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Grüne Schuhe, Sorgenpüppchen und ein Lächeln

Montagmorgen

Es ist zehn nach acht. Nach und nach trudeln die Schüler*innen der Deutschförderklasse ein. Mansoor schenkt mir ein Lächeln. „Wir haben noch grrrrrrrr gemacht in Klasse. Tschuldigung für spät“, erklärt er mir. Er legt den Kopf zurück und erzeugt ein weiteres Grrrrrrrr. Gurgeltest soll das heißen. Ich bin im Bilde. Grrrrrrrr finde ich großartig, weil es vielseitig interpretierbar ist. Ich beginne die Namen der Wochentage mit Magneten an die Tafel zu heften. Neun Paar Schüler*innenaugen beobachten mich. „Ich weiß. Is Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Samstag, Sonntag!“, ruft Dejan. Cool, denke ich mir, es ist doch einiges vom Vorjahr hängengeblieben. Und, weil ich nicht gleich reagiere, serviert mir Mansoor noch einmal die Aufzählung der Wochentage. Endlich sind alle wach und wollen sich einbringen. „D-i-e-n-s-t-a-g“, liest Remus und guckt mich ratlos an. Er ist gerade mal die dritte Woche in Wien. „Is Diiiiinstag“, belehrt ihn Sami. Remus zuckt mit den Schultern. Weder mit dem einen noch mit dem anderen Wort kann er etwas anfangen. Ibrahim zeigt auf, will auch lesen. Nicht nur einen Begriff, sondern alle. Die Motivation meiner Schüler*innen lässt mich kurz die Luft anhalten. Es macht so Spaß mit ihnen zu arbeiten.

Zwei neue Schüler*innen

Die Türe des Klassenraums geht auf. Vor mir stehen die Direktorin, ein Vater und drei Kinder. „Maria, darf ich dir deine neuen Schüler*innen vorstellen? Das sind Bashira, Abdullah und Aladin. Bashira und Abdullah bleiben da. Aladin ist zum Übersetzen mitgekommen. Im Gegensatz zu seinen Geschwistern ist er schon seit drei Jahren in Österreich. Er kann gut Deutsch, ist die perfekte Unterstützung“, erklärt sie mir. Wir besprechen die minimalen Basics, Schlusszeiten und Hausschuhe. Daran hat Aladin schon gedacht. Er trägt seinen Geschwistern auf, diese aus ihren sonst leeren Taschen zu holen. 

Diese Augen

Zwei Tage schaue ich nun schon in Bashiras große, dunkle Augen, die bis zum Rand mit Tränen gefüllt sind, aber keine Träne tropft auf ihre Wange. Starrer Blick, kein Lächeln, keine Angst, keine Neugier.

Es ist kalt in Österreich. Den ganzen Vormittag lang sitzt Bashira in ihre dicke Winterjacke gehüllt. Die Schultasche steht hinter ihr auf der Sitzfläche des Sessels. Es wirkt, als wäre Bashira dafür gerüstet jederzeit die Klasse zu verlassen. Und dann fällt mein Blick wieder auf ihre Augen. Ich lächle sie an. Keine Reaktion. Vielleicht sollte ich die Maske abnehmen? Ich habe gelernt zu erkennen, wenn Menschen lächeln, die eine Maske tragen, Bashira wahrscheinlich nicht.

Zum Glück hat mein Kollege, er spricht arabisch und deutsch, in dieser Woche viel Zeit für Bashira und Abdullah. Ich bin so unendlich dankbar für unsere zweisprachigen Kolleg*innen, und ein bisschen neidisch. Meine Einsprachigkeit verdamme ich in diesen Tagen in Dauerschleife. Nicht immer reichen Gestik und Mimik. Ich will diesem traurigen Mädchen vermitteln, dass sie und ihr Bruder hier an unserer Schule, in dieser Klasse herzlich willkommen sind.

Ich habe keine Ahnung, was dieses Mädchen erlebt hat. Syrien, Türkei und jetzt Wien. Vermutlich fragt sie sich, wie lange sie dieses Mal bleiben darf. Sie hat Dinge erlebt, die ich niemals erleben musste. Tatsächlich habe ich keine Idee, wie es ist, auf der Flucht vor Krieg zu sein. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt in einem Flüchtlingslager zu leben. Ich kenne die Ungewissheit nicht, ob ich nun in diesem Land für immer bleiben darf oder nicht. Der Zwiespalt zwischen Sicherheit und Verlust der Heimat ist mir fremd. Das Einzige, was ich tatsächlich kann ist, ihr zu vermitteln, I feel you. Nur wie lege ich es an, dass sie mir meine Botschaft auch glaubt?

Ein Paar grüne Schuhe

In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch schlafe ich schlecht. Bashiras mit Tränen gefüllten Augen lassen mich nicht los. Ein Lächeln ist ihr noch immer nicht ausgekommen. Verdammt, was kann ich tun? Warum gibt es diese Geburtslotterie? Warum müssen Kinder Dinge erleben, die gar nicht für Kinderseelen bestimmt sind?

Am nächsten Morgen tausche ich mich mit Bashiras Klassenlehrerin aus. Ihr geht es ähnlich. Was kann sie Bashira Gutes tun, fragt sie mich. Wie kann sie ihr zeigen, dass sie ihr wohlgesonnen ist? „Mit Schokolade?“, fragt sie und sieht mich verzweifelt an. Ich zucke mit den Schultern. Ich glaube Schokolade kann nur wohlstandsverwöhnte Menschen zum Strahlen bringen. Lächerlich, denke ich mir. Wie konnte ich mich jemals über gute Schokolade freuen? Bin ich schon so abgestumpft?

Bashiras Blick ist immer noch der gleiche. Zugegeben, ein bisschen scheint sie aufgetaut zu sein. Sie hört ihrem Lehrer interessiert zu. Mein Lächeln erwidert sie noch immer nicht. Die Augen ihres Bruders scheinen mich zu prüfen. Wie ernst meint es diese alte Frau, die unzählige Male am Vormittag „Handy weg“ sagt, und das ziemlich laut. Er blickt sich in der Klasse um, sieht andere lachen. Erlebt Mansoor und Dejan, die so gar keine Berührungsängste mit ihren Lehrer*innen haben. Er öffnet sich, das spüre ich. Irgendwo ganz tief in meinem Herzen hoffe, ich dass auch Bashira begreift, dass diese Schule ein sicherer Ort sein könnte.

Als ich am Mittwoch von der Deutschförderklasse in die 2a wechsle, sehe ich Bashiras grüne Schuhe am Gang. Stimmt, sie hat noch keinen Spind. Nachmittags kaufe ich zwei Vorhängeschlösser. Mein Blick bleibt bei Schlüsselanhängern, die Sorgenpüppchen heißen, stehen. Es gibt sie in unterschiedlichen Größen, und sie sehen wie friedliche Monster aus. Bashira und Abdullah würden wahrscheinlich eines brauchen, dass die Größe einer Dreijährigen hat. Abdullah und ein Sorgenpüppchen? Nein, geht gar nicht, nicht für einen 14jährigen. Okay, ein Sorgenpüppchen und ein cooler Anhänger, auf dem Stürmer steht, das geht hoffentlich. Gesetzt dem Fall er mag Fußball. Müssen 14jährige Fußball mögen? Sollte ich mal meine Klischees hinterfragen? Was ist, wenn nicht? Dann steht der Begriff Stürmer symbolisch für seinen Neuanfang in Wien, beruhige ich mich selbst.

Sorgenpüppchen und ein Lächeln

Donnerstag in der Früh deute ich Bashira, dass sie mit mir mitkommen soll. Wieder guckt sie mich mit ihren großen, schwarzen Augen an. Ich murmle „Keine Angst! Und alles gut!“, wissentlich, dass sie mit diesen Worten nichts anfangen kann. Im Spindraum ist zum Glück Elma, ein Mädchen der dritten Klasse, die mir den Schlüsselring aufmacht. Ein Ding, an dem ich immer scheitere. Ich befestige das Sorgenpüppchen am Schlüssel, zeige Bashira, dass sie ihren Mantel und ihre Straßenschuhe hineingeben kann. Zeige ihr, wie das Schloss auf und zu geht. Werde kurz von massiven Zweifeln befallen, ob es okay ist, ihr die Jacke wegzunehmen, in die sich seit Montag verkrochen hat? Als wir in die Klasse zurückkommen, hält Abdullah den Schlüsselanhänger fest in der Hand. Zumindest diesbezüglich scheine ich einen Treffer gelandet zu haben. Bashira setzt sich neben ihn, schiebt ihre Maske aufs Kinn, und lächelt mich an. Auch sie gibt ihren Anhänger nicht aus Hand, knetet das Püppchen, dessen Bedeutung ich ihr dann erklären werde, wenn sie mich ein bisschen mehr versteht. Dann schreiben wir all ihre Sorgen auf kleine Zettelchen, stopfen sie dem Monster in den Bauch, und hoffen gemeinsam, dass diesmal alles gut wird. 

Zum Schluss

All jene Rassist*innen, die meinen, dass Familienzusammenführungen ein Kinderspiel wären, eine Leichtigkeit, etwas, das innerhalb kürzester Zeit möglich ist, sind an dieser Stelle zu unseren Elterngesprächen, die wir mit Videodolmetscher*innen führen, eingeladen. Erlebt Verzweiflung, Ratlosigkeit und Tränen von Erwachsenen, die seit mehr als sechs Jahren für ihre Familien kämpfen und urteilt dann ein zweites Mal. Folgt den Erzählungen dieser Menschen, die nur eines wollen. Ein Leben in Frieden und Sicherheit, zumindest für ihre Kinder.

Maria Lodjn ist Lehrerin an einer Wiener Mittelschule

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Willkommen, willkommen! Treten Sie ein!

Beim Betreten des hellen, lichtdurchfluteten Schulgebäudes begrüßt mich eine geräumige Aula mit einladenden Sitzflächen und viel Grün. Die Wände dokumentieren die unterschiedlichsten Projekte der Schüler*innen. Mit mir strömen mehrere Schüler*innen ins Gebäude. Die meisten Schüler*innen kämen eine halbe Stunde früher, erzählt jemand von der Schulleitung. Viele würden sich am Buffet ein kostenloses Frühstück holen, zum Lesen oder Social Media Update in die Bibliothek gehen bzw. sich mit ihren Freund*innen für eine Runde Tischtennis oder zum Austausch über den neuesten Gossip treffen. Mein wandernder Blick erheischt einige dieser gerade mitgeteilten Momente. Großzügige Aufenthaltsräume und -plätze mit verschiedenen Sitz- und Liegemöglichkeiten laden zum Verweilen, Arbeiten und Zusammensein ein.

Architektonisch orientiert sich das Gebäude nicht mehr an vielen, hermetisch abgeschlossenen, ehemals Klassenzimmer genannten Räumen. Vielmehr gibt es fachbezogene Räume. Diese sind mit den entsprechenden Utensilien ausgestattet und werden von den Schüler*innen aufgesucht, wenn sie sich mit dieser Thematik beschäftigen wollen. Dieselben weisen keine Reihe von Tischen und Stühlen auf, sondern sind mit Tischinseln und diversen Sitz- und Arbeitsmöglichkeiten ausgestattet. Je nach Bedarf gibt es so genug Platz für Einzel- bzw. Gruppenarbeiten. Wo gearbeitet wird, ist den Schüler*innen offen gelassen. Des Weiteren ist jeder der Räume mit dem höchsten Stand der Technik ausgestattet und verfügt über vielfältiges Arbeits- und Bastelmaterial, sodass keiner Gestaltungskreativität Einhalt geboten ist. Räume und Gebäude ohne PCs, Tablets und Beamer oder gar WLAN sind unvorstellbar.

Neben der Raumgestaltung hat sich auch der sogenannte Stundenplan verändert. Während der Vormittag überwiegend mit Lernsettings des Sach- und Fachunterrichts aufgebaut ist, schreiben sich die Schüler*innen nachmittags, nach einem gratis Mittagessen aus lokalen und biologisch angebauten Nahrungsmitteln, für Kurse ein. Diese können je nach Interesse sowie Neugier und für die Länge eines Semesters ausgewählt werden. Das Angebot reicht von vielfältigen Sportaktivitäten über Theater und Kunst bis hin zu Vertiefungskursen des Sach- und Fachunterrichts als auch Gartenbau und landwirtschaftlichen Kursen. Selbige sind nicht nach Geschlecht oder Alter getrennt und werden selbstredend von einem diversen Team organisiert und betreut. Dass viel zu lange andauernde in Reih und Glied sitzen und vorgekauten Stoff konsumieren ist passé. Heutzutage entscheiden die Kinder und Jugendlichen mit welchen Inhalten und mit welchen Schwerpunkten sie sich im Semester auseinandersetzen wollen. Diese Kurse lassen sich jedes Semester neu wählen. So können unterschiedlichste Eindrücke gewonnen werden. Gleichzeitig können bei Fortführung Vertiefungskurse belegt und so ein immer größeres Expert*innenwissen aufgebaut werden.

Der Schulort ist ein Ort der gelebten Demokratie. Die Leitung besteht aus einem gewählten Team, das sich die Aufgaben und Verantwortlichkeiten untereinander aufteilt. Unterstützt werden sie von einem personell ausreichend ausgestatteten Büro und Administration. Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen, die ausschließlich unserem Standort zugeteilt sind, ergänzen die psychosoziale Infrastruktur der Schule. Das Team stellt sich nach jeder Periode zur Wiederwahl. Schulinterne bewerben sich um Positionen innerhalb der Schule. Eltern und Schüler*innen haben eine jeweilige, gewählte Vertretung. Das Schulparlament trifft sich einmal im Monat zu Sitzungen und Abstimmungen zu Schulangelegenheiten. Da mittlerweile nur noch eine 25 Wochenstunde vorherrscht, Lehrer*innen mehrsprachig sind sowie Simultanüberstetzungen selbstverständlich sind, haben Eltern Zeit und Sprachbarrieren als Ausschlussmechanismus gehören der Vergangenheit an.

Kommen Sie näher und staunen Sie

Die Lernstation „Design your Life“ ist heute gut besucht. Über 20 Kinder und Jugendliche arbeiten altersübergreifend an ihrem persönlichen „Sinn“ des Lebens. Dazu haben die Lernbegleiter*innen verschiedenes Material und Modelle vorbereitet. Intensiv besucht ist auch der Exchange Room, der völlig selbstverständlich in mehreren Sprachen gleichzeitig stattfindet. Schüler*innen tauschen sich hier nach klassischen Regeln des radikalen Respektes miteinander aus, präsentieren Ideen und suchen Unterstützung und Feedback. Die mehrsprachigen Lernbegleiter*innen, die den Exchange Room moderieren, können selbst auch beitragen. Im Rahmen ihrer Ausbildung haben sie die üblichen Sprachstudien gemacht, sprechen mindestens zwei Fremdsprachen, wovon eine nicht europäischer Herkunft ist und kamen somit auch in den Genuss , eine völlig fremde Schrift zu erlernen. Im Rahmen ihres Auslandssemesters durften sie selbst im außereuropäischen Ausland leben, arbeiten und die Erfahrung machen, wie man sich in einer fremden Kultur, Schrift und Sprache zurechtfindet. Diese Erkenntnis ist obligatorisch, wenn man in Wien an einer Schule mit multiethnischer Schüler*innenschaft arbeiten möchte und hilft immens, sich in die Kinder und Jugendlichen, die ganz selbstverständlich altersübergreifend unterrichtet werden, hineinzuversetzen. Längst sind überall Videodolmetscher*innen implementiert, um die Zusammenarbeit mit den Eltern zu erleichtern und vor allem, um das Defizitgefühl der Eltern aufzufangen, wenn sie die deutsche Sprache nicht beherrschen. Schon lange verlangt man nicht mehr die deutsche Sprache von den Zugewanderten sondern sieht die multilinguale Kommunikation als eine große Bereicherung für diese schon immer mehrsprachig gewesene Stadt. Zu wichtig sind die Qualifikationen und Kompetenzen, die Menschen aus anderen Ländern in diese Stadt bringen, als dass man diese monate- und jahrelang mit ineffizienten Deutschkursen schikanieren muss. Da der Druck nun weg ist und „das Eintrittsticket in die Gesellschaft“ wegfällt, kommt die gemeinsame Sprache sowieso. Die Ghettoisierung hat sich durch die Gesamtschule weitestgehend aufgehoben, alle Kinder werden nun von gleich gut ausgebildeten Lehrkräften auf ihrem Lernweg begleitet und unterstützt.

Erfolgreich hat sich die Gewerkschaft dafür eingesetzt, dass alle Lehrer*innen, denen die neue Ausbildung noch nicht zu Teil wurde, alle 10 Jahre ein verpflichtendes Jahr in der Wirtschaft verbringen, um verschiedene Berufe kennenzulernen und ihren Schüler*innen besser und lebensnäher beim Berufseinstieg, beim Formulieren von Bewerbungen und bei der Berufswahl helfen können, weil sie selbst Spezialist*innen darin sind.

Teamteaching ist ebenso Teil der Ausbildung und über das reine Vermitteln von Unterrichtsstoff im Frontalformat lacht man heute, im Jahr 2049, oft noch herzlich in den gemeinsamen Lernbegleiter*innen- und Lerner*innenräumen bei einem selbstgezüchteten Kombucha. Fächer gibt es schon lange nicht mehr, ebenso wenig wie zeitlich durch eine Klingel begrenzte Stunden und Noten, um das Wirken der Kinder zu bewerten. Schulangst ist aus dem Duden gestrichen und die Bewerbung um den beliebten und gesellschaftlich geachteten Lehrberuf ist langwierig und komplex. Nur noch die Besten werden mit der Ausbildung der Menschen der Zukunft betraut und für ihren Einsatz entsprechend bezahlt. Dass Bildung einst vererbt wurde, kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Wir leben in einem Land, wir arbeiten in einer Stadt, die sinnvoll in Bildung investiert und entsprechende Ergebnisse dafür erhält.

Wagen Sie einen Blick in die Kristallkugel

Gleich neben dem Lernbüro meiner Kollegin sitze ich mit sieben Schüler*innen um einen Tisch. Ayse hat heute ein Zeugnis ihrer Großmutter mitgebracht. Weil Ayse lieber in ihrer Erstsprache türkisch kommuniziert, ist eine Kollegin an ihrer Seite, die bei Bedarf übersetzt. Eigentlich würden wir die Kollegin gar nicht brauchen, weil alle Schüler*innen und ich zurzeit gemeinsam Türkisch lernen. Aber, sie geht lieber auf Nummer sicher.

Das Zeitdokument Zeugnis liegt vor uns. „Damals gab es noch Noten“, erzählt Ayse.  „Noten? So wie in Musik?“, fragt Ella erstaunt. „Haben die dann das Zeugnis ihren Eltern vorgesungen?“, kichert Mansur. „Was wurde dann benotet? Und wie soll das gehen?“, staunt auch Elvetiano. Die Augen meiner Schüler*innen werden immer größer. „Meine Oma hat erzählt, dass sie meistens dann gute Noten bekommen hat, wenn sie still auf ihrem Platz gesessen ist, und schön geschrieben hat. Und dass sie, nachdem sie gelernt hat, immer alles gleich vergessen hat. Und dass vieles, was sie lernen musste, gar nichts mit ihrer Welt zu tun hatte.“ Ayse ist in ihrem Element. Sie ist sprachlich extrem begabt, und liebt es, wenn sie vor allen reden kann. Elena lacht mich an und sagt: „Würdest du mir also eine Eins geben, wenn ich das nächste Mal nichts verstanden habe, aber dafür mit meiner schönsten Schrift brilliere?“ Kluges Mädchen, denke ich mir. Sie ist graphisch eine der Besten. Mansur hat lange nichts gesagt, aber jetzt bringt er sich in die Diskussion ein. „Wozu oder warum gab es die Noten überhaupt?“ Ich versichere mich zuerst, ob nicht ein*e Schüler*in darauf antworten will. Das gehört auch zum Lernkonzept 2050. Expert*innen sind nicht wie selbstverständlich die Lehrer*innen, Vorrang haben die Schüler*innen. Nachdem keiner antworten möchte, erkläre ich den Begriff Leistungsgesellschaft. Diese hat längst ausgedient, zum Glück. Und als ich sage, dass in dieser Gesellschaftsform die Ansicht vorherrschte, dass es jede*r, der oder die wollte es schaffen würde, ein tolles Leben zu führen, unterbricht mich Mansur entrüstet. „Blödsinn. Das kann gar nicht gehen. Meine Großeltern haben immer gearbeitet, aber als sie dann in Pension gingen, waren sie arm. Sie hatten auch kein Geld, um zum Beispiel meinem Vater Nachhilfe zu bezahlen. Nachhilfe war so , dass du nach der Schule noch Privatunterricht bekommen hast. Weil die Schule es nicht geschafft hat, dir etwas beizubringen.“ 

„Aber, gab es in diesen Zeiten keine Lehrer*innen, die Noten und Leistungsgesellschaft kritisch betrachtet haben?“ „Und das haben sich alle gefallen lassen?“ „Und, war es wirklich so, dass viele Schüler*innen Angst hatten in die Schule zu gehen?“ Ich sehe, diese Einheit wird heute länger dauern. Immer mehr Fragen kommen auf. Viele, die ich nicht so leicht beantworten kann. Auch ich brauche eine Expertin oder einen Experten. Zum Glück sind Schulen im Jahr 2050 perfekt vernetzt. Eine Historikerin und Wirtschaftsfachfrau steht uns in einem Videochat Rede und Antwort. Nach drei Stunden, natürlich mit Pausen, verlassen die Schüler*innen das Lernbüro, nur Ella bleibt zurück. „Sag, wann hat dieses Umdenken eigentlich stattgefunden?“, will sie wissen. „Das war ein paar Jahre nach der Corona-Krise.“ „War das diese Pandemie? Können wir morgen darüber reden?“, fragt sie mich. „Gerne. Ich glaube meine Großmutter hat in der Zeit sehr viel darüber geschrieben“, antworte ich.  

Zurück zur Realität

Willkommen zurück im Jahr 2021. Die vergangenen 17 Monate haben uns alle viel Kraft gekostet. Aber sie haben uns deutlich wie nie zuvor die Mängel eines veralteten Bildungssystems aufgezeigt. Jetzt ist die Chance verkrustete Strukturen aufzubrechen, um diese Utopie wahr werden zu lassen. Fangen wir damit am besten morgen schon an. 

Maria Lodjn, Franziska Haberler und Jonathan Herkommer sind Lehrer*innen in Wien und im Redaktionsteam von Schulgschichtn.

Lesezeit: 3 Minuten

Zugegeben, die Abneigung gegen Elternsprechtage oder Elterngespräche nimmt mit den Jahren, die viele Lehrer*innen unterrichten, direkt proportional zu. Für alle Nicht-Mathematiker*innen: Je mehr Dienstjahre, desto weniger Lust auf die herkömmliche Elternarbeit. Das liegt in keinem Fall an den Eltern der Schüler*innen, sondern viel mehr daran, wie diese Gespräche ablaufen. Eltern, die sich, ob unterschiedlicher Barrieren defizitär fühlen, treten zum halbjährlichen Rapport an. 

Die Barrieren

Gerne werden diese Barrieren ausschließlich am sprachlichen Unvermögen in der Landessprache festgemacht. Es könnte, so hören wir es immer wieder, alles so einfach sein, würden die Erziehungsberechtigten gut genug Deutsch sprechen.  Ist dem tatsächlich so? 

Die gute Nachricht: Dieses Problem kann seit kurzer Zeit sehr leicht gelöst werden. Das Zauberwort heißt Videodolmetscher*innen.

Seit knapp einem Monat fördert die Stadt Wien an unserer Schule die Möglichkeit, zu Elterngesprächen professionelle Dolmetscher*innen per Livestream hinzuzuschalten. In 61 Sprachen kann konversiert werden, 13 davon sind ad hoc, also ohne jegliche Anmeldung verfügbar. Es ist ein wahres Aha-Erlebnis, mit den Eltern hier endlich auf Augen – oder eher Mundhöhe zu sprechen. Geschichten, Details, Informationen, Hintergründe sprudeln bald aus ihnen heraus und relevante Informationen (Gab es vorher überhaupt einen Schulbesuch?, Hatte das Kind schon immer Schwierigkeiten beim Rechnen? Steht gerade ein Umzug an?), die man sonst jahrelang nicht wusste und welche doch oft so relevant für die Förderung der Kinder sind, kommen plötzlich ans Tageslicht. Elterngespräche, die sonst häufig nur wenige Minuten dauerten, da das Unbehagen auf beiden Seiten groß war: Versteht er/sie mich? Verstehe ich sie/ihn richtig? Sage ich was Falsches? Was passiert, wenn ich etwas nicht verstanden habe? Wie oft darf ich nachfragen?

Diese Zeiten sind zum Glück vorbei und eine große Hürde wurde uns genommen, eine große Hilfe angeboten. Es erleichtert unsere Arbeit ungemein und wir sind wieder einen Schritt weiter in Richtung Fortschritt gewandert.

Tatsächlich gibt es aber noch weitere Hindernisse für ein gleichwürdiges Miteinander außerhalb der sprachlichen Diskrepanzen.

Gespräch unter Expert*innen

Wir sind der Überzeugung, dass es an viel mehr Dingen scheitert als ausschließlich an der Sprache. So entsteht im Umgang mit den Eltern zeitweise der Eindruck, Kolleg*innen würden nicht unterscheiden können, wen sie vor sich haben. Erwachsene, mündige Menschen werden zu gerne wie ihr Nachwuchs behandelt. Deutlich wird in derart geführten Gesprächen der Status-Unterschied demonstriert. „Ich bin die Lehrperson und werde wohl am besten wissen, wie ich mit meinen Schüler*innen umgehe“. Aus den Augen verloren wird, dass nicht nur Lehrer*innen, sondern auch Eltern Expert*innen für das betreffende Kind sind. In Wahrheit treffen zwei unterschiedliche Expert*innen an einem Tisch zusammen. Das wäre doch die perfekte Ausgangssituation für Auseinandersetzungen in Gleichwürdigkeit. Jede/r kann sein/ihr Wissen ins Spiel bringen, gemeinsam können Lösungen zum gelingenden Arbeiten gefunden werden.

Schwierige Eltern

Ja, auch Eltern können unangenehm sein, das steht außer Zweifel. Aber es würde sich auch in diesem Fall lohnen, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Viele Erziehungsberechtigte der Mittelschulkinder haben, wie ihre Kinder, auch „nur“ die Hauptschule bzw. die Mittelschule besucht. Sie haben schon am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, eine Schule zu besuchen, deren Ansehen gesellschaftlich nicht das beste war. Sie selbst haben oft schlechte Erfahrungen mit Lehrer*innen gemacht. Und manche waren so mies, dass sie nicht vergessen werden konnten. Ungleichwürdige Situationen triggern ganz schnell frühere Erlebnisse. Und selbst wenn man erwachsen ist, im Namen des Kindes hier ist, passiert es dennoch, dass man eben nicht erwachsen reagiert. Selbst auf die Gefahr hin, dass ein nicht gelungener Auftritt in der Institution Schule dem eigenen Kind sehr schaden kann. Sippenhaftung heißt das und trägt nur zu weiteren Gräben in der Eltern-Lehrer*innen-Beziehung bei.

Die falsche Reflexionskultur

Ein anderer Fakt ist, dass Eltern und Erziehungsberechtigte oft nur dann in die Schule geholt werden, wenn ein Problem aufpoppt, für deren Behebung jetzt mal die Eltern zur Verantwortung gezogen werden müssen. Wenn alles gut läuft, dann suchen Lehrer*innen nur in seltenen Fällen den Kontakt zu den Eltern. Wenige sind bisher dazu übergegangen zum Beispiel auch positives Verhalten ins Elternheft zu schreiben. „Stimmt, es heißt bei mir nicht Mitteilungs- sondern Elternheft. Ich weiß noch sehr genau, dass meine Schüler*innen zu Beginn sehr verwundert waren, wenn ich sie auf diese Art lobte. Noch erstaunter waren die Empfänger*innen der frohen Botschaften. So gab es einmal den Vater einer Schülerin, der sich bei mir telefonisch versichern wollte, ob die Nachricht eh nicht gefälscht wäre“, berichtet eine Lehrerin, und genau anhand dieser Anekdote lässt sich sehr schön aufzeigen, wie ungewohnt positive Rückmeldungen sind.

Eltern-Cafés?

Eine Möglichkeit wäre Eltern-Cafés, die ein Mal im Monat stattfinden. So könnten wir Räume für den Austausch schaffen, für eine positive Reflexionskultur.  Erziehungsberechtigte hätten im Rahmen dieser Veranstaltungen die Möglichkeit eines Austausches auf Augenhöhe, ohne Angst oder Unterlegenheitsgefühl. Ein Ort, den man besuchen kann, aber nicht muss. Das Sprichwort Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen, hält sich nicht von ungefähr seit Jahrzehnten. Zusammen, auf Augenhöhe, voll involviert. Das sind die Schlagworte der Elternarbeit. Und das Argument der fehlenden Sprache ist – Technik sei Dank – nun endlich keine Ausrede mehr!

Die Autorinnen sind Lehrerinnen an einer Mittelschule in Wien.

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Wann, wenn nicht jetzt, ist es Zeit, die Möglichkeiten zu nützen, die uns soziale Medien bieten? Uns zu bilden und zu vernetzen, dadurch die perfiden Mauern der Ausgrenzung, die für viele von uns lange Zeit unsichtbar waren, zu sehen und sie ein für alle Mal gemeinsam niederzureißen.“

Dieser letzte Satz aus Elisabeth Lechners Buch Riot, don’t diet!, erschienen im März 2021, gab den Anstoß für diesen Text.

Inspiriert durch den Gedanken einer Schönheitsrevolution, als Aufstand der (widerspenstigen) Körper gegen „Patriarchat und profitgetriebene Schönheitsindustrie“ möchte ich die Möglichkeiten zweier Jugendromane umreisen, die „perfide Mauer der Ausgrenzung“ aufgrund des Äußeren abzureißen. Bevor ich die zwei Jugendromane kurz vorstelle, will ich näher darauf eingehen, wieso es wichtig ist, sich mit Schönheit in der Schule und allgemein politisch auseinanderzusetzen.

In ihrem Buch zeichnet Elisabeth Lechner gekonnt und in verständlicher Sprache die sozial tiefverwurzelten Ausgrenzungsmechanismen in unserer Gesellschaft entlang des Diktats der (Norm)Schönheit wider.[1] So entschlüsselt Lechner Schönheit als „ein patriarchal-kapitalistisches Konstrukt weißer Vorherrschaft, das Frauen unterdrückt und die Schönheitsindustrie aufrechterhält.“ Körper und dadurch Menschen werden anhand des Faktors Schönheit/Attraktivität hierarchisiert und entlang der Achse „schön“/„hässlich“ ein- bzw. ausgeschlossen. Dicke, haarige, queere, schwarze und behinderte Körper werden als „hässlich“ oder „ekelig“ abgewertet, wodurch ihre Beschämung und Diskriminierung, ihre Disziplinierung und Unsichtbarmachung gerechtfertigt wird. Als Folge davon stoßen die markierten Körper permanent an soziale Grenzen und können sich nicht so frei durch Räume bewegen wie weiße, junge, nicht-behinderte und schlanke Körper. Body-Shaming[2] funktioniert hierbei als Disziplinierung widerspenstiger Körper. Betroffene leiden in weiterer Folge an einem verringerten Selbstvertrauen im Umgang mit anderen und ziehen sich vermehrt aus dem öffentlichen Leben zurück.

Vom exklusiven Konzept der Schönheit profitiert vor allem die Schönheitsindustrie. Sie befeuert sie geradezu. Tagtäglich konfrontiert uns ihre Werbung mit angeblichen Defiziten, die durch die beworbenen Produkte behoben werden könnten, wodurch wir ein defizitäres Körperbild und neoliberales Leistungsdenken internalisieren: Mit den richtigen Produkten und entsprechender Selbstdisziplinierung würden wir „schön“ und „erfolgreich“ werden. So wird Schönheit Leistung und schlussendlich Arbeit – Schönheitsarbeit. Schönheit wird zum Kapital, das Vorteile verschafft.[3] Weil in einer lookistischen[4] Gesellschaft wie der unseren „schöne“ Menschen unzählige Vorteile in der Arbeit, bei der Wohnungssuche, im Bildungsweg etc. genießen, ist jeder Körper dem „kommerzialisierten Zwang der Schönheitsoptimierung“ in unterschiedlichen Graden ausgesetzt.

Die Body-Positivity Bewegung stellt sich dem Diktat der Schönheit entgegen. Sie kritisiert die exklusive Vorstellung von Schönheit und ihre unrealistischen, neoliberalen Körperideale. Das Ziel war und ist die Selbstliebe des Körpers, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Behaarung, Körpertyps, Be_Hinderung etc. Ihre Mitstreiter*innen kämpf(t)en für die Aktzeptanz von Körpern in ihrer Vielfalt und für die Entwicklung eines positiven Körpergefühls. Das Konzept der Body-Neutrality betont die strukturelle Verschränkung von Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus bei lookistischer Diskriminierung und stellt den Wert von Schönheit als solchen in Frage. Es hebt den Schutz von Körpern in den Vordergrund und erinnert uns daran, dass wir unseren Körpern dankbar sein können, dafür dass sie uns durchs Leben tragen, und dass wir sehr viel mehr sind als diese Körper. Im Vordergrund steht der Ausruf, alle Körper, ungeachtet ihres Aussehens, in ihrem Da- und Sosein zu akzeptieren und zu feiern.

Diskriminierung aufgrund des Äußeren ist ein Riesenproblem. Gerade junge Menschen stehen unter enormem Druck. Der sich verändernde, pubertierende Körper allein ist schon eine Herausforderung. Erschwert wird die Adoleszenzphase durch ebensolche diskriminierenden und ausgrenzenden lookistischen Rahmenbedingungen.

Wie Lechner sehe ich die Wichtigkeit der Selbstliebe und Selbstfürsorge für die eigene Identität, fürs Selbstbewusstsein und den Umgang mit anderen. Ebenso stimme ich mit ihr überein, dass es bei der Arbeit an uns selbst nicht stehen bleiben darf (Body-Positivity). Es bedarf darüberhinaus der gemeinsamen Anstrengungen, um die gesellschaftlichen Strukturen des Patriarchats und des Rassismus niederzureißen (Body-Neutrality). Es bedarf des Aufstands der widerspenstigen Körper und die Verpflichtung der privilegierten Körper, ausgrenzenden Strukturen abzubauen und eigene Privilegien zur Unterstützung anderer zu nützen. Wie bringen wir diese Revolution in die Schule?

Nun, ich denke, dass Literaturunterricht ein wesentlicher Wegbereiter der Schönheitsrevolution sein könnte. Literatur schafft Bewusstsein und umgekehrt. Zuallererst können Bücher über (noch) unbekannte Welt- und Selbstbilder informieren. Dadurch schaffen sie Bewusstsein für eigene Vorurteile und Präsuppositionen, ermöglichen Perspektivwechsel und Empathie. Literatur, die dicke, haarige, schwarze, queere und behinderte Körper thematisiert, irritiert eigene Sehgewohnheiten, schafft Repräsentation und bietet Identifikationsmöglichkeiten abseits normierter, exklusiver Körperbilder. So kann der Wert Schönheit in Frage gestellt, eigene Verhaltensweisen reflektiert und Dellen, Haare, Rundungen etc. als schön und liebenswert erlernt werden. Denn wir alle müssen diese internalisierten Denk- und Sehmuster aktiv verlernen. Es gilt, sich selbst und seine Umgebung anders sehen zu lernen und das eigene Handeln zu verändern. Dies gelingt, wenn eigene blinde Flecken sowie eigene Privilegien erkannt werden (können). Wenn weiße, junge und schlanke Menschen anfangen mitzudenken, wie es anderen geht, mithelfen, die Welt inklusiver und für alle Körper lebenswert zu gestalten, können wir eine Welt gestalten, in der die Rolle des Aussehens an Wichtigkeit verliert. Literatur kann dabei helfen, unsere eigene Betroffenheit durch die gelesene Erfahrung anderer zu reflektieren, die eigene Positioniertheit in der komplexen Gesellschaft zu bestimmen und darauf aufbauend aktiv zur Verbesserung des Zusammenlebens aller beizutragen. Zu guter Letzt schafft der literarische Austausch eine Basis der Vernetzung. Und Vernetzung ist zentral. Sie ermöglicht Bandenbildung, die die Last von Betroffenen durch Support aller Art abnehmen kann. Sie bildet die Grundlage politischer Arbeit. Und Schönheit ist politisch.

Diese angerissenen Eckpunkte ermöglichen einen ermächtigenden Umgang mit dem Thema Schönheit. Literatur bietet so einen Ausgangspunkt, Schönheit neu zu denken und zu verhandeln, sich von unrealistischen Erwartungshaltungen zu emanzipieren und Menschen und ihre Körper in all ihrer Vielfalt und Mannigfaltigkeit oder in ihrem Da- und Sosein zu lieben und wertzuschätzen.

Im Folgenden möchte ich nun zwei Bücher[5] vorstellen, die sich mit lookistischen Ausgrenzungserfahrungen Jugendlicher auseinandersetzen. Beide eignen sich in meinen Augen hervorragend, Schönheit als „exklusives Konstrukt patriarchal-kapitalistischer, weißer Vorherrschaft“ herauszuarbeiten und dieses mithilfe der oben genannten Schritte zur Schönheitsrevolution umzuwerfen. Zum einen ist das der Roman Die Königinnen der Würstchen von Clémentine Beauvais (2019). Der andere Roman trägt den Titel Tanz der Tiefseequallen und wurde von Stefanie Höfler verfasst (2017).

Ersterer erzählt die Geschichte dreier Teenager Mädchen – Astrid, Hakima und Mireille – aus einer französischen Kleinstadt, die auf Facebook von einem Mitschüler zu den drei Würstchen des Jahres in Gold, Silber und Bronze gekürt wurden – der Preis zu den „hässlichsten“ Mädchen der Schule. Während Mireille seit drei Jahren dem Mobbing ihrer Mitschüler*innen ausgesetzt ist und sich Abwehr- und Umgangsstrategien zurecht gelegt hat, trifft die Welle des Hasses und der Beschämung die zwei anderen, neu hinzugezogenen zum ersten Mal. Doch die drei beschließen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Statt sich beschämen zu lassen, vernetzen sie sich und bilden eine Bande, um Widerstand zu leisten. Zusammen entschließen sie sich zu einem Fahrrad-Trip nach Paris. Neben der unfreiwilligen Preisverleihung verbindet sie nämlich ein gemeinsames Ziel: die große Party im Élysée Palast am Nationalfeiertag. Zur Finanzierung des Road-Trips entscheiden sie sich, in einem selbstgebastelten Fahrradanhänger Würstchen zu verkaufen. So beginnt eine herzzerreißende, chaotische und selbstermächtigende Reise, die für alle drei Unerwartetes mit sich bringt. Und es ermöglicht ihnen und dadurch den Leser*innen, sich mit unseren unrealistischen gesellschaftlichen Schönheitsidealen und ihren ausschließenden Funktionen auseinanderzusetzen. Kritisch erwähnt werden muss auf jeden Fall das Cover der deutschen Ausgaben; zeigt dieses doch wahrlich keine Körper außerhalb der Schönheitsnorm. Das böte sich hervorragend als weiterer Diskussionspunkt in der Klasse an.

Der andere Roman berichtet von den Jugendlichen Niko und Sera. Abwechselnd erzählt der Roman aus der Perspektive der beiden Hauptfiguren, wodurch die Leser*innen einen tiefen Einblick in das Innenleben der beiden erhalten. Sera und Niko gehen in dieselbe Klasse. Doch während Niko aufgrund seines fülligen Erscheinungsbildes von den Klassenkameraden gemobbt wird und von der Gemeinschaft ausgeschlossen wird, gilt Sera als Klassenschönheit, die das diskriminierende Verhalten gegenüber Niko zwar nicht gutheißt, doch aus Angst vor Ausgrenzung selbst nicht einschreitet. Auf einer Klassenfahrt eilt ihr Niko gegen den übergriffigen Mädchenschwarm Marko zur Seite. In weiterer Folge lernen sie sich näher kennen und entwickeln beidseitig zarte Gefühle der Zuneigung, die von sozialen Strukturen der Fettfeindlichkeit auf die Probe gestellt werden. Vor allem Sera sieht sich mit eigenen Vorurteilen konfrontiert. Im fortschreitenden Verlauf verfolgen wir Seras Auseinandersetzung, sich Niko als ihren Freund und begehrenswerte Person vorzustellen. Schreibdidaktisch eröffnet der Roman viele Wege. Zum Beispiel ließe sich das offene Ende fortsetzen. Dabei könnte auch ein Augenmerk auf die unterschiedliche Sprachverwendung der Figuren gelegt werden.

Abschließend möchte ich beide Jugendromane allen Lehrer*innen ans Herz legen, die gegen Body-Shaming und für eine Schönheitsrevolution kämpfen möchten. Doch egal ob privat oder für die Schule, sie bestechen durch Charme, literarischer Qualität und die angesprochenen Themen. Denn es braucht tagtägliche Anti-Diskriminierungsarbeit, weil unsere Gesellschaft nach wie vor durch Ausschlüsse vor allem mehrfachmarginalisierter Körper in Politik und Öffentlichkeit, der Medien- und Filmlandschaft wie auch Literatur gekennzeichnet ist. Es ist an der Zeit politisch aktiv zu werden und Schönheit neu zu denken. In diesem Sinne: Riot, don’t diet!

Jonathan Herkommer ist Lehrer an einer BHS in Wien



[1] Folgende Inhalte und Gedanken beruhen auf Elisabeth Lechners Buch (2021), auf der Alexandria Podcastfolge: Schönheitsideale – Mit Elisabeth Lechner (14.7.20) sowie auf der Reihe Kontrovers der Münchner Stadtbibliothek: Zwischen BodyShaming und Body Postivity. Körperbilder in der Jugendliteratur (10.5.21)

[2] Body-Shaming bezeichnet die lookistische Diskriminierung, Beleidigung und Demütigung aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes. Als „hässlich“ oder „ekelig“ geltende Menschen werden abgewertet (Lechner, 2021, 23f.).

[3] vgl. zusätzlich Elisabeth Lechner/Christian Berger Bericht zu Schönheitsarbeit (9.5.21)

[4] Lookismus beschreibt die Stereotypisierung und Bewertung von Menschen aufgrund ihres Äußeren – „schöne“ Menschen werden aufgewertet, „hässliche“ abgewertet. Der Begriff wird verwendet, um die Normierung von Körpern und damit einhergehende Diskriminierungen und Ausschlüsse zu beschreiben (Lechner, 2021, 23).

[5] Ich danke Elisabeth Lechner für die Buchempfehlungen.

Lesezeit: 5 Minuten

Wenn es um die Auswirkungen der Corona-Krise auf Schüler*innen geht, bedient man sich dieser Tage großer Worte und schicksalschwangerer Rhetorik. Während die einen noch von einem verlorenen Jahr sprechen, wähnen andere bereits eine gesamte Generation als verloren.

Lauscht man diesen Einschätzungen und Urteilen ist man versucht zu glauben, dass Corona lediglich Kinder und Jugendliche ausgebremst hätte, während alle anderen weiter gelebt haben wie bisher. Man stellt sich vor, wie diese Kinder und Jugendlichen im vergangenen Jahr nichts weiter getan haben, als fernzusehen und Playstation zu spielen.

Auch macht sich ein bisschen Erleichterung breit: Gott sei Dank haben wir endlich einen guten Grund. Endlich wird das schlechte Gewissen, das schon jahrelang still an uns nagt, von unseren Schultern gehoben. Wir können aufatmen, denn nicht mehr wir tragen mit daran Schuld, dass viele dieser Kinder vergessen werden, nicht die Zuwendung und Förderung bekommen, die sie bräuchten,  sondern nun ist es Corona. Wir können aufhören uns zu fragen, wie und warum unser Schulsystem bereits seit Jahrzehnten Kinder strukturell benachteiligt, warum Übertrittsempfehlungen nach der Volksschule noch immer eher anhand des Vornamens als anhand der Leistung gegeben werden und zuletzt – und das ist es, was uns wirklich aufatmen lässt – wir werden von der Pflicht befreit, uns zu fragen, was wir gegen all das schon längst hätten tun können. 

Jetzt ist die Regierung gefragt. Wir brauchen große Schritte. Man schütte digitale Endgeräte aus und alles wird besser. Man verspreche medienwirksam zusätzliche Stunden und alles atmet auf. Wo diese Geräte und Stunden tatsächlich gelandet sind und ab wann sie zum Einsatz kommen wird wohl niemand mehr fragen. Hoffentlich. 

Nein, so zynisch, wie es hier klingt, bin ich in Wahrheit nicht. Aber ja, es ist frustrierend, was wir nicht erst seit einem Jahr mitansehen müssen. Es ist frustrierend, dass es einer Pandemie bedarf, damit endlich zögerlich der Blick auf jene gerichtet wird, die sonst gerne übersehen werden, an den Rand und in die „Restschulen“ geschoben werden. Doch wieder ist die Aufmerksamkeit, die sie bekommen, negativ. Wir sprechen von jenen, die nicht erreicht werden, die abtauchen, die überfordert sind. Wir trauen uns kaum zu fragen, warum sie nicht erreicht werden und untertauchen. Und am allerwenigsten wollen wir wissen, was wir dagegen tun können und wie wir diesen Zustand hätten vorbeugen können. Dabei war ein Großteil der Kinder die im vergangenen Jahr „verloren“ gegangen sind, auch davor schon im Verschwinden begriffen. Vielleicht weil sie mit ihren Bedürfnissen übersehen wurden, weil nicht nachgefragt wurde, warum sie so oft fehlen oder unkonzentriert wirken. Vielleicht weil sie seit Jahren in einem System stecken, das ihnen vermittelt, dass sie sich noch so sehr anstrengen können, es aber nicht schaffen werden. Ein System, dass sie wieder und wieder als unzureichend abstempelt, das sie alleine lässt und so nach und nach ihre Motivation und ihre Lernfreude bricht.

Neue Situation – alte Muster

„Die Krise zeigt auf, was schon so lange schief läuft.“ Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich diesen Satz im vergangenen Jahr gehört, gelesen und vermutlich auch selbst gesagt habe. Gut, dass wir endlich hinschauen, weil es nicht mehr geht wegzuschauen. Traurig, dass es eine globale Krise dafür braucht. Und dennoch, auch im Hinschauen wiederholen wir Fehler und folgen wir jenen Mustern, die uns so vertraut sind: über Mittelschüler*innen herziehen, das Verlorene hervorstreichen, ihre Defizite beleuchten. Weil sie nicht ermutigt werden sich zu äußern, weil sie weder eine öffentliche Stimme noch eine gut vernetzte, eloquente Lobby haben, werden Mittelschüler*innen wieder nicht gehört. Wir sprechen (berechtigterweise) ausführlich darüber, wie Maturaprüfungen angepasst und Deadlines für vorwissenschaftliche Arbeiten verschoben werden, weil sie in der momentanen Situation nicht zumutbar sind. Über die Zumutbarkeit einer MIKA-D Deutschprüfung, die seit Beginn der Pandemie nur marginal angepasst wurde, spricht kaum jemand. Einem Kind wie Djamal*, das 3 Wochen vor den Schulschließungen im März 2020 nach Österreich kam, ist doch ohne weiteres ein Test zuzutrauen, der komplexe grammatikalische Strukturen voraussetzt, die auch in manchen Teilen Österreichs keineswegs zur Selbstverständlichkeit gehören. Während sich Maturant*innen sorgen, ob sie als der Corona-Jahrgang abgestempelt und ihre Abschlüsse weniger wert sein werden, müssen sich Kinder wie Djamal sorgen, durch die endlose und teils sinnlose Wiederholung von Schuljahren (die Folge eines nicht bestandenen MIKA-D Tests), überhaupt die Chance auf einen Pflichtschulabschluss zu haben. Sowohl die Sorgen der Maturant*innen als auch Djamals Sorgen sind ernst zu nehmen, verdienen öffentliche Aufmerksamkeit und ein Entgegenkommen in der momentanen Situation. Aber die Tatsache, dass die Matura angepasst wird, während die MIKA-D Prüfung praktisch abgehalten wird wie eh und je zeigt auf, dass wir sogar noch unter dem Deckmantel der Krisenbewältigung reproduzieren, was „schon so lange schief läuft“. Wir hören jene, die für sich selbst sprechen können, die sich ihrer Rechte bewusst sind und sie einfordern können und wir übersehen wieder die, die wir auch sonst so gerne an den Rand stellen und denen niemand eine Stimme gibt. 

Das Gute zum Schluss

Als Lehrerin wurde ich in letzter Zeit immer wieder gefragt, ob ich dem Bild des „verlorenen Jahres“ zustimme. Allein diese Frage wirft für mich eine Reihe weiterer Fragen auf. Was ist es, was es im vergangenen Jahr zu verlieren gab? Ist jede Fähigkeit, die bei der Bewältigung einer Situation abseits des Lehrplans erforderlich ist, wertlos und ihr Erwerb damit vernachlässigbar? Warum wird die Frage spezifisch im Hinblick auf Schüler*innen gestellt? Warum wird nicht gefragt, was wir alle tun können um die Versäumnisse dieses Jahres aufzuholen und die Langzeitfolgen für „unsere“ Kinder so gering wie möglich zu halten? Warum werden wir auch jetzt nicht müde den „Stoff“ über alles andere zu stellen? 

Um selbst nicht zu wiederholen, „was schon so lange schief läuft“, werde ich nun nicht mit einer Aufzählung jener Dinge abschließen, die im letzten Jahr für unsere Schüler*innen tatsächlich verloren gingen. Das wurde in den letzten Monaten mehr als genug beleuchtet. Ich will das Muster durchbrechen und den Fokus auf die Gewinne dieses einzigartigen Jahres richten. 

Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Ich traue mich zu behaupten, dass die digitale Kompetenz jeder Schülerin und jedes Schülers (und vieler Lehrkräfte) gestiegen ist. Ganz egal ob am Laptop, Tablet oder „nur“ am Handy – die Notwendigkeit zu digitaler Kommunikation und Lernen hat ganz nebenbei zu einer Reihe neuer Kompetenzen geführt. 

„Das mach ich später, ich habe noch so viel Zeit“. „Nur noch eine Folge.“ „Ich mache mir erst etwas zu essen, dann…“ Genau wie die allermeisten im Homeoffice wurden auch Schüler*innen mit ihrem inneren Schweinehund konfrontiert. Doch sie haben gelernt mit ihm zu leben, sich ihre Zeit einzuteilen und es geschafft sich selbst immer wieder zu motivieren. Das letzte Jahr hat sie in Selbstständigkeit und Eigenverantwortung geschult. Fähigkeiten, die in einem streng in 50 Minuten Einheiten getakteten Unterricht, in dem oftmals nicht einmal die Farbe des Stiftes selbst gewählt werden muss, nur sehr selten trainiert werden. Ein klarer Gewinn dieses Jahres also, und ein Denkanstoß für mögliche Weiterentwicklungen des klassischen Unterrichts.

„Ich verstehe das nicht“ – „Was verstehst du nicht?“ – „Alles.“ In der Schule sind Konversationen wie diese an der Tagesordnung. Als Lehrkraft holt man dann tief Luft und beginnt wieder von vorne zu erklären. Im vergangenen Jahr war eine deutliche Veränderung in dieser Fragekultur beobachtbar. Während am Beginn des Homeschoolings die Fragen noch hundertfach und nach ebendiesem Muster auf uns einregneten, wurden sie im Laufe des Jahres immer präziser und ausgewählter. Schüler*innen haben also gelernt, sich erst selbst mit einer Aufgabenstellung auseinanderzusetzen, sich gegenseitig zu unterstützen, sich selbstständig Informationen zu beschaffen und konkrete Fragen zu formulieren. In dieser Tatsache liegen gleich mehrere Gewinne: Durchhaltevermögen, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit, selbstständige Informationsbeschaffung, sprachliche Präzision und – vermutlich am bedeutendsten: Verantwortungsübernahme für das eigene Lernen. 

Nein, es ist kein verlorenes Jahr. Es ist ein Jahr, das uns allen unendlich viele Lerngelegenheiten bietet. Ja, es ist tatsächlich auch ein Jahr, das uns gezeigt hat, was wir lange nicht sehen wollten. Ein Jahr, das uns das Angebot macht, alte Muster zu überdenken und von hier an neue, gerechtere und inkludierendere Wege zu beschreiten, in denen alle eine Stimme haben. Nehmen wir dieses Angebot an. 

*Name von der Redaktion geändert.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.