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Seit einigen Wochen gibt es zwar kein Allheilmittel gegen Corona, wohl aber eine (wenn auch umstrittene) Methode, die Kinder wieder in die Schulen zu lassen. In Österreich heißt er „Nasebohrertest“, nicht gegendert, und ist ähnlich unkompliziert wie er klingt.

Ich teste

Schon vor den Semesterferien in Wien durfte ich – ja, auch die Lehrer*innen – mir morgens bei Schulbeginn ein Stäbchen in die Nase stecken, ein bisschen drehen, dann von B nach A in den Umschlag einführen, Tröpfchen drauf, drehen und kurze Zeit später erschien ein roter Strich, der zum Betreuen und/oder Unterrichten zuließ. Bei den meisten Kindern lief dies ähnlich unkompliziert ab. Wie viel Popel und rötliche Nasenschleimhaut ich dabei bewundern durfte, erwähne ich nicht, schließlich ist es für das Allgemeinwohl und da scheut man als gute*r Lehrer*in auch nicht vor körperlichen Ausscheidungen zurück.

So weit, so unproblematisch.

Du testest

Als das Ganze dann in dem Bundesland, in dem meine Kinder leben, stattfand, erlebte ich, dass es auch kompliziert geht. Die Volksschule meiner Tochter hatte weder die Tests vorbereitet, noch die Räumlichkeiten organisiert. So ließ man uns Eltern bei -12 Grad eine Viertelstunde draußen stehen, um Testkits und Mülleimer zu finden. Die Lehrer*innen hatten keine Ahnung vom Prozedere, obwohl es in Wien schon lange implementiert war und man sich zur Not auch einfach das Video auf der Homepage des Bildungsministeriums hätte anschauen können. Gut, mit durchgefrorenen Fingern schulte ich Eltern und Personal ein, zwei Minuten, erledigt. Alle negativ, alles gut.

Er testet

Zwei Tage später kam eine SMS, dass mein Sohn an seinem ersten Schultag seit fast zwei Monaten an seiner AHS positiv getestet worden sei. Der Contact-Tracing Link, der mitgesendet wurde, funktionierte nicht, 10 Stunden und fünf E-Mails später wurde das technische Problem gelöst. Fünf Seiten Formular galt es nun auszufüllen. In der Zwischenzeit wartete mein 14-jähriger Sohn mit acht(!) weiteren positiv getesteten Kindern in der Schule. Man sprach von einem Cluster – das die Kinder sich seit knapp acht Wochen nicht gesehen und keinen Kontakt miteinander hatten, wurde ignoriert. Auch der Aufruf, den Test einfach zu wiederholen.

Er wird getestet

Rachenabstrich in der Schule, alle Kinder negativ. Überraschung. Wieder zwei verpasste Schultage – die einzigen in dieser Woche, ein aufgeregtes Kind und für mich gut zwei Stunden Formulare ausfüllen, Telefonate führen, Bescheide lesen. Alles auf Deutsch. Bürokratendeutsch wohlgemerkt. Ich spreche ziemlich gut deutsch, bin ich doch in Deutschland geboren und habe die Sprache zudem studiert – doch „Absonderungsort“ steht nicht im Duden.

Wir werden getestet

 „Ein allfälliger Anspruch auf Vergütung eines eventuellen Verdienstentganges gemäß § 32 Epidemiegesetz ist gemäß § 33 iVm § 49 leg.cit. binnen 3 Monaten vom Tag der Aufhebung der behördlichen Maßnahme…“, versteht wer?

„Dies hat unter Vermeidung aller dazu unnötigen Kontakte zu erfolgen. Insbesondere dürfen keine öffentlichen Verkehrsmittel benützt werden.“

Wenn ich dies und weiteres lese, denke ich an meine Schüler*innen in Wien.

Wenige der Eltern sprechen Deutsch auf B2 Niveau, welches Niveau dieser Bescheid ist, vermag ich selbst als geprüfte DaZ-Lehrkraft nicht zu sagen. Und wird im letzen Abschnitt tatsächlich ein Auto vorausgesetzt?

Wir dürfen Corona nicht zu einem Luxusproblem machen. Ich verstehe die Problematik – einerseits muss alles rechtskonform, korrekt, demokratieschlüssig sein – andererseits niederschwellig und mehrsprachig. Ja, das ist eine Herausforderung. Aber nicht unschaffbar. Wir wissen, dass wir besonders in Wien nicht von einer kleinen Minderheit sprechen, die von dieser Berücksichtigung profitieren würde.

Er wird nicht getestet

Und dann gibt es die Eltern, deutschsprachig oder nicht, die ihre Kinder nicht testen lassen wollen. Denen eine vermeintlich „blutende Nasenschleimhaut“ schlimmer scheint, als weitere acht Wochen Schulausfall. Sie sind beratungsresistent und unterstützt von fadenscheinigen Verschwörungstheoretikernetzwerken. Der Grad zwischen Fakt und Fake ist schmal. „Wir haben ja gar keine Wahl!“ beschwert sich eine Mutter. Doch wer hat eigentlich versprochen, dass man immer eine Wahlmöglichkeit im Leben hat?

Derzeit können wir alle nicht wählen. Wir handeln. Wir reagieren. Wir versuchen in dieser Zeit unserer Aufgabe nachzugehen und bestmöglich unsere Kinder zu unterstützen. Nicht nur beim Lernen.

Die Autorin ist Lehrerin in einer Mittelschule in Wien.

Lesezeit: 3 Minuten

Damals

Meine Großeltern kommen aus dem damaligen Jugoslawien. In den 1960er Jahren kamen sie, wie viele andere, auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben nach Österreich. Dort lernten sie sich kennen. Meine Mutter wurde dann schon in Wien geboren.

Obwohl beide in Wien geboren wurden, erzählt meine Mutter ganz anders über ihre Schulzeit als mein Vater. Auch ihr Bildungsweg verlief sehr anders, obwohl die beiden Leben sich schon sehr früh kreuzten. Mit 10 Jahren waren beide am vermeintlich selben Punkt angekommen: eine erste Klasse in einem Gymnasium in Wien.

Der Weg trennt sich

Nach der 2. Klasse wechselte meine Mutter allerdings in die Hauptschule, mit einem Nicht genügend in Mathematik. Ein einziges Nicht genügend. Mit ein bisschen Nachhilfe wäre es vielleicht nicht so weit gekommen, aber Nachhilfe war in ihrer Familie kein Thema. Dazu war einerseits das Geld nicht da, andererseits sah man darin auch keinen Sinn. Auch die Lehrer*innen waren keine Hilfe: „Tschuschnkinder haben hier nichts verloren.“ Meine Mutter beendete schließlich die Hauptschule und machte eine Lehre. Sie hat ihren Weg gefunden. Dass sie nicht am Gymnasium bleiben konnte, die Matura gemacht hat und vielleicht sogar studieren war, das ist bis heute ein wunder Punkt.

Heute

Dreißig Jahre später. Durch Zufälle bin ich Lehrerin geworden. Meine eigene Schullaufbahn verlief unspektakulär. Auch wenn ich selbst keinen Migrationshintergrund habe (beide Eltern in Österreich geboren) – die Geschichte meiner Mutter ist ein Teil von mir.

Seit einigen Jahren unterrichte ich nun an einer Mittelschule. Die Hauptschule, nur mit neuem Namen. Und immer wieder frage ich mich – erging es meiner Mutter genauso wie einigen meiner Schüler*innen?

Sabina*, 14 Jahre. Sabina war auch ein Jahr am Gymnasium, bevor sie mit einem Fünfer in Mathematik an die Mittelschule wechselte. Ich unterrichtete Sabina in meinem ersten Lehrjahr. Sie war damals in einer 3. Klasse. Sie war eine der besten Schüler*innen der Klasse, eigentlich wirkte sie die meiste Zeit unterfordert. Als ich sie nach ihren Erfahrungen am Gymnasium fragte, meinte sie, sie hatte nicht das Gefühl, das man sie dort haben wollte. Die Lehrer*innen hätten sie kaum unterstützt, und immer wieder Kommentare über ihren Migrationshintergrund gemacht. Ihre Texte wurden anders benotet. Dabei spricht Sabina perfektes Deutsch.

Marina*, 16 Jahre. Als ich Marina das erste Mal traf, war sie erst seit wenigen Wochen in Österreich. Sie saß in einer ersten Klasse Mittelschule, obwohl sie eigentlich schon 12 Jahre alt war und in ihrem Herkunftsland schon sechs Jahre Schulbildung hinter sich hatte. So kann sie sich zumindest vorerst auf das Deutschlernen konzentrieren, dachten wir uns. Nach einigen Wochen war klar: Marina lernt schnell. Zwei Jahre später war sie Klassenbeste. Und sie hatte einen Traum: Ärztin werden. Also entschieden wir gemeinsam mit ihr und ihrer Familie, dass ein Wechsel ins Gymnasium das beste für sie wäre. Am Ende ihres ersten Schuljahres im Gymnasium telefonierten wir. Sie erzählte davon, wie schwierig es war dort anzukommen. Die Deutschlehrerin fragte sie, warum sie denn überhaupt gewechselt hätte, wenn sie doch nicht perfekt Deutsch kann. Der Mathematiklehrer meinte, sie wäre selbst Schuld wenn sie Themen, die sie an der Mittelschule noch nicht gelernt hatte, nicht beherrschen würde. Sogar die Sportlehrerin fragte sie, ob sie denn an der Mittelschule nichts gelernt hätte. Ich wusste nicht, was ich Marina sagen sollte. Sie meinte, wenigstens die Mitschüler*innen hatten gesehen, wie sehr sie sich anstrengte und wie gut sie in kurzer Zeit Deutsch gelernt hatte.

Alen*, 10 Jahre. Alen ist der Sohn einer Verwandten mütterlicherseits. Er schloss die Volksschule mit einem ausgezeichneten Erfolg ab, nur Einser und ein paar Zweier. Ich fragte meine Verwandte, ob er nun ins Gymnasium gehen würde. Sie verneinte. Die Volksschullehrerin meinte, dass die Mittelschule der bessere Weg für ihn sei. Und sie weiß auch nicht, wie sie ihn im Gymnasium gut unterstützen kann. Also kommt er eben in die Mittelschule.

Man könnte sagen, diese Geschichten sind Einzelfälle. Wer einen tieferen Einblick in dieses System bekommen hat, der weiß: Das sind keine Einzelfälle. Das ist struktureller Rassismus. „Tschuschnkind“ sagt zwar niemand mehr, aber sonst hat sich seit dreißig Jahren kaum etwas verändert: wer Migrationshintergrund hat, dem werden in unserem Bildungssystem viele Steine in den Weg gelegt.

*Namen von der Redaktion geändert.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.

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Das magische Tabu

Er ist gnadenlos, machtbesessen, verbreitet Angst und Schrecken. Wagt es jedoch jemand seinen Namen auszusprechen, droht demjenigen ein übles Schicksal. So wird nur in kleinen geheimen Kreisen über ihn geflüstert. Harry Potters Narbe an der Stirn schmerzt, wenn er in seiner Nähe ist. Es ist, Sie wissen schon, wen ich meine.

Nein, Lord Voldemort ist in der Mittelschule nicht allgegenwärtig, und auch leide ich nicht an hochgradigem Realitätsverlust. Aber wir haben auch ein Problem dieser Art. Kaum jemand spricht darüber, wenn nur in kleinen, wohlvertrauten Kreisen.  Wir schütteln die Köpfe und bestätigen einander Fassungslosigkeit. Dann stehen wir wieder in den Klassen. Denn von offizieller Seite hat es unser Problem lange nicht gegeben.

Wir haben ein Problem. Sie wissen schon.

Als in den Sommerferien Generation Haram von Melisa Erkurt erscheint, verschlinge ich das Buch innerhalb von 48 Stunden. Ein Buch, das das System Schule gebraucht hat. Denn die Autorin spricht unter anderem jenes Problem an, über das bis dahin immer noch Stillschweigen geherrscht hat. Sie spricht über Rassismus. Über jenen Rassismus, der von Lehrer*innen ausgeht und die Schüler*innen bis ins Mark trifft. Über Alltagsrassismus, den es immer schon gegeben hat und der bis heute nicht aus den Schulen verschwunden ist.

Ein kurzer Rückblick

Ich unterrichte seit fast dreißig Jahren an der Mittelschule. Schon in der Ausbildung wurde uns von vielen Lehrer*innen vermittelt, dass früher alles besser war. Nämlich als die Schüler*innen noch Hansi, Lisi und Wolfgang hießen. Da war die schulische Welt noch im Lot. Aber wir, also die, die vor 30 Jahren zu unterrichten begonnen haben, würden diese Zeit der Hansis nie mehr erleben, unsere Realität werden Alis und Zehras sein.

Meine Klassenliste liest sich wie das türkische Telefonbuch,“ hat mir eine meiner Betreuer*innen damals erklärt. Dazu kamen dann jene Kolleg*innen, die mir tatsächlich nahelegten meine Berufswahl zu überdenken. Noch hätte ich die Chance es mir anders zu überlegen. Das Lehrer*innnendasein wäre heutzutage, also vor 30 Jahren, kein Honiglecken mehr.

Ich habe mich zum Glück nicht abschrecken lassen. Ich empfand die Klassengefüge nie als defizitär. Im Gegenteil, ich hatte von Beginn an das Gefühl in wache, interessierte Augen zu gucken. Ich bewunderte von Anfang an den Mut und die Ausdauer dieser Schüler*innen. Was mich schon zu der Zeit abschreckte, war diese geballte Ladung an Rassismus. Würde ich das aushalten?

Die alltäglichen Bemerkungen

Nahezu 30 Jahre sind vorbei. Ich habe nicht nur an einer Schule unterrichtet. In zahlreichen Fortbildungen habe ich Kolleg*innen aus allen schulischen Bereichen kennengelernt. Es waren und sind großartige Kolleg*innen dabei, die mich bewusst oder unbewusst in meiner Berufswahl bestärkt haben oder bestärken.

Aber, mich umgeben in den unterschiedlichsten Settings auch jene, deren rassistische Haltung für mich immer unerträglicher wird. Deren Bemerkungen, die ihnen so im Laufe des Tages auskommen, mich kalt erwischen und verstummen lassen.

Das wird man doch noch sagen dürfen,“ wurde und wird mir bis heute erklärt. Ich möge nicht so empfindlich sein. Schließlich sagt man das den Schüler*innen nicht ins Gesicht.

Also, das wird man doch noch sagen dürfen

Ja was eigentlich?

Bei uns sind die A-Klassen die Vorzeigeklassen. In den anderen Klassen ist nur mehr der Schrott. Kaum einer hat österreichische Eltern.

Wie soll ich unterrichten, wenn in meiner Klasse heuer vier „Nix sprechta Kinder“ sitzen?

Jetzt hat die auch schon so einen Fetzn am Kopf.

Der N (das N-Wort ist gemeint) und der Asoziale haben sich in der Gangaufsicht in die Pappn gehaut.

Wo ist der Araber?

Die Z-Oma (das Z-Wort ist gemeint) hat sich schon wieder beschwert.

Nurhan heißt die? Knurhan wäre besser, passt auch zu ihrem Gesicht.

Ich mag die Serben nicht, mit denen kann ich gar nicht. Die sind alle faul.

Also bei uns funktionieren die Türken besser.

Früher war alles besser. Da hat es noch die Heime gegeben, wie die Hohe Warte (das Kinderheim Hohe Warte war eines der berüchtigsten Kinderheime in Wien). Da hast dann solche hin abschieben können.

Die versteckt sich hinter ihrem Kopftüchl.

Der Maximalpigmentierte aus der 1. Klasse.

Stinkfaul, Z (das Z-Wort ist gemeint) eben.

Typisch türkisches Mädchen. Sitzen eh nur die Schulpflicht ab und heiraten dann.

Wenn es den Eltern nicht passt, dann sollen sie ihr Kind abmelden und sich zurück am Balkan schleichen.

Die Analphabeten-Mutter.

Der Kollege, der im Sommer die Liste seiner künftigen Schüler*innen im Internet veröffentlicht hat, der ist ein unglaublich toller Kollege. Der liebt die Kinder. Die Liste war nur ein Scherz unter Freunden.

Fikrije? Die heißt tatsächlich so? Na bumm. Hoffentlich ist der Name nicht ihre zukünftige Bestimmung.

Mit diesem Material (gemeint sind die Schüler*innen) kann ich nicht arbeiten. Ich bin dafür nicht ausgebildet.

Diese Aufzählung zu vervollständigen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Sie stellt einen minimalen Auszug aus unterschiedlichen Settings aus dreißig Jahren Unterrichtstätigkeit dar.

Es ist an der Zeit

Viel zu lange habe ich weggehört. Habe geschluckt, und wenn es mir tatsächlich zu heftig geworden ist, kopfschüttelnd das Lehrer*innenzimmer verlassen. Zu Beginn fühlte ich mich zu jung, zu unerfahren, um auf Bemerkungen dieser Art zu reagieren. Ich war zu feig und bin es heute zum Teil auch noch. Lange habe ich mich damit begnügt, Menschen mit dieser Gesinnung aus dem Weg zu gehen, sie in Gedanken zu blockieren. Lange glaubte ich, es würde reichen, Menschen mit dieser Haltung zu verachten. Dann habe ich begonnen vorsichtig das Gespräch zu suchen. Ab und zu wurde ich lauter. Bewirkt hat das leider nicht viel. Außer der Tatsache, dass mich, so ich im Lehrer*innenzimmer bin, eisiges Schweigen umgibt. Die Kolleg*innen tauschen sich dann maximal über ihre kleinen Wehwehchen aus.

In Wahrheit helfen solche Tür-und-Angelgespräche gar nichts. Es ist an der Zeit, dass Rassismus an Schulen zur Chefsache und nicht mehr verschwiegen wird. Lehrer*innen, die sich in dieser Art äußern, brauchen Hilfe. Denn die Aussagen, die oft verharmlost werden, spiegeln eine eindeutige Haltung wider.

Und ich?

Ich lerne, dass ich mir Verbündete suchen muss. Gemeinsam steht es sich leichter auf. Und zum Glück gibt es überall, in jeder Schule, in jeder Fortbildung, Menschen, die meine Ansichten teilen.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.


Für Betroffene von Rassismus oder Diskriminierung gibt es in Österreich mehrere Beratungsstellen, an die man sich wenden kann. Eine vollständige Liste wurde uns dankenswerterweise von der Initiative für ein diskriminierungsfreies Bildungswesen zur Verfügung gestellt.

Lesezeit: 3 Minuten

Die Tage sind noch immer lang und dunkel – Zeit für eine Sage, ein Märchen, eine kleine Gedankenreise in die Bildungslandschaft. Stellen wir uns die Landschaft bildlich vor, so ähnlich wie Mittelerde: Sanfte grüne Hügel, manchmal Häuschen und Häuser, mal Steppe, mal Großstadt. Mittendrin, als Lebensader von allem, ein breiter Fluss. Mal sanft, mal reißend. Mal still und tief, mal breit und fröhlich plätschernd. Er passt sich der Landschaft an und ist daraus nicht wegzudenken. Parallel dazu der reißende AHStrom. Landesweit einheitlich und gut organisiert. Schnell, gerade, einladend. Aber eben nur für manche. Für die „Auserwählten“, die diesmal nicht Teil unseres Abenteuers sind.

In unserem Fluss schnellen Fische fröhlich hervor, und unermüdlich springen die Lachse flussaufwärts, bereit ihre Eier heile anzulegen.

Doch etwas sticht dann und wann heraus. Mal größer, mal kleiner, mal vermehrt, mal vereinzelt. Es sind große, quaderförmige Betonklötze, die diese Einheit stören. Manche sind ein bisschen weniger eckig als andere, haben sich ein bisschen an das Fließen des Wassers angepasst. Einige viele hingegen sehen noch genauso aus, als wären sie gerade eben erst aus der Fabrik gekommen. Der Lehrerfabrik. Damals galt Zucht und Ordnung, Wissen wurde frontal vermittelt, daraus entwickelte sich Bildung und wer sich widersetzte, wurde mit schlechten Noten gestraft.

So oder so ähnlich visualisiere ich die österreichische Mittelschule. Während es hunderte fleißiger, anpassungsfähiger und mutiger Lachse gibt, stechen doch oft diejenigen ins Auge, die sich nicht bewegen. Gestärkt durch das inneliegende Stahlgitter, das sich Gewerkschaft nennt, und das sie diese Form behalten lässt. Nichts gegen Gewerkschaften – sie haben Wunderbares geleistet und ermöglicht auf dieser Welt, haben vielen eine Stimme gegeben und Bedingungen verbessert, sie sind absolut notwendig. Doch sollten sie Gräten sein, flexibel, unterstützend und stabil, nicht stahlhart und unbeugsam. „Das musst Du nicht!“ ist ihr Motto. Und das scheint seit 30 Jahren unverändert.

Die Betonklötze unterrichten oft seit vielen Jahrzehnten. Häufig an der gleichen Schule. Es gibt sogar einen Begriff dafür, den habe ich aber vorsichtshalber vergessen. Und pragmatisiert sind sie, was jedoch nichts Pragmatisches an sich hat. Es bedeutet einfach nur, dass sie ungehindert im Auftrag des Staates wirken dürfen. Finanziert von den Steuergeldern aller. Die Overheadfolien, die sie aus ihren verstaubten Aktentaschen klauben, haben 1985 auch nicht anders ausgesehen und der Overheadprojektor ist der letzte lebende Dinosaurier im Klassenzimmer. Während die Schüler*innen flink mit ihren Smartphones drumherumwieseln, wirkt der OHP wie ein Relikt aus Zeiten, in welchen Projektion und vergrößerte Zweidimensionalität noch Staunen hervorriefen. Die VHS Kassetten, die seit Jahrzehnten dasselbe Unterrichtsthema abhandeln, quietschen und ruckeln, und die Kinder juchzen ob der unerwarteten Special-Effects – bevor sie höflich vorschlagen, doch lieber die aktuelle Version auf Netflix zu streamen.

Doch der Betonklotz weiß nichts von Streamen, strömt doch auch der Fluß seit Jahren unbemerkt an ihnen vorüber, ohne dass sie eine Bewegung wahrnehmen.

Die flinken Lachse werden, wenn wahrgenommen, oft sanft belächelt, und leise murmelt es unter Wasser: Du wirst auch noch zur Ruhe kommen, wirst auch noch aufhören Dich abzumühen – Du musst das nicht! Wir alle müssen uns nicht anstrengend. Wir sind sicher und gut geschützt und was damals funktionierte, kann heute nicht schlecht sein.

Dass sich die Welt in den letzten Jahren gesellschaftlich und technisch um Lichtjahre verändert hat, kann man in dieser Haltung getrost ignorieren.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Es gibt wunderbare alte Lachse, die mit viel Kraft und Lebenserfahrung uns allen ein Vorbild sein können und sind, die unermüdlich seit ebensolanger Zeit fantastische Arbeit leisten und sich auch nach dreißig Jahren noch hochmotiviert und emphatisch um jeden und jede einzelne ihrer Schüler*innen kümmern. Sie sind Lachse geblieben und haben sich nie in Betonklötze verwandelt. Und dann gibt es die kleinen und jungen Lachse, die beim stromaufwärts fliegen verwundert auf die Betonklötze stoßen und sich denken – „Hä, warum strenge ich mich so an? So scheint es ja auch zu gehen. Gmiatlich, hoit!“ Und sie werden langsamer und grauer, statischer und stiller und treten früh ihre Verwandlung an. Deswegen ist es nicht genug zu warten, bis der Kran der Pensionierung die Betonklötze an ihren Stahlhaken aus dem Fluss befördert. Deswegen müssen wir wieder mehr Lachse züchten, die voller Stolz, Mut und Eifer ihre mühsame Aufgabe auf sich nehmen und sich nicht entmutigen lassen, wenn sie mal wieder beim Schwimmen der Extrameile mit dem Lachsmaul gegen einen Klotz gestoßen sind.

Lachse, die sich den Gegebenheiten anpassen und nicht ignorieren, dass die Welt um sie nicht stehen geblieben ist, Lachse, die sich fort- und weiterbilden und das lebenslang. Lachse, die manchmal staunend den Kopf aus dem Wasser heben und sich darüber freuen, dass sie hier sein dürfen. Teil des großen Ganzen sein dürfen und ihren Teil dazu beitragen.

Panta Rhei.

Nur eben Betonklötze nicht.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Wien.

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Ein Bericht zur Realität in der Mittelschule

Es ist vollkommen verständlich, dass, will man in Österreich leben, sich auch in Deutsch verständigen muss. Logisch. Die Landessprache ist Deutsch und die muss man beherrschen können – in Wort und Schrift. Ach, und der schöne, weiche Akzent im österreichischen Deutsch macht die Sprache nur noch angenehmer.

Dafür nimmt ein zugewanderter, elfjähriger Schüler sogar in Kauf, erstmal nicht in eine Klasse zu kommen, die seinen Vorkenntnissen und seinem Alter entspricht. Die Familie denkt sich: Ach geh! Er wird es schon schaffen. Bald hat er Schulfreunde, alle sprechen Deutsch untereinander und in den Fächern, in denen er in seinem Heimatland gut ist, wird er auch glänzen.

Die Traumgedanken wurden alle über den Haufen geworfen. Aber nicht nur durch die Pandemie, sondern auch durch eine Lernsystematik der deutschen Sprache, die einem Spießrutenlaufen gleicht, wobei das Ziel MIKA heißt.

Anfang 2020 zogen meine Enkelkinder (6 und 11) nach Wien und mein Enkel wurde in die 5. Klasse eingestuft – entspricht der 1. Klasse Mittelschule. In seinem Heimatland hatte er die 5. Klasse mit sehr guten Noten schon abgeschlossen. Er war ein gesprächiger, lustiger und guter Schüler. Er hatte sich – also nicht nur er, sondern wir auch – schon vorgestellt, wie Mathe und Erdkunde und Geschichte in Deutsch sein würden. Und, dass er bald Physik lernen würde.

Von wegen! Nach dem Deutschunterricht durfte er zum „normalen“ Unterricht rübergehen. Alle von der Deutschförderklasse. Er verstand diesen oder jenen Teil des Unterrichts (nicht zu vergessen, er hatte die 5. Klasse ja schon gemacht), aber es schien normal zu sein, dass die Deutschförderklasse nur geduldet wurde, denn keine/keiner bekam ein einziges Mal ein Übungsblatt, als dieses ausgeteilt wurde. Soll das Integration heißen? Als Schüler*in der Deutschförderklasse wird man nicht in den normalen Unterricht integriert. Man ist dabei und zählt doch nicht als Mitglied. Dabei wäre das so wichtig, die Übungen mitzumachen!

Und die Kommunikation?

Na, wie war dein Tag heute?“ Gemurmel war die Antwort.

Erzähl doch mal! Was habt ihr heute gelernt? Und deine Schulkolleg*innen? Sprecht ihr ein bisschen Deutsch untereinander?

Die lakonische Antwort: „Nein!“ „Ja, warum denn? Hast du keine Klassenkolleg*innen? Sitzt du alleine da? Kinder reden doch immer miteinander. Und du magst doch so zu sprechen.

Ich kann aber kein Türkisch, kein Arabisch, kein Hindi, kein Rumänisch, kein Bulgarisch und kein Kroatisch. Und keiner kann Portugiesisch!

Ok, dafür seid ihr ja in der Deutschförderklasse. Alle lernen Deutsch zusammen.

Du verstehst nicht Oma, sie bilden Gruppen und sprechen untereinander in ihren Landessprachen, ich spreche Englisch mit dem einen und dem anderen.

Na, das wird ja heiter!“, dachte ich mir.

Das System der Deutschförderklassen ist so auf das Deutschlernen fokussiert, dass es einen wichtigen Teil des Erlernens einer Sprache vergisst – nämlich den Gesellschaftskontext.

Man erlernt keine Sprache um mit sich selber oder mit der Wand zu sprechen. Man erlernt eine neue Sprache, um zu kommunizieren. Zur Kommunikation muss ein Wille da sein, der durch eine Notwendigkeit ausgelöst wird. Diese Notwendigkeit entsteht, wenn man etwas erklärt, wenn man etwas haben möchte, wenn man etwas erzählt oder wenn man verstehen möchte, usw. Diese Situationen finden nur statt, wenn man in einer Gruppe integriert ist. Gedankenaustausch mit der Wand funktioniert vielleicht bei Eigenbrötlern, aber nicht bei Kindern. Sie brauchen Gesellschaft.

Plötzlich war aber das nur eines der Probleme. Es kam ein größeres dazu. Die Pandemie wurde ausgerufen und alle mussten zuhause bleiben. Meine Tochter war mit meiner kleinen Enkelin beschäftigt, die auch einen Berg von Übungsblättern zu bewältigen hatte, und die noch nicht richtig lesen und schreiben konnte. So ging der Hilferuf über den Ozean an die Oma.

Es ist frühmorgens, irgendwann Ende April. In Brasilien 5.15 Uhr, in Wien 10.15. Ich habe es geschafft, mich pünktlich an den Computer zu setzen (nicht immer ging das so schnell). Seit drei Wochen helfe ich meinem Enkel sich in den Übungsblättern zurechtzufinden. Schwere Entscheidungen muss er verstehen und treffen: der-das-die? Den oder dem? Er hatte eine Mappe bekommen, in der wahllos Übungsblätter für den normalen Deutschunterricht reingelegt waren. Zuerst habe ich mal diese organisiert, von einfach zu schwer, vom Nominativ zum Dativ, usw. Das letzte Blatt waren Übungen zum Relativpronomen. Es hat lange gebraucht, bis wir dieses Blatt anfingen.

Ich verstehe, dass alle Lehrkräfte plötzlich vor unerwarteten Herausforderungen standen. Es gab keinen Plan für die Deutschförderklassen. Die Übungsblätter von der ersten Mappe waren der damals aktuelle Grammatikstoff der 5. Klasse. Aber die Erklärungen dazu? Woher und wie sollten die Schüler*innen wissen, wie die Übungen zu machen wären? Das Warum-Wieso-Weshalb fehlte. Was machten diejenigen, die keine*n Privatlehrer*in zuhause hatten?

Fotos von den Übungsblättern wurden geschickt, ich suchte im Internet nach, um sie für mich runterzuladen. Bis auf ganz wenige, fand ich alle. Whatsapp und der Computer liefen auf Hochtouren, bis das Handy heiß wurde. Aber am Schluss waren wir beide stolz, dass der Präsens schon mal richtig konjugiert worden war.

Es folgten noch zwei weitere Mappen mit Übungsblättern, auch aus dem Internet. Diese aber waren logischer aufgebaut, was sehr geholfen hat.

Doch ohne die Sprachkenntnisse umsetzen zu können, war das negative MIKA-Resultat vorauszusehen. Nochmals Deutschförderklasse im zweiten Halbjahr. Doch vorher kam das Sommer-Camp. Mein Enkel war so glücklich, dass er endlich Gleichaltrige treffen und normalen Unterricht in Deutsch geben würde! In diesen zwei kurzen Wochen hat er sein Selbstbewusstsein stärken können, denn er durfte seine Vorkenntnisse zeigen, Erfahrungen teilen, hat Freundschaften geschlossen und wurde wieder gesprächig, auch in Deutsch.

Im zweiten Halbjahr lief der ganze Schulunterricht online. Täglich drei bis vier Stunden. Eine Meisterleistung der Lehrkräfte. Dadurch bildeten sich keine Gruppen, alle saßen im gleichen Boot, alias vor dem Computer, es durfte nur Deutsch gesprochen werden und mit dem Verstehen und Kommunizieren verlief das Deutschlernen leichter. Mein Enkel bewältigt seine Aufgaben schon lange alleine.

Der zweite Anlauf auf den MIKA-Test steht auf dem Programm. Mittlerweile ist mein Enkel zwölf geworden. Und wenn er es nicht schafft, muss er in der Deutschförderklasse noch ein Semester bleiben? Und wenn er es schafft, muss er die ganze 1. Klasse Mittelschule wiederholen? Also nochmal die 5. Klasse? Dann ist er mit vierzehn in der 2. Klasse Mittelschule, wo das normale Schulalter zwölf ist. Erst mit zwanzig bekommt er seinen Abschluss? Was nützt es dann überhaupt Deutsch zu büffeln, wenn er vom Regen in die Traufe und nicht vorwärts kommt? Warum gibt es keine Zwischenlösung für diejenigen aus den Deutschförderklassen, und MIKA-Testler mit positiven Ergebnissen, sodass diese Schüler*innen am Ende eines Schuljahres eine Prüfung ablegen, die es ihnen ermöglicht, den Sprung in die nächste höhere Klasse zu wagen? Für Mathe, Chemie und Physik braucht man nicht viele Deutschkenntnisse, für Musik, Zeichnen, Malen, Werken und Sport auch nicht. Aber man lernt etwas sehr wichtiges: Freundschaften aufbauen, Gruppenarbeit, anderen helfen, von seinen Erfahrungen erzählen können, Gedanken austauschen. Die Texte über die Römer könnten auch im Parallel-Deutschunterricht bearbeitet werden und so das Verstehen der Grammatik erleichtern. Wie interessant kann doch ein Erdkundeunterricht gestaltet werden, wenn man den halben Globus bei sich in der Klasse sitzen hat?

Aber, das Gefühl „des-doch-nicht-dazu-Gehören“ haftet während der ganzen Zeit, in der Deutsch gefördert wird. Es gibt keine plausible Erklärung dafür, dass Deutsch so gelehrt werden muss, außer des sturen Pragmatismus. Warum wird Grammatik nicht erklärt sondern gepaukt und auswendig gelernt, wie anno dazumal? Listen und Listen. Viele waren von Webseiten, die eher Deutsch für den Erwachsenenunterricht lehrten.

Hut ab. Den Schüler*innen von Deutschförderklassen meinen großen Respekt. Diese Kinder müssen eine große Disziplin haben, die viele Erwachsene nicht besitzen. Sie müssen nur Hürden bewältigen. Eine nach der anderen. Es geht gar nicht um Integration. Im Grunde spielt diese keine Rolle mehr. Man muss Deutsch richtig sprechen, dann muss man den MIKA-Test schaffen und erst dann geht man in das normale Leben wieder zurück, sprich in den echten Unterricht. Erst dann existiert man! Aber ein normaler Unterricht ist das nicht, wenn man nicht unter Gleichaltrigen sitzt. Der Unterschied in der Auffassungsgabe von zehnjährigen zu elfjährigen ist groß und wird noch größer zu vierzehnjährigen.

Es wird von Kindern erwartet, dass sie sich grammatikalisch richtig ausdrücken und nicht, dass sie sich aufgenommen fühlen, dass sie kommunizieren, dass sie sich integrieren. Eine soziale Parallelklasse wird aufgebaut, für die die Chancen zum Arbeitsmarkt oder zum Zugang auf die Uni schon so früh erschwert werden.

Die Autorin lebt in Brasilien und ist Großmutter von zwei Kindern, die in Wien eine Mittelschule besuchen.