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Viel Ehrlichkeit zu Beginn

Sommerschule. Beim bloßen Gedanken an dieses Wort erschaudern die meisten erfahrenen und angehenden Lehrer:innen. Zwei Wochen der Sommerferien, die man für Kinder opfern soll, die sich wünschen würden, so weit wie möglich von der Schule entfernt zu sein. Weshalb sollte überhaupt jemand in Erwägung ziehen an diesem noch nicht ganz ausgereiftem Bildungsprojekt teilzunehmen?  Nun ja, in meinem Fall lautet die Antwort ECTS und die neu eingeführte Bezahlung, aber auch der Drang sich beweisen zu wollen. 

Überrascht, dass es mir nicht in erster Linie um die Schüler:innen gegangen ist?  Ich denke es wäre unehrlich und naiv zugleich zu behaupten, dass sich Student*innen bloß aus reiner Herzensgüte am Projekt beteiligen. Natürlich sind uns die Kinder wichtig und wir möchten ihnen helfen, aber dieses Gefühl gewinnt erst richtig an Stärke, wenn wir eine Beziehung zu unserer Klasse aufgebaut haben. In der Sommerschule arbeitet man mit Lernenden, denen man wahrscheinlich zum ersten Mal begegnet, was das dringende Bedürfnis zu helfen und sich zu kümmern in den meisten Fällen als Beweggrund in den Hintergrund rücken lässt. 

Bis jetzt hört sich das alles nicht besonders positiv an. Dennoch kann ich behaupten, dass ich diese zwei Wochen um nichts in der Welt eintauschen würde, da die Erfahrungen, die ich gemacht habe und die Entwicklung meiner Schüler:innen, aber auch meine eigene, unbezahlbar für meine Karriere als Lehrerin sind.

Wie würde ich nun rückblickend meine Tage als Sommerschullehrerin beschreiben? Chaotisch, unerwartet, physisch und psychisch herausfordernd, aber auch wunderschön, prägend und unvergleichlich befriedigend. 

Man kann sagen, ich habe Glück im Unglück gehabt, da ich statt einer ursprünglich geplanten Deutsch Regelklasse, eine Deutsch Förderklasse mit den verschiedensten Kindern aus aller Welt betreut habe. Nicht jeder bekommt die Gelegenheit mit so vielen Kulturen in Kontakt zu treten. So wie meine Schüler:innen von mir Deutsch gelernt haben, habe ich ihre Gepflogenheiten kennen lernen dürfen und sogar einen Einblick in ihre Sprache bekommen. 

Die ersten paar Tage würde ich als Eingewöhnungsphase bezeichnen, da in dieser Zeit beide Parteien versucht haben sich aufeinander einzustellen. Langsam aber sicher habe ich ein Gefühl für die Bedürfnisse meiner Schüler:innen bekommen und habe auch gesehen, um was für Persönlichkeiten es sich handelt. Die meisten von ihnen sind herzlich, wissbegierig und überaus intelligent gewesen, aber auch verloren und voller Selbstzweifel. Aus diesem Grund habe ich es mir zur Aufgabe gemacht nicht nur an ihrem Deutsch zu arbeiten, sondern viel mehr an ihrem Selbstvertrauen. Denn Lob und Anerkennung sind diesen Kindern anscheinend fremd gewesen. Viele von ihnen haben gar nicht gewusst, wie sie auf ein nettes Wort oder eine freundliche Geste reagieren sollen. 

Chaotisch, unerwartet, aber auch wunderschön und prägend

In der zweiten Hälfte der Woche hat man gemerkt, wie die Kinder aufgeblüht sind und die ursprünglichen Cliquen, neuen Freundeskreisen gewichen sind. Eine große Mädchengruppe hat sich gebildet, in der sich alle gut verstanden haben. Das Erfreulichste ist daran gewesen, dass sie gezwungenermaßen auch in ihrer Freizeit und den Pausen Deutsch gesprochen haben, da dies die einzige gemeinsame Sprache gewesen ist. Dies hat selbstverständlich einen enorm positiven Effekt auf die Sprachentwicklung gehabt. Ich habe beobachten dürfen, wie sich Äußerungen aus wenigen Worten, in richtige, teilweise sogar komplexere Sätze verwandelt haben.

Die Jungs haben sich zu einer weniger homogenen Gruppe zusammengeschlossen. Sie hatten von Anfang an ein größeres Problem mit der Sprachbarriere. Gänzlich unerwartet ist jedoch die Rivalität gewesen, die bei Spielen zwischen den Mädchen und den Jungs entstanden ist. Teilweise hat diese auch in gehässigen Kommentaren resultiert, die ich schnellstmöglich unterbunden habe. Das zeigt wiederum auch, dass Lehrer*innen nicht nur für die fachliche Wissensvermittlung zuständig sind, sondern eine bedeutende Rolle in der Erziehung spielen. Oftmals vergisst man das, da der Fokus im Studium auf dem fachlichen Wissen liegt. Wir sind wichtige Bezugspersonen für unsere Schüler:innen; unser Aufgabenbereich umfasst so viel mehr als nur das Unterrichten.

In der zweiten Woche sind wir bereits eine zusammengeschweißte Klasse gewesen und haben effektiv arbeiten können. Die Lernenden haben fleißig mitgemachten, sind engagiert gewesen und haben manchmal sogar ein wenig Spaß am Unterricht gehabt. Ich habe auch Einblicke in ihr Privatleben erhalten dürfen, was mir klar gezeigt hat, wie sehr sie mir nach dieser kurzen Zeit bereits vertrauten. Ich sage nicht, dass es keine negativen Zwischenfälle gabt, immerhin handelt es ich um Schüler:innen, die gerne die Grenzen austesten, aber es ist immer eine schnelle, friedliche Lösung gefunden worden. 

Die Tage sind schnell verstrichen und der Abschied ist uns allen schwergefallen. Die Zeit als bloße Studentin ohne jeden Tag früh aufstehen zu müssen und unterrichten zu dürfen sind mir fast unwirklich erschienen. Ein Teil von mir hat sich über die zurückgewonnenen Freiheiten gefreut, der andere Teil hat jetzt schon die Kinder vermisst und sich gefragt, was sie wohl nach der Sommerschule erwartet und ob sie zurechtkommen werden. Schon nach einem derart kurzen Zeitintervall hat sich ein Band zwischen mir und meiner Klasse entwickelt, das eindeutig unter Beweis stellt, dass dieser Beruf der einzig richtige für mich ist und dass ich mich trotz all der Hürden definitiv richtig entschieden habe. 

Ich gebe zu, die zwei Wochen sind anstrengend gewesen, sehr anstrengend sogar, aber ich empfehle jeder zukünftigen Lehrerin und jedem angehenden Lehrer an der Sommerschule teilzunehmen. Es gibt nämlich nichts Erfüllenderes als diesen Kindern bei der Entwicklung und beim persönlichen Wachstum zu helfen und zuzusehen. Egal was einen dazu veranlasst bei diesem Projekt mitzuwirken, bereits nach wenigen gemeinsamen Unterrichtsstunden sind es garantiert die richtigen Gründe. 

Allen Schüler:innen, die selbst noch unentschlossen sind, was sie später werden wollen und/oder unsicher sind, ob sie zur Lehrerin/zum Lehrer geeignet sind, kann ich nur sagen, traut euch! Es gibt nichts Schöneres.

Die Autorin ist Lehramtsstudentin und hat an einer Wiener Mittelschule im 20. Bezirk an der Sommerschule unterrichtet.

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Haben wir ihnen genug beigebracht? Haben wir streng genug benotet? Werden sie es an einer weiterführenden Schule schaffen? Haben sie eine echte Chance da draußen? Das waren die Fragen, die uns heute vor einem Jahr umgetrieben haben. Nach vier Jahren Klassenvorstandsteam, in denen wir alles gegeben haben und eineinhalb Jahren Corona-Chaos durften oder mussten wir sie also gehen lassen. Viele Tränen auf unserer Seite, viel Abschiedsschmerz und doch auch Vorfreude auf neue Erfahrungen und Erlebnisse auf der Seite der Schüler:innen. Vier Jahre intensive Zusammenarbeit (oftmals mehr Stunden pro Woche mit der Kollegin und den Schüler:innen, als man den eigenen Partner sieht), vier Jahre Begleiten, Stärken, Trösten, Fördern und gemeinsam Pläne machen. Vier Jahre Schule, vier Jahre Leben.

25 Jugendliche aus einer Mittelschulklasse in einem Wiener Randbezirk. Kids, mit denen wir bereits seit sie 10 Jahre waren daran gearbeitet haben herauszufinden, was sie gut können und was sie gerne mal werden möchten. Kids, denen wir aber auch die Arbeitslosenstatistiken nach Bildungsabschlüssen nicht vorenthalten haben, weil es nicht fair gewesen wäre ihnen zu sagen, sie könnten alles einfach schaffen, wenn sie es nur wollen. Ja, sie können vieles schaffen, aber dafür müssen sie doppelt so hart arbeiten und auch dann wird es nicht leicht. Denn vier Jahre in der Mittelschule sind unfassbar wenig Zeit und mit 14 ist man tatsächlich noch sehr jung um eine so weitreichende Entscheidung zu treffen. Auf dem Sprung in eine weiterführende Schule stellt dann der Ruf der Mittelschule noch eine letzte fiese Hürde dar. “Ich wurde nicht aufgenommen”, erklärte uns ein Schüler mit lauter (Standard AHS) Einsern noch im März letzten Jahres, als er die Rückmeldung von seiner Wunsch-HTL bekommen hat. “Sie haben gesagt, sie haben zu viele Anmeldungen.” 

Doch es ist gelungen, es musste ja: Fünf Schüler:innen haben den Sprung in die AHS bzw. BHS geschafft, zwei in die Übergangsstufe, zehn in berufsbildende mittlere Schulen, zwei gingen ins Poly, einer fand eine Lehrstelle, zwei verließen uns noch auf der Suche danach. Drei Schüler:innen blieben als außerordentliche Schüler:innen noch ein Jahr an der Schule.

Ein Jahr vergeht schnell. Trotz Abschiedsschmerz geht man schließlich seinen eigenen Weg weiter, entwickelt sich weiter, die Erinnerungen verblassen. Und jetzt – ein Jahr danach: das Klassentreffen. Ein Rückblick auf unsere Arbeit, eine Rückmeldung, ob wir unseren Schüler:innen alles Wichtige mit auf den Weg gegeben haben. Ein Treffen auf Augenhöhe, so richtig.

Ungefähr die Hälfte der Klasse war da. Corona und Nachmittagsunterricht verhinderten manche, andere wollten oder konnten sich die Zeit nicht nehmen.

Der erste Eindruck

Die sind ja alle so groß geworden!“ In einem Jahr tut sich viel. Das Groß-sein merkt man ihnen sofort an, physisch aber auch in ihrer Art. Die Ausdrucksweise hat sich geändert. Mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung sind herauszuhören. „Ich hatte die Wahl zwischen zwei Schulen nach dem Poly, beide habe ich besucht und dann eine Entscheidung getroffen. Die eine Ausbildung hat mir vom Aufbau her nicht gefallen.“ „Ich gehe nebenbei noch 3-4 Mal die Woche ins Training, den Ausgleich mag ich.“ „Ich hab in dem Jahr so viel gelernt wie noch nie, es war anstrengend, aber ich bin sehr stolz.

Der zweite Blick

Ich muss das Jahr wiederholen, denn es war mir einfach zu schwer. Ich wollte auch eigentlich Schule wechseln oder eine Lehre machen aber ich wurde nirgends genommen. Jetzt probier ichs nochmal im Gymnasium.“ „Ich habe vier Vierer im Zeugnis, in Mathe hatte ich eine Prüfung, die ich zum Glück geschafft habe.“ „Ich habe zwei Nachprüfungen im Herbst, wenn ich sie nicht schaffe ist unklar, ob ich wiederholen darf. Ich hoffe schon.“ „Ich habe im Zeugnis nur Einser und Zweier.“ „Ich kann nach der Übergangsstufe in die 5. Klasse aufsteigen. Genau so wie ich es mir gewünscht habe. Es war harte Arbeit.“ „Ich habe endlich eine Lehrstelle gefunden und vor zwei Monaten begonnen. Es ist schwierig, aber es gefällt mir.

Die Lebenswege sind so verschieden. Und trotzdem geht jede und jeder selbstbestimmt den eigenen Weg weiter. Ein Jahr danach können wir klar sagen: Unsere Arbeit hat gefruchtet. Sie bahnen sich ihren Weg durch ein Schulsystem, das es ihnen alles andere als leicht macht. Dranbleiben, einen Plan machen, hart arbeiten, sich Hilfe suchen, an sich glauben, aus Fehlern lernen, aufstehen, wenn man hingefallen ist, nicht aufgeben: Wir haben ihnen vieles mitgegeben, was sie auf ihrem Weg brauchen. Und sie sind dabei, das Beste daraus zu machen.

Die Autorinnen sind Lehrerinnen an einer Mittelschule in Wien.

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Erschienen unter: www.schule-der-zukunft.at (Innsbrucker Schulgschichtn) 

Sechs Kinder, sechs unterschiedliche Weggabelungen

Melinda wächst mehrsprachig auf. Thomas ist das Kind zweier Akademiker:innen. Dann gibt es noch Matteo, Susanne, Emine und Ahmed. Die ersten fünf werden ab September 2022 in ein Innsbrucker Gymnasium gehen, Ahmed in eine Mittelschule. 

Susannes Eltern hätten gerne ihr Kind in jenem Gymnasium gesehen, dessen Konzept sie sich für ihre Tochter gewünscht hätten. Leider wird ihr Wunsch nicht in Erfüllung gehen. Ihre Tochter hat im Fach Deutsch „nur“ ein Gut im Volksschulzeugnis. Da dieses Gymnasium mehr Anmeldungen als Plätze hat, genügt dieses tolle Zeugnis leider nicht zur Aufnahme. Der Wunsch von Thomas Eltern dagegen wird in Erfüllung gehen, auch wenn ihr Sohn ebenso ein „Gut“ im Zeugnis hat. Sie haben ihren Sohn in ein anderes Gymnasium angemeldet, welches einen medialen Schwerpunkt hat, was seinen Eltern als äußerst zukunftsträchtig erscheint. Matteos Eltern wollen ebenso, dass ihr Sohn in das Wunschgymnasium von Susannes Eltern kommt, was so sein wird. Er hat alles „Sehr gut“, obwohl seine Leistungen in Deutsch keineswegs so toll sind, wie dessen Note vermuten lässt. Susanne hatte jedoch eine Lehrerin, die es mit der Notenwahrheit recht genau genommen hat, während Matteos Lehrerin nachsichtiger war und nicht so viel von ihren Schülerinnen und Schülern verlangt hat. Ahmed wurde als nicht gymnasialreif eingestuft, er hatte dieselbe Lehrerin wie Susanne, Emine dagegen kommt in ein Gymnasium, sie hatte dieselbe Lehrerin wie Matteo.

Was bei all diesen Szenarien nicht vergessen werden darf, ist der Druck, dem die Kolleg:innen der Volksschulen ausgesetzt sind. Dieser macht ein unbeschwertes Arbeiten in der vierten Klasse Volksschule nahezu unmöglich. Schließlich haben die Eltern der Kinder ihre Erwartungen, die erfüllt werden müssen.

Fragen zu Beginn des Schuljahres

Fragen, die ich mir immer stelle, wenn ich eine neue erste Klasse in Deutsch erhalte: 

Warum haben die Eltern von X unsere Schule gewählt, wenn sie doch bei jeder Gelegenheit unser Konzept in Frage stellen?

Wie kann es sein, dass Y dieselbe Note in Deutsch hatte wie Z, ihr Wissenstand aber unterschiedlicher nicht sein kann?

Warum durfte L nicht an unserer Schule aufgenommen werden? Denn, meiner Meinung nach hätte er sich in Deutsch in der Volksschule ein Sehr gut verdient. Dazu kommt, dass seine Eltern das Konzept der Schule unterstützen und diese Schule ihre Wunschschule war.

Diese und noch viel mehr Fragen kann mir niemand so wirklich beantworten.

Die Realität

Aber vielleicht sind diese Fragen gar nicht so wichtig. Die Kraft des einzelnen könnte auch so groß sein, dass die Schulwahl gar keine Rolle spielt. Oder, es stehen jedem/r tatsächlich nach der Unterstufe alle Wege offen, wie mir immer wieder glaubhaft zu vermitteln versucht wird.

Die Frage ist nur, entspricht diese Behauptung der Realität? Ich sage nein.

Bildung ist in Österreich immer noch vererbt. Der Bildungsaufstieg, Eltern keine Matura, Kind schon, gelingt in nur wenigen Fällen. Bei Ahmed könnte es sein, dass seine Eltern sich und ihm das Abenteuer Gymnasium gar nicht zutrauen. Was wird sein, wenn er Nachhilfe braucht? Wer soll das bezahlen? Wie sollen teure Klassenfahrten oder Auslandsaufenthalten finanziert werden? Was passiert, wenn er im Gymnasium scheitern sollte? Dann bleiben die Eltern doch lieber bei der vertrauten Schulform, wissentlich, dass ihnen nie alle Wege offen gestanden sind. 

Thomas Eltern haben diese Zweifel gar nicht. Sollte er im Gymnasium Probleme haben, dann würden sie diese, wie auch immer beseitigen.

Was wir brauchen ist mehr Chancengerechtigkeit und ein faires Bildungssystem, das dieser ambitioniert nachkommt.

Zukunft_Schule_jetzt

Die Initiative „zukunft_schule_jetzt“ ist eine Plattform von an „Bildung“ Interessierten in Innsbruck. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt hat, Schwung in die Diskussion rund um dieses Thema in unserer Stadt, aber auch österreichweit zu bringen. Dadurch möchten wir sowohl die Schulsituation und Chancengerechtigkeit für alle SchülerInnen verbessern als auch das Schulwesen zukunftsorientierter gestalten.

Expert:innen aller Schulformen wollen ein Gegengewicht zu jenen Bestrebungen darstellen, die unser Schulsystem noch elitärer und exklusiver gestalten wollen. Gesucht wird der Dialog und der Diskurs, wie die Schule der Zukunft aussehen könnte. 

Durch den Dialog soll etwas entstehen, dass den Leistungsdruck für SchülerInnen und LehrerInnen, vor allem in den Volksschulen, minimiert., die Vielfalt unserer Gesellschaft in den Klassenräumen besser widerspiegelt, das Lernen voneinander besser ermöglicht und Brennpunktschulen erst gar nicht entstehen lässt. 

Mag. Markus Astner

(Lehrer an einem Innsbrucker Gymnasium; Begründer der Initiative zukunft_schule_jetzt)

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Wenn wir es mit Inklusion in der Bildung wirklich ernst meinen, wird es nicht reichen, an einzelnen Schrauben zu drehen. Und wenn an Schrauben im System gedreht wird, muss immer mitbedacht werden, was die Veränderung für bestimmte Gruppen – zum Beispiel Kinder mit Behinderung – bedeutet.

Die Vision:
Eltern kommen mit einem Kind, das nicht in die Schublade „NORMAL“ passt, zur Schuleinschreibung in die Schule, für die sie sich entschieden haben.
Sie werden freundlich begrüßt und willkommen geheißen. Die Schule macht sich ein Bild von den Bedürfnissen des Kindes und schafft Bedingungen, damit das Kind sich in einer Gruppe von Kindern gut weiterentwickeln kann. In der Schule gibt es gut ausgebildete Pädagog:innenteams mit der Haltung, jedem Kind einen guten Platz zum Lernen zu bieten. Diese Teams begleiten eine Gruppe von Kindern kontinuierlich. Der Personalschlüssel ist so, dass genügend Ressourcen da sind, um Beziehung zu den Kindern aufzubauen und jedem einzelnen Kind, ob „tief-, mittel- oder hochbegabt“ (frei nach Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und die Tieferschatten, 2008) einen guten Platz zum Lernen zu schaffen.
Wenn es eine kleinere Gruppengröße als die übliche braucht, kann die Schule das im Rahmen ihrer Autonomie ermöglichen.
Wenn Unterstützungspersonal notwendig ist, kann das zur Verfügung gestellt werden.
Wenn es fachliche Expertise braucht (z.B. unterstützte Kommunikation, Gebärdensprache, Brailleschrift), wird sie zur Verfügung gestellt, so viel und so lange wie nötig – darüber kann die Schule entscheiden.
Die Schule bietet ganztägige Betreuung für ALLE Kinder an.
Die Schulverwaltung vertraut darauf, dass die Schulleitung mit ihrem Team gute Entscheidungen trifft und sich Unterstützung holt, wenn sie welche braucht. Es muss nicht ständig alles kontrolliert und gerechtfertigt werden.
Es gibt unbürokratischen Austausch auf Augenhöhe mit der nächsten Hierarchieebene.

Derzeitiger Stand der Dinge ist jedoch:
Es gibt Integrationsklassen mit motivierten Lehrer:innen. Teams mit langjähriger Erfahrung und guten Unterrichtskonzepten. Sie tun was sie können, unter Rahmenbedingungen, die ihre Arbeit zunehmend erschweren.
Im Rahmen unserer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema in der Initiative Bessere Schule Jetzt! tauchte der Leitfaden für Inklusion, Integration und Sonderpädagogik in Wien (Hrsg. Stadtschulrat für Wien, 2014) auf. Hier sind die Rahmenbedingungen für die Integration von Kindern mit Behinderungen klar formuliert. Darauf konnten sich Pädagog:innen jahrelang stützen.
Ein Schelm, wer glaubt, die Bedingungen hätten sich in Richtung Inklusion verbessert. Nein, der Leitfaden hat keine Gültigkeit mehr.
Die Regelungen ändern sich so schnell, dass es fast unmöglich ist, am neuesten Stand zu sein.

  • Höchstens 21 Kinder in der Integrationsklasse – Geschichte
  • Verminderung der Klassenschüler*innenhöchstzahl abhängig vom Grad der Behinderung – diese Zeiten sind vorüber
  • Regelung, wie viele Kinder mit Behinderung höchstens in einer Integrationsklasse sein dürfen – nicht vorhanden
  • Schulleiter:innen, die die Zusammensetzung der Klassen ihrer Schule genau kennen, entscheiden, wie viele Kinder mit welchen Beeinträchtigungen neu aufgenommen werden können – vorbei
    Jetzt werden Schulplätze zentral vergeben, aufgrund der Zahlen im Schulverwaltungsprogramm, ohne die Situation vor Ort zu kennen.
  • Klar zusammengefasste Information für Schulen mit Integrationsklassen über derzeitige Regelungen – gibt es nicht
  • Ansprechpersonen, die schnell und unbürokratisch Auskunft geben – wir warten auf Rückruf
  • Plätze für Kinder mit schwereren Beeinträchtigungen am Nachmittag – mit viel Glück ein paar Bezirke weiter
  • Teamstunden in Integrationsklassen für Kinder, die zusätzliche Förderung brauchen, aber keine Behinderung haben – wieso? „Da sind eh 2 Lehrer:innen drin.“
  • Möglichkeit der alternativen Beurteilung für Kinder, die Fortschritte beschreibt, den konkreten Leistungsstand widerspiegelt und sie nicht an einer vorgegebenen Norm misst – nein, Ziffernnoten ab Ende der 2. Schulstufe auch für Kinder mit Lernbehinderung
  • Schulpsychologische Gutachten, die eindeutig aussagen, dass ein Kind dringend individuelle Unterstützung braucht, um die Anforderungen des Volksschullehrplans erfüllen zu können – Ressourcen dafür? mit viel Kreativität und Verhandlungsgeschick – unter Umständen
  • Verdacht auf Autismus Spektrums Störung – 12 Monate Wartezeit auf einen Termin zur Abklärung – außer es kann privat bezahlt werden
  • Kinder mit Behinderung, die bisher keine Entwicklungsdiagnostik hatten – alle kostenfreien Angebote über Monate ausgebucht, bitte warten, wenn Sie nicht privat bezahlen
  • Kinder mit Lese-Rechtschreibschwäche in der Klasse: Die Schule muss durch gezielte und regelmäßige symptomspezifische Fördermaßnahmen reagieren (vgl. Rundschreiben Nr. 2021-24, Rundschreiben Datenbank bmbwf.gv.at) – Ressourcen gibt es dafür keine
  • Vertretung für Pädagog:innen im Krankenstand – niemand da, muss irgendwo anders abgezogen werden und fehlt dann dort

Diversität und Inklusion erfordert vor allem eines: Flexibilität, die Fähigkeit, sich auf unterschiedliche Bedürfnisse einzustellen – die Neuerungen im Schulsystem der letzten Jahre haben die Spielräume der einzelnen Schule, der einzelnen Pädagog:innen zunehmend beschränkt.

Innovative Schulkonzepte dürfen nicht zum Etikettenschwindel werden

Gerade Wien nimmt hier als Großstadt eine Sonderstellung ein. Die Bevölkerung wächst, sie ist bunt und heterogen. Es gibt viele Familien mit besonderen Herausforderungen. Das spiegelt sich auch in den Schulklassen wider.
Gleichzeitig werden die Klassen größer, die Personalressourcen weniger. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Das steht einem zeitgemäßen Unterricht entgegen.
Viele innovative Schulkonzepte wurden in Wien entwickelt und erfolgreich gelebt, zum Beispiel die verschränkte Ganztagsschule oder integrative Mehrstufenklassen. Ohne genügend Personalressourcen werden sie verschwinden oder zum Etikettenschwindel.

Wenn der Computer nicht mehr funktioniert, hilft manchmal ausschalten und neu starten.
Was hilft im Schulsystem???

Die Autorinnen sind eine Sonderpädagogin in einer Wiener Volksschule und eine Mutter, die ein IT-Unternehmen und eine inklusive Familie managt. Beide sind engagiert in der Initiative Bessere Schule Jetzt!

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Wenn man vor großen Herausforderungen und Problemen steht, hilft es ja meistens, ein wenig über den Tellerrand zu blicken. Seit einigen Jahren fahren wir (wir, das sind hier die 2 Schulgschichtn-Redakteur:innen Verena und Felix) daher mit Kolleg:innen in andere Länder, um deren Bildungssysteme kennenzulernen, Schulen zu besichtigen und internationale best-practice Beispiele zu sehen.  Heuer waren wir mit einer Gruppe in Estland. Das estnische Bildungssystem ist, wenn es nach PISA geht, eines der effizientesten und besten Bildungssystem Europas, das obendrein auch noch relativ fair ist. 

Während unserer vier intensiven und hochspannenden Tage in Tallinn haben wir dutzende Lehrer:innen getroffen, mit Menschen aus dem Bildungsministerium, von der Lehrer:innenausbildung und dem NGO-Bildungssektor diskutiert und zwei Schulen besucht. Dabei wurde uns von Gespräch zu Gespräch und von Stunde zu Stunde immer offensichtlicher, dass wir im österreichischen Bildungssystem noch viel Luft nach oben haben. Von der Organisation des Systems über die Möglichkeiten der Schulautonomie bis hin zu Fragen der Transparenz und verfügbaren Daten. Nachdem Estland auch nicht zaubern kann, wären alle dortigen Lösunge auch bei uns umsetzbar. Wir wollen hier nun kurz unsere größten Learnings und spannendsten Eindrücke teilen:  

Die Gesamtschule steht außer Zweifel 

Das estnische Bildungssystem ist grundlegend anders aufgebaut als das österreichische. Das beginnt beim vorhandenen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. So besuchen 84% der 1-3-Jährigen und 95% der 3-7-Jährigen einen Kindergarten. Nach dem Kindergarten folgt eine 9-jährige gemeinsame Schule, die alle Kinder im Alter von 7-16 besuchen. Die allermeisten (ca. 90%) dieser 9-jährigen Gesamtschulen sind öffentliche municipality Schulen, also sind im Zuständigkeitsbereich der Gemeinden. 

Auf unsere Nachfrage, ob diese Art der Gesamtschule denn auf viel Widerstand stößt und ob sie politisch bekämpft wird, haben wir nur verständnislose Blicke geerntet. Wie in den allermeisten Europäischen Ländern, waren unsere Estnischen Kolleg:innen eher erstaunt darüber, dass wir unsere Schüler:innen im Alter von 10 Jahren in verschiedene Schultypen schicken.

Eine einheitliche, standardisierte Prüfung beendet die 9 Jahre Pöhikool. Im Anschluss daran gibt es dreijährige höhere Schulen, entweder das Gymnasium oder berufsorientierte Schule. 

Echte Schulautonomie

Hierzulande wird das Wort Schulautonomie ja gerne als Synonym für Einsparungen und Notlösungen am einzelnen Standort verwendet. Nicht so in Estland. Die Direktor:innen und Schulen haben eine unglaubliche Autonomie. Die Direktor:innen stellen all ihre Lehrer:innen selber an und können diese auch selber kündigen. Starre, einheitliche Dienstrechte gibt es nicht, Mindestlöhne aber sehr wohl. Die Dienstverträge schauen so sehr unterschiedlich aus. Manche Lehrer:innen unterrichten 22h, andere nur 15h, weil sie sonst die Mathe-Koordination leiten oder Schulentwicklung Reflexionsgespräche mit Kolleg:innen machen. Auch die Gehälter sind teilweise flexibel, können von den Schulleiter:innen bestimmt werden und basieren nicht nur auf der Anzahl der Dienstjahre. Karrierepfade und Anreize für junge Lehrer:innen werden so möglich. 

Aber auch die Curricula sind teils autonom. Wir haben Schulen besucht, die haben nur eine 4-Tage-Unterrichtswoche. Am 5. Tag unterrichten diese Schulen im „independent learning“, wo die Kids entweder daheim lernen, in Gruppen ins Museum oder in die Natur gehen. Im Anschluss daran, zeigen sie den Lehrer:innen, per Zoom, was sie heute gelernt haben. Auf unsere verwunderte Frage hin, dass dies schulautonom möglich ist und wer denn die Aufsicht in dieser Zeit regele und wie das Stundenabrechnungstechnisch liefe, kam ein leicht verwundertes: “I don´t really understand your question. We can decide how we want to teach”.

Auch die Notengebung ist autonom. Viele Schulen geben bis zur 6. Schulstufe gar keine Noten, ab dann gibt es unterschiedliche Systeme. Und, so bundeseinheitliche Systeme wie Deutschförderklassen sind undenkbar. Diese große Autonomie funktioniert natürlich nur weil es in den Schulen Management-Teams gibt (wir erinnern uns an die Möglichkeit unterschiedlicher Dienstverträge) die das alles machen. Da arbeiten dann 5-6 Lehrer:innen, die teilweise noch unterrichten, gemeinsam mit der:dem Direktor:in an der Leitung der Schule. 

Transparenz und Daten

Es gibt über das estnische Bildungssystem so ziemlich alle Daten, die man sich vorstellen kann. Diese Daten sind für jede einzelne Schule öffentlich einsehbar. So kann man z.B. Ergebnisse der standardisierten Prüfung, die Noten, die Ausbildung der jeweiligen Lehrer:innen, die Fehlstunden, die Größe der Klassen, die Anzahl der PCs, den Background der Schüler:innen und noch Vieles mehr für jede Schule einsehen und mit anderen vergleichen. Diese Daten werden für fundierte Entscheidungen verwendet. Sowohl das Ministerium, als auch die einzelnen Schulen verwenden das als Grundlage ihres Arbeitens und Unterrichtens. 

Und, es gibt jährlich einen „satisfacory survey“ wo alle Schüler:innen gefragt werden, wie es ihnen geht, was sie sich wünschen, wie sie mit ihren Lehrer:innen zurechtkommen und welche Probleme sie haben – einsehbar für alle.

Eine klare Governance 

Die governance Struktur des ganzen Bildungssystems ist sehr einfach. Fast alle Schulen sind, wie gesagt, öffentliche Gemeinde-Schulen. Der „Bund“ überweist den Gemeinden Geld für ihre Schulen. Die einzelnen Gemeinden machen sich mit den Schulen dann ein Budget aus, das diese autonom verwalten können. Der Rest der Entscheidungen wird an und von den Schulen getroffen. Unsere Erklärversuche, was der Unterschied zwischen Bundes- und Landesschulen ist oder was Bildungsdirektionen und SQMs sind, sind leider kläglich gescheitert. Die Bürokratie ist auf ein Minimum reduziert, die Verantwortlichkeiten sind ganz klar geregelt und der Gestaltungsspielraum ist daher riesig.

Und, was sind die Herausforderungen?

Ein großes Thema in Estland ist die inoffizielle Zweisprachigkeit: Russisch-Estnisch. Viele Schulen sind entlang dieser zwei Sprachen segregiert. Kaum eine Schule lehrt beide Sprachen, aber alle müssen Estnisch lernen. Mehrheitlich russischsprachige Schulen werden als second-class angesehen. Und, die Drop-Out-Rate der 16 Jährigen nach der gemeinsamen Schule ist hoch: 20% der Jugendlichen fallen nach den 9 Jahren aus dem System. 

Darüber hinaus sind die Lehrer:innengehälter vergleichsweise gering, was einen Lehrer:innenmangel zur Folge hat. 

Fazit

Vor allem im Vergleich mit dem österreichischen Bildungssystem beeindruckt das estnische durch unglaubliche Möglichkeiten an autonomen Handeln und mit seinen klaren Strukturen und Verantwortlichkeiten. Bei unsere Schulbesuchen konnten wir sehen, wie positiv sich das in den Klassenzimmern, bei den Kolleg:innen und Schüler:innen auswirkt. All das könnte Österreich auch machen. 

Felix und Verena, Schulgschichtn Autor:innen