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Abenteuer Mittelschule

Es ist vollbracht! Nachdem an der Schulform Mittelschule in den vergangenen Jahren kein gutes Haar gelassen wurde, sich die Politik für Schüler*innen dieses Schultyps nicht zu interessieren scheint und auch in diversen Medien die Negativberichte klar überwiegen, kommt das Problem des Lehrer*innenmangels schneller als erwartet auf uns zu. Denn all die oben aufgezählten Punkte haben zur Folge, dass viele Student*innen gar nicht mehr an der Mittelschule unterrichten wollen, außer besagte Schule ist in einem kleinen Dorf am Land, wo angeblich alles noch besser sein soll. Es ist eine Entwicklung, die absehbar war und ist.

Gemeinsame Unterstufe und das neue Lehramtsstudium

Der Traum von der einer gemeinsamen Unterstufe für alle 10 bis 14jährigen scheint ausgeträumt zu sein. Das Festhalten an jenem Modell, das wir seit Jahrzehnten bedienen, nämlich der Trennung nach der Volksschule in privilegiert und weniger privilegiert, lässt keine grundlegenden Änderungen zu. Immer noch will man Eliten heranziehen und diese hübsch fein vom Pöbel trennen. Der Niedriglohnsektor will bedient werden, also darf der Nachwuchs nicht fehlen. Das Fatale aber ist, dass die Pädagog*innenbildung neu ursprünglich auf einer gemeinsamen Unterstufe aufbaute. Prinzipiell ist zu begrüßen, dass AHS und MS Lehrer*innen die gleiche Ausbildung erfahren. Lange Zeit wurde auch in diesem Bereich fein säuberlich getrennt, die einen für den Pöbel, die anderen für die Elite. Der Gedanke, dass man defizitär ist, wenn man nur sechs Semester an der Pädag studiert hat, ist irgendwann auch in mir kurz aufgepoppt. Gut, dass sich darüber niemand mehr den Kopf zerbrechen muss. Im Austausch dafür machen sich manche Lehramtsstudierende andere Gedanken. Da geht es zum Beispiel darum, dass man verhindern will, jemals an einer Mittelschule eingesetzt zu werden. Prinzipiell kann es jeden und jede treffen, außer es gibt die gewählten Unterrichtsgegenstände an einer Mittelschule nicht. Es kommt also auf eine „kluge Auswahl“ an. Ja, und selbst wenn man in der Mittelschule einen Zwischenstopp macht, länger als ein Jahr kann niemand dazu gezwungen werden. 

Ein kurzer Einblick in meinen Alltag

Es ist 10 Uhr. Theoretisch ist die Pause zu Ende. Als ich zur Schule ging, bedeutete das die Schüler*innen auf ihrem Platz gestanden sind und auf die Ankunft des Lehrers/der Lehrerin warteten. Okay, es gab dieses eine Kind, das bei der Klassentüre wartete, um dann zu brüllen: „Sie kommt!“ Spätestens dann war es ruhig. Im Schlepptau hatte sie, die Lehrerin, eine besonders angepasste Schülerin, die der Lehrerin die Tasche oder die Unterlagen trug. „Setzt euch!“ Segnung erteilt, der Unterricht konnte beginnen.

Zu Beginn meiner Lehrer*innentätigkeit agierte ich ähnlich. Wobei ich nie zuließ, dass ein Schüler oder eine Schülerin meine Tasche oder Hefte trug. Das kam mir von Anfang an ziemlich bescheuert vor. Mag daran liegen, dass ich nie im Leben nur einer Lehrerin oder einem Lehrer irgendetwas hinterher getragen hätte.

Zurück ins Jahr 2022. Die Klasse, die ich jetzt beglücken sollte, hat das mit dem Pausenende nicht so richtig realisiert. Fünf Schüler*innen nehme ich vom Gang mit. In der Klasse spielen vier Kinder Tischfußball, sieben hängen am trotz Handyverbot an diesem, aber sie sitzen auf ihrem eigenen Platz. Meine Stunden beginnen dann, wenn alle ihren Platz gefunden haben. Aufstehen, bitte nicht. Nein, das ist kein Akt der Höflichkeit, sondern einer des Gehorsams. Mein Arbeitgeber ist das Bildungsministerium und nicht das Bundesheer. Ich warte noch weitere drei Minuten. Ha, jetzt könnte es gehen. Da zeigt ein Mädchen auf. Sie ist am Verdursten. Schuld ist die quietschtrockene Wurstsemmel. Ein Problem, das sich lösen lässt. Ich schicke sie zum Wasserhahn. Die anderen Schüler*innen gucken mich erwartungsvoll an. Sie wollen zeichnen und  fast alle haben Lust mitzumachen. Ich genieße die drei Minuten Stille, und fange zu erklären an. Hat länger gedauert, aber was soll es. Zeit ist ohnehin relativ.

„Eine schwierige Klasse“, höre ich immer wieder. Stimmt, ein Waldspaziergang ist das Unterrichten hier nicht, mehr eine Art Abenteuerurlaub. Man weiß nie, was im nächsten Moment passieren könnte.  So ist es auch heute. „Elvira weint“, ruft ihre Sitznachbarin in die Stille. Vier Schüler*innen springen auf, weil sie erstens wissen wollen, warum sie weint und zweitens sie trösten wollen. Ich gehe auch zu Elvira. „Was ist los?“ Elvira schluchzt mir vor, dass ihre Oma gestorben ist. Also nicht ihre Oma, so eine Art Leihoma. Dragana wird blass. „Oh mein Gott. Wie alt war sie?“ „Vier-schluchz-und-schluchz-fünfzig.“  Dragana, nicht mehr blass, dreht sich um und sagt: „Ah so! Ist eh schon alt.“

Die Wogen sind geglättet, es kehrt wieder Ruhe ein. Elvira wurde mit Taschentüchern, Wasser und Schokolade versorgt. Nach einer abermaligen klitzekleinen Unruhe bedingt durch Wasser und Malkasten holen, sind alle beschäftigt und im Flow.

Schwierige Klassen, na und!

Unter schwierig kann man sich unterschiedliche Dinge vorstellen und ausmalen. Kriminelle, bildungsresistente und lernunwillige Schüler*innen. Solche, die ihre Pflichtschulzeit absitzen und dann ihre kriminelle Laufbahn endlich vollzeit ausüben können. Solche, die mit Messern in die Schule kommen, und alles, was sich ihnen in den Weg stellt, kurz und klein schlagen. In diesen Klassen stellt man sich vor, kann ja nicht einmal unterrichtet werden. Da muss man dann Sozialarbeiter*in sein, und nicht Stoffvermittler*in. Letzteres streben ja viele an, die den Lehrer*innenberuf anstreben. Vornehmer formuliert, will man den Kindern und Jugendlichen etwas beibringen. 

Ja, ich gebe zu, wir haben schwierige Klassen. Jene Klasse, von der ich ein bisschen weiter oben erzählt habe. 24 Individualist*innen, die mich gemeinsam immer wieder vor Herausforderungen stellen. Die dafür sorgen, dass mir in meinem Beruf nicht langweilig wird. Die mir, die ich nie ausschließlich die hohe Kunst der Mathematik vermitteln wollte, mit ihrem Verhalten zeigen, wie wichtig es ist, dass es uns gibt. Solche, die manchmal nur uns MS-Lehrer*innen als Lobby haben. Aber mein subjektives Empfinden von schwierig unterscheidet sich deutlich von dem der wagen Vorstellung der konservativen Politiker*innen, manch angehenden Pädagog*innen und der Boulevardpresse.

Ein Blick hinter die Fassade

Was die Personen, die sich vor der Mittelschule fürchten, einmal tun sollten, ist einen Blick hinter die Fassade zu machen. In der besagten Klasse mache ich das täglich und entdecke so wunderbare Kleinigkeiten, die mir das Herz aufgehen lassen.

Weil wir aufgrund von Corona nicht in die Sporthalle gehen sollten, weichen wir, so es das Wetter zulässt in den Park aus. Schnelles Gehen ist besser als gar keine Bewegung.

Ich: Zieht euch um. Wir gehen in den Park.

Ali: Mit oder ohne Stäbchen?

Ich: Womit?

Semih: Oida, können wir nicht lieber Kebab essen gehen? 

Angi: Du sollst Sport machen, damit du dünner wirst. Essen ist kein Sport, da wird man fetter.

Semih: Okay, zuerst Park und dann Kebab.

Ich: Semih, finde ich nicht so gut. Nicht jeder hat Geld mit. Und, dass dann ein paar euch beim Essen zugucken, finde ich nicht so prickelnd.

Semih: Wieso? Alle, die Geld haben, geben Geld. Da kann jeder in der Klasse Kebab haben.

Semih ist ein schwieriges Kind, ohne Zweifel. Aber für diese, für seine Klasse würde er sich das letzte Hemd ausziehen, und für seine Klassenvorständin. Sie ist toll, auch wenn ihr hin und wieder berechtigter Weise die Energien ausgehen. 

Um die Weihnachtszeit erzählen mir die Schüler*innen, dass sie ihr ein ganz tolles Geschenk machen wollen, weil sie so ein großes Herz hat, und ihnen, der Klasse, so viel gibt. Und das wollen sie ihr zurückgeben. Zehn- und elfjährige Kinder haben ohne die Hilfe von Eltern oder Lehrer*innen ziemlich viel Geld gesammelt. Jede/r hat gegeben, was er konnte. Als die Summe noch nicht passt, legt Semih noch was dazu. „Hab ich von meinem Onkel bekommen, für mich. Aber besser für Frau R.“, erklärt er.

In dieser Klasse können alle sein, wie sie wollen. Es ist völlig egal, dass Nurhan mit 12 Jahren blickende Sportschuhe trägt. Es ist nebensächlich, dass Elvira schwer übergewichtig ist. Es ist unerheblich, dass Rohid immer die gleichen Klamotten trägt und ab und zu nicht so gut riecht. Wenn es hart auf hart geht, dann setzten sie sich auch für die Klassenkolleg*innen ein, die ihnen manchmal selbst fest auf die Nerven gehen.

Darum unterrichte ich in der Mittelschule

Klassen, wie diese, sind der Grund, warum ich nach fast 30 Jahren immer noch gerne arbeiten gehe, auch wenn ich sie manchmal verfluche, so wie andere auch. Ich habe sie noch nie als schwache Schüler*innen gesehen. Klar, sie haben Defizite in vielen Bereichen, aber unterm Strich nicht mehr oder weniger als ich selbst. Sie leben ein Leben, das ich nicht kenne. Sie kämpfen sich mit ihren Familien durch die Widrigkeiten des Alltags, und werden außerhalb der Schule oft nicht wahrgenommen, außer sie sind kriminell. Diese Schüler*innen haben volle Aufmerksamkeit verdient, und leben auf, wenn ihnen nicht nur der Stoff vermittelt wird. Und gerade die, die mich im Laufe meiner Schulzeit am meisten gefordert haben, melden sich bis heute bei mir und berichten mir stolz, dass sie entgegen allen Erwartungen doch im richtigen Leben angekommen sind.

Kleiner Nachsatz an die Verantwortlichen

Wir brauchen in Zeiten des Klimaschutzes nicht gratis Parkpickerln, sondern Politiker*innen, die die Mittelschule und deren Lehrer*innen wahrnehmen und wertschätzten. Und die, die junge Menschen dazu motivieren sich auf das Abenteuer Mittelschule einzulassen.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Wiener Mittelschule

Lesezeit: 4 Minuten

Er ist wieder da. Gemischte Gefühle kommen in mir hoch, als ich am Montagmorgen zwei aufgeweckte Augen über der FFP2 Maske blitzen sehe und mir ein freudig schwungvolles „Frau Lehrerin! Guten Morgen!“ entgegengeschmettert wird. Einerseits freue ich mich, einen Schüler wieder zu sehen, der mich oft zum Lachen bringt und bei dem ich weiß, dass ihm das selbstständige Arbeiten im Lockdown schwerfällt, der gezielte Deutschförderung benötigt. Andererseits realisiere ich erst nachdem mir ein freundlich strenges „Schön, dass du wieder da bist! Die Maske haben alle auf und das diskutiere ich nicht“ rausrutscht, dass es mich auch stresst. Alle Kinder werden leise und schauen etwas verwundert drein. Frau Lehrerin, die in der Regel nicht so schnell eisige Töne anschlägt, legt gleich in den ersten 45 Sekunden dieser Schulwoche damit los. 

Was mich nachdenklich macht an meiner Aussage, ist nicht der Hinweis auf die sinnvolle Maske, sondern das Ende meiner Diskussionsfreudigkeit. Die Worte „Ich diskutiere das nicht“ entsprechen nicht gerade meinem Ideal einer Deutschlehrerin. Mir, der Dialog auf Augenhöhe, Demokratieerziehung, Medienverständnis und Diskussionsfähigkeit doch sonst so wichtig sind. 

Der Schüler, über dessen Anwesenheit ich mich eigentlich freue, hadert mit dem Gedanken, dass es Corona wirklich gibt. Seine gesamte Familie ist zwar mittlerweile genesen, aber die Medien würden weltweit Lügen verbreiten und die Maßnahmen seien Teil einer großen Verschwörung, so der immer wieder durchflackernde Grundtenor. Das Tragen der FFP2 Maske also eine Tortur und eine Gemeinheit, um arme Kinder zu quälen. Auch „diese Tests“ werden laufend mit Kommentaren begleitet, die ich hier mit dem sanften Wort der Zumutung umschreiben möchte. 

In der Regel meldet sich auf seine Äußerungen sofort jemand aus der Klasse und es gibt Pro und Kontra, verschiedene Meinungen stehen nebeneinander im Raum. Pragmatisch, wie Schule so oft ist, testen sich schließlich alle nach Vorschrift und lassen die Maske auf. 

Es ist mir wichtig, dass jede Meinung geäußert werden darf, weil ich denke, dass Silencing keine Lösung ist, sondern nur noch mehr Öl ins Feuer gießt und Verschwörungstheoretiker*innen sich vermutlich erst recht in ihrer Perspektive gestärkt fühlen. Dennoch war bei mir an diesem Montagmorgen die Luft schon beim ersten Anblick einer neuen Diskussion draußen. Am Weg zum Klassenzimmer hatte ich mich gefreut, dass wir mittlerweile auch PCR-Tests für Lehrkräfte haben und dass bestätigt wurde, dass die FFP2 Masken sehr gut vor Ansteckung und Übertragung schützen. Ich freute mich über jedes Kind, das mir in Fleisch und Blut gleich gegenübersitzen würde, das ich nicht digital mehr schlecht als recht versuchen würde zu erreichen, parallel mitzubetreuen, auf Distanz individuell zu fördern – für mich gefühlt die Quadratur des Kreises. Ich freute mich auf ein kleines Stückchen Struktur und geregelte Abläufe im Anbetracht der sich überschlagenden Ereignisse der letzten Wochen. Auf Unterricht und Bedürfnisse, auf die ich ad hoc reagieren und wahrnehmen könnte, im Gegensatz zum distance learning. Vielleicht wollte ich mir mit diesem Diskussionsriegel die Freude, das Privileg und den kleinen Triumph über das Virus nicht nehmen lassen, dass es zumindest unter gewissen Voraussetzung möglich ist, Kinder regulär zu unterrichten. 

Schule wird oft als der Ort konstruiert, an dem gesamtgesellschaftliche Konflikte sichtbar seien, weil bis zu einem gewissen Alter jede*r hinmuss, der*die in Österreich wohnt. Müsste ich der gesamtgesellschaftlichen Dialog- und Konfliktkultur der letzten Wochen eine Note geben, wäre es ein knappes Genügend. Müsste ich mir selbst eine geben, verstumme ich lieber mit meinen Urteilen. Die Situation, in der wir uns alle befinden, ist so komplex, so vielschichtig und blöder Weise gleichzeitig so dringend, dass der ruhige, nachvollziehbare Dialog oder ein gründliches, fundiertes Abwägen von Darstellungen oder Maßnahmen viel zu oft auf der Strecke bleibt. Es ist Verunsicherung spürbar: bei den Schüler*innen, den Eltern, den Kolleg*innen, bei mir selbst. 

Ich schätze an meinem Kollegium, dass viele andere Standpunkte stehen lassen können. Wir waren nicht alle einer Meinung, dass es so toll ist, die Kinder doch in die Schule gehen zu lassen, während alles andere zusperrt. Dafür ziehen manche zum ersten Mal seit über 50 Jahren auf Demos mit, die von Polizeihubschraubern begleitet werden und mir wiederum nur ein Kopfschütteln abringen. Trotzdem gehen an einem Dezembermorgen Kolleg*innen mit FFP2 Maske durch das Konferenzzimmer und verteilen Schokolade. Ein Mini-Nikolaus gesellt sich zu meinem sehr geschätzten PCR-Test. Jede*r freut sich über diese kleine Geste der Normalität, das Bekannte, das Verbindende und den Zusammenhalt. 

Obwohl ich eisig sagte, ich wolle nicht darüber diskutieren, ob wir die Maske im Unterricht tragen, verkraften die Kinder das recht gut. Es wird gescherzt, mitgearbeitet und vor allem auf den Adventkalender und unser Keksritual hingewiesen. Das darf ja nicht vergessen werden! 

Die Kinder haben wie so oft recht. Es sind auch diese kleinen Dinge, die uns zusammenbringen und auf die ja nicht vergessen werden darf. Wer an Beziehung und Dialogkultur in guten Zeiten arbeitet, hat sich für die großen Brocken in schweren Zeiten einen Startvorteil verschafft, denke ich. 

Utopisch würden viele meine Vision von Dialogkultur an der Schule bezeichnen. Vermutlich haben sie recht. Schließlich sind wir alle nur Menschen, die jeden Tag unterschiedlich gut drauf sind, umgeben von einer Vielzahl an Faktoren, die ein friedliches Miteinander und gute Kommunikation nun mal stören. Trotzdem finde ich es wichtig, dass wir uns weiterhin bemühen, vielfältige Gedanken, Ängste, Vorstellungen und Pläne zu besprechen und ernst zu nehmen. 

Ich komme zu dem Schluss, dass manche Themen und Diskussionen besondere Zeitpunkte und Orte brauchen und nicht „sofort montags um 7:31“ stattfinden müssen. Dankbar bin ich aber auch dafür, dass wir es jeden Tag besser machen können. Jeden Tag gibt es die Chance aus dem gestrigen für den morgigen zu lernen und um’s Lernen geht es doch schließlich an der Schule. 

Die Autorin ist Lehrerin an einer Mittelschule in Oberösterreich

Lesezeit: 6 Minuten

“Einmal Lehrer*in – immer Lehrer*in.” Das gilt für die überwiegende Mehrheit der Personen, die sich für das Lehramt entscheiden heute noch  immer. Während der Quereinstieg in den Lehrberuf zunehmend erleichtert wird, ist ein – wenn auch nur zeitlich begrenzter – Ausstieg oder eine berufliche Umorientierung in der Regel nur schwer möglich. 

Wir haben mit vier Lehrerinnen gesprochen, die sich über die Initiative Seitenwechsel für einen solchen temporären Umstieg entschieden haben. Für ein Jahr arbeiten sie in Unternehmen um schließlich mit neuen Perspektiven und Skills zurück in die Schule zu kommen: 

Warum hast du dich dafür entschieden für ein Jahr die Schule zu verlassen und in einem Betrieb zu arbeiten? 

Cornelia:  Ich bin über Umwege Lehrerin geworden, habe in verschiedenen Bereichen gearbeitet. Nach ein paar Unterrichtsjahren war mir nach Abwechslung, neuem Input. Ich habe bereits Arbeitserfahrung mitgebracht, und wollte meinen, für mich auch im Unterricht extrem wertvollen, Background noch erweitern.

Anna*: Weil ich bisher kaum Berufserfahrung außerhalb des Bildungsbereichs hatte und hier die Chance gesehen habe, den Alltag in einem Betrieb kennenzulernen und mein Fachwissen auch einmal praktisch anwenden zu können.

Mitra: Ich war jetzt 4 Jahre Klassenvorständin und habe meinen Schwerpunkt stark auf Berufsorientierung gelegt, da dieses Thema unsere Jugendlichen in der Mittelschule sehr stark betrifft und vor allem auch beschäftigt. Es ist wahnsinnig schwer, sich mit 14 zu entscheiden, was man als nächstes machen möchte, was ich absolut nachvollziehen kann. Ich bin froh, dass ich das damals nicht musste.

Ebenso lege ich einen großen Schwerpunkt auf sogenannte „Life skills“, also Umgang mit Geld, wie ein Haushaltsbuch führen, Eingaben und Ausgaben, wie viel und welche Ausgaben kommen überhaupt auf mich zu, wenn ich alleine wohne, wie vergleiche ich Versicherungen, suche ein Bankkonto aus, wie funktionieren Kredite, Schulden usw.

Wenn diese Themen nicht durch die Eltern erlernt werden, bleibt nur die Schule. Deshalb ist es wichtig, dass wir Lehrer*innen auch viele solcher Kompetenzen lehren.

Um meine Schüler*innen nun so gut und vor allem so authentisch wie möglich auf die Berufswelt vorzubereiten, wollte ich selbst die Arbeitswelt außerhalb der Schule kennenlernen.

Durch Seitenwechsel hatte ich zum Glück die Gelegenheit dazu und habe es gewagt. 

Ja, es ist ein großer Schritt, weg vom gewohnten Arbeitsumfeld zu gehen und etwas zu machen, wo man sich nicht wirklich auskennt, obwohl man eigentlich immer diejenige ist, die das tut. Aber genau das, ist doch auch wieder wichtig, um sich besser in die Lage unserer Jugendlichen hineinzuversetzen.

Alexandra: Eine langjährige Kollegin hat mir einen Zeitungsartikel über die Initiative Seitenwechsel übermittelt und somit begann ich mich über dieses Projekt zu informieren. Nach jahrelanger Unterrichtstätigkeit ermöglicht mir dieses Programm meine fachlichen Kompetenzen zu erweitern und mich persönlich weiterzuentwickeln. 

Wie bist du im Unternehmen aufgenommen worden? 

Cornelia: Sehr offen! Was mich als Person, meine Stärken und Schwächen und die Themen an denen ich arbeite, betrifft.

Anna: Sehr gut. Gleich am ersten Tag wurde ich allen persönlich vorgestellt und die Kolleg*innen sind alle nett und hilfsbereit. 

Alexandra: Am ersten Tag wurde ich vom Leiter der Personalabteilung in Empfang genommen und erhielt zuerst eine Gebäudeführung. Anschließend lernte ich meine KollegInnen im Labor kennen. In der ersten Arbeitswoche hatte ich ein Onboarding-Programm, indem die Abteilungsleiter*innen für administrativen Angelegenheiten ihre Aufgabenbereiche vorstellten. Daher wusste ich bereits, wen ich bei Fragen kontaktieren kann. Die Hilfsbereitschaft meiner KollegInnen ist sehr wertvoll für meine „neue“ Tätigkeit.

Was sind deine neuen Aufgaben? Fühlst du dich mittlerweile gut eingearbeitet? 

Cornelia: Aufgaben gibt es in unserer Abteilung viele; viele Ideen, die umgesetzt werden wollen. Unter all den Technikern (und einer Technikerin) habe ich mir anfangs nicht viel zugetraut. Mittlerweile ist es besser, ich habe das Gefühl, die Aufgaben einschätzen zu können und weiß besser, was ich mir zutrauen kann. 

Anna: Auch wenn ich mittlerweile eingearbeitet bin, gibt es immer wieder neue Herausforderungen und ich lerne ständig dazu. Es macht aber immer wieder Freude und stärkt mein Selbstbewusstsein, wenn ich wieder etwas geschafft habe.

Mitra:  Am Anfang habe ich doch eine Weile gebraucht und es war manchmal nicht so angenehm, nicht die zu sein, die sich auskennt, sondern die, die Erklärungen und Arbeitsanweisungen braucht.

Trotzdem und vor allem auch durch das hilfsbereite und nette Team, konnte ich mich gut einfinden und arbeite mittlerweile schon gut mit. Und vor allem schon etwas selbstständiger.

Mein Hauptbereich ist das Risikomanagement, wo ich Berichte überarbeite und erneuere, von Berichten Powerpoint Präsentationen als Zusammenfassung und Übersichten erstelle. Ebenso erstelle ich neue Beurteilungsblätter für Einzelrisiken.

Nebenbei unterstütze ich unsere Juristin bei Recherchen, Korrekturlesen von juristischen Texten oder Erstellen von Powerpoint Präsentationen und lese auch zukünftige Artikel oder Broschüren für die PR Managerin gegen.

Ich werde in dem Jahr aber auch noch die Arbeit der anderen Bereiche der B&C kennenlernen, wie zum Beispiel die Innovation Investment oder die Stiftungsarbeiten. Bei beiden darf ich jetzt schon immer wieder ein bisschen reinschnuppern.

Alexandra: Auf jeden Fall war es zu Beginn eine große Herausforderung in einem Labor tätig zu sein und neue wissenschaftliche Methoden kennenzulernen. Es ist eine vielseitige Tätigkeit in internationalem Umfeld, daher wird Englisch als Arbeitssprache verwendet. Die Abläufe meiner Arbeit sind gut strukturiert und meine Labortätigkeit muss täglich dokumentiert werden. Inzwischen kann ich zum Teil selbstständig im Labor arbeiten und darüber freue ich mich. 

Wo liegen die auffälligsten Unterschiede zwischen dem schulischen und deinem jetzigen Arbeitsumfeld? 

Cornelia: Die Lautstärke; der Stress, dem man als Lehrer*in oft ausgesetzt ist. Besonders in der Zeit von Covid. Mehr Sachlichkeit, weniger Zwischenmenschliches.

Anna: Das Markanteste ist, dass ich meine Arbeitsmaterialien vom Dienstgeber zur Verfügung gestellt bekomme und ich zwar keine Ferien habe, aber dafür jeden Abend und jedes Wochenende frei habe. Auch erhalte ich für jede Stunde, die ich zusätzlich arbeite, Zeitausgleich. Außerdem ist die Hierarchie steiler, ein*e Vorgesetzte*r hat weniger Leute zu betreuen wie ein*e Direktor*in. Dadurch ist er*sie aber auch leichter zu erreichen.

Alexandra: Ein besser ausgestattetes Arbeitsumfeld für MitarbeiterInnen, IT-Abteilung (Wartung der Laptops sowie PCs, Installation der Software, Unterstützung bei IT-Problemen etc.), definierte Aufgabenbereiche, wöchentliche Besprechungstermine, Organisation der Dienstreisen durch Backoffice und vieles mehr- 

Was denkst du, welche neuen Kompetenzen oder Blickwinkel wirst du nach diesem Jahr mit zurück in die Schule bringen? Wie werden davon die Kinder und/oder der Schulstandort profitieren? 

Cornelia: Mit so einer Erfahrung wächst man als Persönlichkeit. Deshalb ist das, was ich mitnehme sehr vielfältig. Von bestimmten Planungstools, Fachwissen, zwischenmenschlichen Erlebnissen, Gelassenheit, verstärkt den Blickwinkel der Eltern einbeziehen, Ideen für Veränderungen in der Organisation… Das alles sind spannende Themen für den Unterricht.

Anna: Die Schüler*innen werden dadurch profitieren, dass ich die Frage nach der praktischen Anwendung von Mathematik nicht nur aus zweiter Hand beantworten kann, sondern ich auch ganz konkret von meinen Erfahrungen berichten kann. Durch die Kontakte, die ich geknüpft habe, ist es auch sicher einfacher Betriebsführungen zu organisieren.

Mitra: Ich denke, allein den Mut zu haben, bei dem Projekt mitzumachen, ist schon mal eine wertvolle Kompetenz, die wichtig für Schüler*innen ist. Seine Komfortzone zu verlassen, ist für niemanden leicht. Jugendliche müssen das ständig tun, sich das in Erinnerung zu rufen, stärkt das Verständnis in so manchen Situationen.

Nicht immer die Lehrende, sondern wieder einmal in „Schüler*innenposition“ zu sein, ist sehr lehrreich und oft nicht angenehm. Ich bin zwar wirklich geduldig, aber sich in Erinnerung zu rufen, dass man manche Dinge einfach auch mal nicht versteht und dass da jetzt niemand Schuld ist, sondern einfach manchmal länger braucht, ist sehr hilfreich, bei unserem Job.

Natürlich ist jede Firma und jede Arbeit anders, aber in einem, „klassischen“ 40 Stundenjob hat man natürlich weniger Freiheiten in der  Arbeits-und Zeiteinteilung. Das ist definitiv eine Umstellung. Einerseits ist es angenehm, da jetzt für ein Jahr Wochendende wirklich Wochenende ist, was es im Lehrer*innenalltag meistens nicht ist. Andererseits war 9-10 Stunden im Büro am PC zu arbeiten, definitiv eine große Umstellung für mich. 

Genau vor dieser kompletten Umstellung stehen aber unsere Schüler*innen nach der Mittelschule, wenn sie entweder eine Lehre machen oder in eine weiterführenden Schule wechseln, wo das Stunden-und Lernpensum definitiv höher ist, als bei uns.

Ganz wichtig für mich hierbei ist es natürlich, dass ich meinen Schüler*innen aus meinen eigenen Erfahrungen berichten kann: Wo kann es Schwierigkeiten geben? Was sind wichtige Fähigkeiten, die man vielleicht brauchen könnte? Wie schaffe ich es, mich einer neuen SItuation zu stellen, den neuen Alltag mit meinen Hobbies zu vereinbaren?  usw.

Aber durch die Arbeit in der B&C erhalte ich auch spezielles Fachwissen. Durch die Stiftung und ihre Arbeit lerne ich viele Bildungseinrichtungen und Initiativen kennen, die ich auf jeden Fall im Hinterkopf behalten möchte und auch versuche, mit der Schule zu verbinden. Gerade im Bereich „Wirtschaftsbildung“ gibt es viele Initiativen und das brauchen wir.

Nach dem einen Jahr, weiß ich auf jeden Fall auch wieder ganz genau, ob ich den richtigen Job gewählt habe. Ich denke, sich die Verantwortung und Schönheit unseres Berufes vor Augen zu halten, ist ganz wichtig.

Alexandra: Meine fachlichen Kenntnisse werden erweitert und dadurch auch meine Fähigkeit aktuelles Wissen in meinen Unterrichtsgegenständen zu vermitteln. Diese neuen Impulse kann ich in meiner Unterrichtstätigkeit zukünftig integrieren. Diese Initiative kann mir eine Kooperation mit diesem Unternehmen ermöglichen, sodass meine Schüler*innen eine Perspektive außerhalb der Schule erhalten und eventuell einen zukünftigen Arbeitsbereich kennenlernen.

Warum sollten auch andere Lehrerinnen und Lehrer diese Erfahrungen außerhalb des Klassenzimmers sammeln? 

Anna:  Weil es gut tut, eingefahrene Wege zu verlassen und auch einmal Neues kennenzulernen. 

Mitra: Viele Lehrer*innen kommen nach dem Studium direkt in die Schule zurück und haben oft keine bis wenig wirkliche Arbeitserfahrung außerhalb der Schule. Aus diesem Grund finde ich es ganz essentiell, dass man diese Chance nutzt, um Einblicke in den Arbeitsalltag abseits der Schule zu bekommen und am eigenen Leib zu spüren, wie es ist in einer Firma zu arbeiten. In Folge kann man so natürlich dann auch die Schüler*innen viel besser und authentischer auf das Arbeitsleben vorbereiten. 

Alexandra: Mit diesem Projekt können Lehrer*nnen neue Impulse für ihre Unterrichtstätigkeit erhalten und ihre Offenheit für Veränderungen bewahren. 

Cornelia hat Genetik und Mikrobiologie studiert, ist AHS Lehrerin (Chemie, Biologie,Ökologie) und arbeitet seit September bei der Berndorf Band GmbH in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung als Chemikerin

Anna*, ebenfalls AHS Lehrerin (Mathematik und Chemie), arbeitet aktuell in der R&D-Abteilung (Forschung und Entwicklung) eines Industriebetriebs. 

Mitra hat ihre Lehrtätigkeit in einer Wiener Mittelschule dieses Jahr für eine Stelle bei der B&C Industrieholding getauscht und arbeitet dort in im Risikomanagement. 

Alexandra unterrichtete im Gymnasium verschiedene naturwissenschaftliche Fächer und ist nun am Research Center for Molecular Medicine of the Austrian Academy Sciences (CeMM) als Projektmitarbeiterin tätig. Dort liegt ihr Fokus im Erlernen von Zellkulturtechniken im biomedizinischen Forschungsbereich sowie der Anwendung der molekularbiologischen CRISPR/Cas-Methode.  

Die Autoren sind Teilnehmer*innen des Seitenwechsel-Programms.
Kontakt über erwin.greiner@seitenwechsel.at

*Name von der Redaktion geändert

Lesezeit: 4 Minuten

Über politische Bildung und Partizipation

Politische Bildung und Partizipation sind die Eckpfeiler unserer demokratischen Gesellschaft und entsprechend dem Grunderlass von 2015 eines verpflichtenden Unterrichtsprinzipien an allen Schulen Österreichs. Lebendige Partizipation von Schüler*innen und praxisnahe Demokratieerziehung hängt stark vom Mitwirken motivierter Schulsprecher*innen, Direktionen, Lehrer*innen sowie außerschulischen Partner*innen ab (aus SMG Schüler*innenMitgestaltung).

Wie alles begann

Seit mehr als 10 Jahren organisiere ich die Wahl der Schulsprecher*innen. Dass ich damit Vertrauenslehrerin bin, habe ich ein paar Jahre danach bei einem Workshop erfahren. Auch, dass die Wahl der Schulsprecher*innen nicht so ein Ding ist, das man mal eben schnell in einer halben Stunde in der Bibliothek abhandelt. Tatsächlich war es zu Beginn so, dass ich die Klassensprecher*innen in der Bibliothek versammelt habe. Dann mal schnell nachgefragt, wer denn Lust hätte Schulsprecher*in zu sein. Damit war das Thema ein Jahr vom Tisch. Gefallen hat mir dieser Weg gar nicht, denn er signalisierte allen Beteiligten, dass das Amt des/des Schulsprechers/ der Schulsprecherin irgendwas zwischen muss so sein und eh nix war. Ich habe in diesem Workshop erfahren, dass es Schulen gibt, die eine richtige, eine echte Wahl abhalten. Eine, die demokratischen Charakter hat. So machen wir das, habe ich mir damals fest vorgenommen.

Macht doch alles keinen Sinn

Einen Tag lang gehe ich von Klasse zu Klasse und bin auf der Suche nach Kandidat*innen. Kein leichtes Unterfangen, weil selbst mit Anklopfen und der Beteuerung meinerseits, dass ich nicht stören will, die Begeisterung meiner Kolleg*innen für die erfolgte Unterbrechung des Unterrichts sich in Grenzen hält. Es bleibt mir zu diesem Zeitpunkt aber fast nichts anderes übrig, weil nicht alle meinen Aufruf, den ich via Schoolfox getätigt habe, gelesen haben. Es sind jene, die ein bisserl grantig reagieren, wenn ich die Mathematik- oder Geographiestunde unterbreche. 

Die Begeisterung der Schüler*innen hält sich in Grenzen. In manchen Klassen schaffen sie es nicht einmal mir ins Gesicht zu gucken. Andere hören mir gar nicht zu. Könnte es sein, dass diese Kinder und Jugendliche längst begriffen haben, dass sie ohnehin keine Stimme haben? „Macht doch alles keinen Sinn“, erklärt mir eine Schülerin. In einer anderen Klasse spreche ich eine Schülerin gezielt an, weil ich sie gut kenne und mir denke, das wäre doch was für sie. Sie lacht und sagt: „Nein, sicher nicht!“ Eine Entscheidung, die ich akzeptiere. Eher verstörend finde ich an dieser Stelle, dass die Kollegin das allem Anschein nach auch wahnsinnig lustig findet, süffisant grinst und lacht. Und damit meines Erachtens der Schülerin bestätigt, dass Wahlen wie diese ein sinnlos sind. Vielleicht irre ich mich..

Allen widrigen Umständen zum Trotz finde ich fünf Kandidatinnen. Sie alle eint, dass sie weiblich und Schüler*innen der dritten Klassen sind. Ein bisserl jung, denke ich mir, aber letztendlich gibt es für Demokratie kein Mindestalter.

Was machen eigentlich Schulsprecher*innen?

Diese Frage poppt immer wieder auf. Antworten darauf habe ich, auch wenn es mir schwerfällt, diese glaubhaft an die Schüler*innen weiterzugeben. Denn alle haben die Erfahrung, dass Klassensprecher*innen auch nicht viel Stimme haben. Dass Schüler*innen im Betrieb Schule ganz allgemein nicht oder viel zu wenig gehört werden. Und dass sie als Schüler*innen einer Mittelschule kaum gesehen werden. Weil, wie zwar eingangs erwähnt, die Schule Demokratieverständnis vermitteln soll, das aber gar nicht wirklich kann, weil Schule keine demokratische Institution ist. Weil das Wohl der Schüler*innen eben nicht an erster Stelle steht. Weil der größte Teil des Schullalltags aus „Lehrer*in sagt, Schüler*in führt aus“, besteht. Weil die Wünsche der Schüler*innen kein Gewicht haben.

„Was wollt ihr denn machen?“, lautet meine Gegenfrage. Schweigen. Dann flüstert Sarah: „Einen Schulball.“ Dieser Wunsch begleitet mich seit Beginn meiner Tätigkeit als Vertrauenslehrerin. Einmal haben wir es geschafft. Es war nicht das, was sich die Schüler*innen erträumt hatten, aber zumindest ein bisschen was von schönen Kleidern, tanzen und Spaß war dabei. Dann kam Corona, aber letztendlich scheitert dieser innig gehegte Wunsch nicht an der Pandemie, sondern an anderen Hürden. Der Lerneffekt der vergangenen Jahre ist augenscheinlich. Wünschen können wir uns viel, denken die meisten Schüler*innen, aber gehört werden wir nicht. 

Schüler*innenausweis, Urne und Wahlkabine

Wählen darf nur, wer einen Schülerausweis hat. Hat leider nicht jedes Kind, weil verloren oder zu heiß gewaschen.  Einen neuen gibt es erst nach Vorlage einer Verlustbestätigung, also dann eben keinen. Spannend ist der Wahlprozess an sich in jedem Fall. Mir fällt auf, dass die jüngeren Schüler*innen sich vor dem Gang in die Wahlkabine nochmals genau informieren. Wer ist jetzt wieder wer? „Sarah ist die Schönste. Die wähle ich“, erklärt mir ein Kind einer ersten Klasse. „Nein, ich habe die andere gewählt, weil die hat keinen Style“, hält ein anderes Mädchen dagegen. Emirhan, ein Schüler einer vierten Klasse, schließt die Augen und tippt blind auf das Plakat der Kandidatinnen. Seine Wahl fällt auf Irina. „Ist ja eh wurscht“, höre ich schon wieder.

Klar, die fünf Schülerinnen durften sich in den Klassen vorstellen. Nicht zu lange, weil sie den Unterricht nicht stören sollen. Und weil sie selbst nicht zu viel versäumen sollen. Weil zusammengefasst, jede Englisch-, Deutsch- oder Mathematikstunde wichtiger zu sein scheint als eine demokratische Wahl in der Schule.

Ich weiß aber von anderen Schulen, dass die Vorstellung der Kandidat*innen in einer Aula stattfindet. Dort müssen die Anwärter*innen auf das Amt ihr Programm präsentieren, ihre Linie und ihre Wünsche und Anliegen. Da gibt es Zeit für Demokratie. Da wird Kindern und Jugendlichen aktive Teilnahme an Demokratie zugetraut.

Wie geht es weiter?

Die Wahl ist vorbei. Sarah und Michelle haben gewonnen. Im November dürfen sie ihre allererste Klassensprecher*innensitzung mit meiner Unterstützung abhalten. Vertrauenslehrerin zu sein, bedeutet für mich, dass all das, was in diesem Rahmen besprochen wird, nur dann nach außen dringt, wenn es die Beteiligten wollen. Was mein Anliegen ist? Demokratie üben, Kindern und Jugendlichen eine Stimme geben und hoffen, dass sie auch gehört werden. Kindern und Jugendlichen Demokratiebewusstsein und demokratische Prozesse zutrauen, denn viele von ihnen dürfen schon in paar Jahren mit ihrer Stimme unser aller Demokratie mitgestalten.

Die Autorin ist Lehrerin an einer Wiener Mittelschule.

Lesezeit: 3 Minuten


Wer christlichen Glaubens ist, kennt möglicherweise die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Als Strafe für die Dreistigkeit der Menschheit wurden die verschiedenen Sprachen geschaffen, auf dass wir nicht mehr miteinander sprechen können und nicht mehr solche gewagten Projekte angehen. So oder so ähnlich steht es irgendwo geschrieben. Verschiedene Sprachen als Strafe? Linguisten würden dies anders sehen. Sprachwissenschaftler*innen aus aller Welt würden sich ohne unsere Sprachenvielfalt sehr langweilen. Mittelschullehrer*innen hingegen verfluchen vermutlich des öfteren unsere Urahnen für ihre Unüberlegtheit. Denn es sind die verschiedenen Sprachen, die das Klassenzimmer zwar bunt und international machen, die uns neue Dimensionen eröffnen und oft ungeahnte Aha-Erlebnisse bescheren, aber es sind auch die verschiedenen Sprachen, die unsere tägliche Arbeit oft sehr erschweren. 

Klassenforum

Sprechen wir über Klassenforen. An unserer Schule werden 37 Sprachen gesprochen – internationaler kann man gar nicht sein. Viele Kinder sprechen drei oder vier Sprachen, Eltern oft nur eine einzige – und das ist in einigen Fällen nicht die Umgangssprache des Kollegiums. Nun sind diese Klassenforen oft ein Trauerspiel. 

Die Kolleg*innen sind erschöpft nach einem langen und anstrengenden Schultag, der Schulwart freut sich auch nicht über die zusätzlichen Stunden, die Eltern kommen – dieses Jahr alle brav mit Maske und 3G Nachweisen in die Klassenzimmer, setzen sich an die Plätze ihrer Kinder und an ihren Blicken erkennt man, dass sie echt froh sind, wenn sie diesen Abend unbeschadet überstehen. Sie sind da, aber sie sind nicht wirklich anwesend. Oft bringen sie ihre Kinder als Dolmetscher mit, ihre Freundinnen, Verwandten oder aber ihre kleinen Kinder, die als einzige völlig unbeeindruckt mit allem spielen, was ihnen in die Hände kommt. Die kleinen Geschwisterkinder bringen abends um 19:00 Uhr häufig ein zauberhaftes Leben in die sonst eher geisterhaften Räume. 

Der/die Klassenvorstand hat Informationsblätter vorbereitet, fast immer auf Deutsch, auf welchen etliche Zahlen und Daten und Sätze notiert sind, die viele verstehen, mache lesen können und andere resigniert und unauffällig in ihre Handtasche stecken – wohl wissend, dass ihr Inhalt sie nie erreichen wird. 

Vorne steht dann – mit oder ohne Powerpoint Präsentation – eine Lehrkraft, die in 40-50 Minuten die wichtigsten Eckdaten des Schuljahres erklärt. Auf Deutsch. Darunter Wörter wie: Topjugendticket, Corona-Gurgeltest, AHS Standard Aufstufung, Schoolfox  oder VHS 2.0 Förderung sowie verpflichtende IKM Testung. Als nicht-Eltern sind diese Wörter schon eher komplex. Für nicht des Deutschen mächtige Eltern oft gänzlich umsonst. 

Klassenforum 2.0

Stellen wir uns also eine Alternative vor. Stellen wir uns vor, die Eltern kommen in Sprachgruppen. Von 17-17:30 Uhr Arabisch, von 17:30-18:00 Uhr BSK, von 18:00 – 18:30 Türkisch usw.. Ja, klar, einzelne Sprachen gehen hier möglicherweise verloren, aber man kann ja auch noch individuelle Elterngespräche führen. Muss ja nicht am gleichen Tag sein. Stellen wir uns vor, die Powerpoint Präsentation ist mit Piktogrammen erläutert, ebenso das Informationsblatt. Logos von allen relevanten Stellen, Jahreszeiten zu den Daten, Bilder zu den Fächern. 

Und stellen wir uns noch einen relevanten Faktor vor: Auf einem Mobiltelefon oder Laptop ist ein Live-Dolmetscher zugeschaltet, der in der entsprechenden Sprache synchron dolmetscht. Mobil ist das Gerät deswegen, weil es herumgegeben wird, weil die sonst oft stummen Eltern Fragen stellen dürfen und sich ganz allgemein mal mit der Lehrkraft austauschen.

Klint utopisch? Ist es aber nicht: Die arabische halbe Stunde ist voll besetzt, es versammeln sich ehemalige Schuldirektoren aus Syrien und libanesische Hausfrauen mit ihren Ehepartnern. Es wird gefragt, sich eifrig beteiligt, es wird das Coronatestsystem hinterfragt und gleich dazu eine Bitte: „Frau … Sie sind unsere Stimme – bitte leiten Sie unsere Bedenken weiter! Wir wissen nicht, an wen wir uns wenden sollen.“

Es sprechen Eltern, die seit Jahren Kinder in österreichischen Schulen haben und noch nie an einem Elternabend teilgenommen haben – aus den o.g. Gründen. Es entstehen Diskussionen – und immer wieder die verschmitzte Frage: Und? Wie benimmt sich Salim, Raba, Marwa, Mohammed…

Auch die folgende halbe Stunde ist gut besucht – vergnügte türkische Frauen, die sich über die technischen Probleme köstliche amüsieren, die aber in erster Linie dankbar sind, dass sie wahrgenommen, gehört werden. Dass sie die Möglichkeit bekommen, sich mit derjenigen Person auszutauschen, die viele Stunden, Tage, Wochen und Jahre mit ihren Kindern verbringen. 

Neue Wege

Die ungarische Mutter kommt zum BKS Termin, sie habe eine Zeit in Serbien gelebt, sie verstehe genug. Neue Freundschaften und Kontakte entstehen, und das erste Mal habe ich das Gefühl, dass dieses Klassenforum seinem Namen gerecht wird: Ein Ort, an dem sich Lehrer*innen und Eltern austauschen können. Ein Abend, an dem sich das Dreieck, das eine gute und nachhaltige Bildung ermöglicht, ja, voraussetzt, – Kind – Lehrkraft – Eltern, tatsächlich formt und schließt. 

Zugegeben, es ist technisch immer wieder wackelig. Nicht alles klappt perfekt. Aber auch das ist Teil vom Schulalltag. Vom Lehrer*innen sein. 

Das Bemühen ist da, die Unterstützung durch Videodolmetschen und das Projekt: „Wir verstehen uns!“ gegeben. Endlich! Was einst wie eine Utopie klang – ist heute mancherorts schon Realität. Ein Meilenstein in der Elternarbeit. In der Arbeit mit den und für die Kinder. Und eine neue, wunderbare Herausforderung und Chance in unserer pädagogischen Arbeit. 

Die Autorin ist Lehrerin an einer Wiener Mittelschule.