiegen.