Neue Chancen durch den Pflichtschulabschluss
Einmal im Monat kommen nachmittags 70 – 100 Erwachsene an unsere Schule. Die meisten sind aufgeregt, manche haben Mappen, andere Plakate in ihrer Hand. Dabei handelt es sich nicht um die Eltern von unseren Schüler*innen. Es sind junge Erwachsene (die meisten sind zwischen 20 und 25 Jahren), die an unserer Mittelschule in Form von Externistenprüfungen ihren Pflichtschulabschluss nachholen.
AMS Jugendcollege
Die Vorbereitung erfolgt in sogenannten Jugendcolleges, die es in Wien seit kurzem gibt. Dabei handelt es sich um ein schulähnliches Angebot für 18 – 25-jährige Asylberechtigte und Subsidiär Schutzberechtigte mit dem Ziel, die Personen so rasch wie möglich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Teilnehmer*innen verbringen wöchentlich 32 Stunden im College, das in zwei Module (basic und advanced) gegliedert ist. Je nach Vorwissen und individuellen Bedürfnissen der Personen werden Alphabetisierungskurse, Finanzbildung, Praktika, sozialpädagogische Betreuung oder die Vorbereitung auf den Pflichtschulabschluss angeboten. Seit September 2024 stehen vom AMS Wien und der Stadt Wien jährlich rund 4 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung. (vgl. Presse Service Rathauskorrespondenz, 07.02.2024)
Rechtlicher Rahmen
Bevor die jungen Erwachsenen an unsere Schule kommen, werden diese gezielt auf ihre Prüfungen vorbereitet. Gemäß der Rechtsvorschrift für Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz § 3 (1) umfasst diese Prüfung fünf Gebiete:
- „Deutsch – Kommunikation und Gesellschaft“
- „Englisch – Globalität und Transkulturalität“
- „Mathematik“
- „Berufsorientierung“
- sowie zwei der folgenden Prüfungsgebiete: „Kreativität und Gestaltung“, „Gesundheit und Soziales“, „Natur und Technik“
In Deutsch sowie Mathematik ist eine einstündige schriftliche sowie eine mündliche Prüfung verpflichtend, die an einem Tag hintereinander statt finden. In den anderen Gegenständen können die Prüflinge wählen, ob sie eine schriftliche oder mündliche Prüfung bzw. Präsentation haben wollen.
Positive Überraschungen
Seit letzten Herbst werden auch an meiner Schule Externistenprüfungen für Schüler*innen des AMS Jugendcollege abgehalten. Die Freude darüber war anfänglich endend wollend. Viele Faktoren, wie etwa der Ablauf, der Zeitaufwand oder die Bezahlung waren unklar. Hilfreich war, dass andere Schulen bereits Erfahrungen mit dieser Prüfungsform hatten und diese an uns weitergaben.
Als Deutsch-Lehrerin durfte ich nun bereits mehrmals das Gebiet „Deutsch-Kommunikation und Gesellschaft“ abprüfen. Der Großteil der Prüflinge ist männlich und kommt aus Syrien. Besonders spannend ist die mündliche Prüfung. Dabei müssen sie sich vorstellen und zu ihren Zukunftsplänen reden sowie zu einem vorab ausgewählten Bild.
Im Prüfungsgespräch werden die herausfordernden Lebensumstände deutlich: Der Großteil ist alleine nach Österreich gekommen. Die Familie lebt in Syrien, in der Türkei oder im Libanon und wurde schon viele Jahre nicht mehr gesehen. Manche haben bereits eine eigene Familie gegründet, jedoch lebt diese nicht immer in Wien. Esat hat beispielsweise eine 4-jährige Tochter in der Türkei. Er hofft, dass er diese bald sehen wird. Nassima ist schon mehrere Jahre in Wien. Sie hat einen 4-jährigen Sohn.
In vielen Fällen wurde die schulische Laufbahn mit 11/12 Jahren unterbrochen. Danach verlaufen die Bildungswege unterschiedlich. Dennoch haben die Prüflinge allesamt ein klares Ziel vor Augen: Sie wollen eine Ausbildung starten. Sei dies als Krankenpfleger, KFZ-Mechaniker, technischer Zeichner oder als Bürokauffrau.
Manche haben in dem Bereich, in dem sie arbeiten wollen, bereits Berufserfahrungen gesammelt, wie beispielsweise Ahmed, der in Syrien als Schweißer arbeitete. Allerdings fehlt ihm ein formaler Abschluss, damit er den Beruf in Österreich auch ausüben darf.
Um beim Vorbereitungskurs für die Prüfung mitmachen zu dürfen, müssen gewisse Sprachkenntnisse vorgewiesen werden. Viele haben nach zwei Jahren in Österreich ein beeindruckendes Sprachniveau erreicht. Dennoch zeigen sich bei der mündlichen Prüfung Unterschiede. Da ist etwa Abdullah, der fließend Deutsch spricht und die Prüfung mit Bravour meistert. Er spielt in einem Cricket Team und ist stark in das Mannschaftsleben eingebunden. Nasim zeichnet sich durch seinen gewandten und humorvollen Sprachgebrauch aus. Er kellnerte etliche Monate in Wien. Deutlich wird einmal mehr, dass Sprache vor allem in der Anwendung mit Menschen, die die Sprache bereits gut sprechen, gelernt wird.
Während der Prüfung wird auch über die Unterschiede zwischen dem Heimatland und Österreich gesprochen. Bei manchen ist dir Erinnerung an ihr Herkunftsland jedoch schon sehr verblasst, da dieses schon in sehr jungen Jahren verlassen wurde.
Parallelen zur Matura
Die Stimmung während eines Prüfungsnachmittages in der Schule ist speziell. Man schaut in nervöse und aufgeregte Gesichter. Ich werde an meine Matura erinnert. Und tatsächlich gibt es Parallelen: Mit dem Pflichtschulabschluss geht ein Lebensabschnitt zu Ende und er ermöglicht neue Berufs- und Ausbildungsmöglichkeiten. Oft habe ich allerdings den Eindruck, dass die Wertschätzung des Pflichtschulabschluss gesellschaftlich nicht besonders hoch ist.
Nach einem Nachmittag mit Externistenprüfungen ändert sich meine Perspektive auf den Pflichtschulabschluss enorm. Der Großteil der Prüflinge ist gut vorbereitet. Die Kanditat*innen sind höflich und sie wollen zeigen, was sie können. Man merkt, wie bedeutend der Abschluss für die Prüflinge ist. Sie nehmen die Prüfungen ernst, denn sie haben ein klares Ziel vor Augen: Eine bessere Zukunft.
In dieser Zukunft, so der Wunsch der Prüflinge, haben sie eine abgeschlossene Ausbildung und einen Job. Sie sind unabhängig. Sie haben in Österreich Freund*innen und können Österreich etwas zurück geben. Es ist erfüllend, ein kleiner Teil dieser „besseren“ Zukunft zu sein.
https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20007930 (21.2.2025)
Die Autorin ist Lehrerin an einer Wiener Mittelschule.