10 Schritte für eine bessere Schule
Die aktuellsten PISA-Ergebnisse sorgen mal wieder für Verwunderung, Empörung und zu Recht auch für jede Menge Diskussionsstoff. Wie kann es sein, dass eines der teuersten Bildungssysteme der Welt bestenfalls durchschnittliche Ergebnisse erzielt? Wo muss angesetzt werden, um den Bildungserfolg aller Kinder in Österreich nachhaltig sicherzustellen? Wir hätten da ein paar Vorschläge:
1) Soziale Durchmischung fördern
“Herr Lehrer, kann man auf einer Universität eigentlich was essen?”, ist eine Frage, die zeigt, dass viele Kinder in NMS keinen Bezug zu höheren Bildungseinrichtungen haben. Sie wissen weder, wie diese aussehen, noch wie man dort hinkommt. Woher denn auch, wenn es im sozialen Umfeld an Vorbildern und in der Schule an Freund*innen fehlt, die ihnen vielleicht über ihre Eltern etwas erzählen könnten. Die Trennung in AHS und NMS im Alter von 10 Jahren bewirkt eine Segregation von Kindern nach dem formalen Bildungsgrad und der Herkunft der Eltern.
Damit endlich nicht mehr die Bildung und der ökonomische Status der Eltern die eigenen Bildungschancen bestimmt, brauchen wir eine gemeinsame Schule, die innerschulisch stark differenziert. Eine Schule, in der David, der zwar in Deutsch noch viel lernen muss, dafür in Mathematik in einen Leistungskurs gehen kann. Eine Schule, wo der Handwerkersohn neben der Anwältinnentochter sitzt.
2) Ressourcen sinnvoll verteilen
Oft scherzen wir in der Schule. Als Klassenvorstand in der NMS unterrichtet man 21 Stunden, bereitet einige Stunden vor, verbringt aber 70% der Arbeitszeit mit Listen, Formularen und noch mehr Listen. Dazu kommen häufig noch Aufgaben, die eigentlich geschulte Psycholog*innen oder Sozialarbeiter*innen machen sollten. Dabei geht es oft darum, Kindern, die daheim viele Probleme haben, Kindern, die vielleicht gar kein wirkliches Zuhause mehr haben und Kindern, die traumatisiert sind, erst einmal den Kopf freizumachen, damit sie überhaupt lernen können. All das belastet und bringt viele Klassenvorstände an ihre Grenzen.
Es braucht endlich mehr Geld für “sozial belastete” Schulen. Endlich auch administratives Personal an Landesschulen, also an der NMS. Eine Vollzeitstelle für Schulsozialarbeit/Schulpsychologie pro Schule. Und auch finanzielle Anreize für junge Lehrkräfte an solchen Schulen zu unterrichten!
3) Arbeitsweise an der Schule professionalisieren
In unserem für 35 Lehrkräfte viel zu kleinen Lehrer*innenzimmer, haben wir nur drei PCs, kleine Arbeitstische und keine Besprechungsräume. Obwohl wir, mit einem funktionierenden WLAN, noch Glück haben, ist die Arbeitsplatzausstattung alles andere als angemessen. Es ist daher kaum verwunderlich, dass es, trotz Team Teachings, keine fixen Besprechungsstunden gibt, wenig Absprache und dass Lehrer*innen auf weite Strecken hin immer noch Einzelkämpfer*innen sind. Diese Arbeitshaltung und Arbeitsweise muss schnell geändert werden.
Es braucht gut ausgestattete Arbeitsplätze, kleinere Lehrer*innenzimmer unterteilt nach Fächern oder Jahrgängen. Dann kann man über Kernarbeitszeiten, die ein stressfreies und teamorientiertes Arbeiten ermöglichen, nachdenken. Es braucht Karriere- und Aufstiegsmöglichkeiten für Lehrkräfte. Ein*e “Head of History-Department” könnte z.B., im Austausch für weniger Unterrichtsstunden, den Geschichtsunterricht koordinieren, Lehrmaterialien aufeinander abstimmen und ein Konzept mit einem roten Faden entwickeln. Wer mehr arbeiten und zusätzliche Aufgaben übernehmen will, soll dafür (angemessen) entlohnt werden. Dazu sollte es seriöse Mitarbeiter*innengespräche geben. Direktor*innen sollten gemeinsam mit jeder Lehrkraft Ziele und Maßnahmen besprechen und diese am Ende des Jahres evaluieren.
4) Qualitativ hochwertige Auswahl, Ausbildung und Begleitung von Lehrkräften
Im Zuge ihrer Ausbildung werden Lehramtsstudierende überhäuft mit theoretischem und fachlichem Wissen und lernen unzählige Theorien und Definitionen von Pädagogik, Erziehung und Bildung kennen. Der Praxisbezug und das Üben kommen dagegen zu kurz oder gar nicht vor. Was sind die mitreißendsten Methoden in eine Stunde zu starten? Wie beuge ich Unruhe im Klassenzimmer vor, und wie reagiere ich wertschätzend und dennoch effektiv darauf? Wie gehe ich mit traumatisierten Kindern um?
Die Lehrperson ist erwiesenermaßen (Hattie, 2009) die wirkungsstärkste Einflussgröße auf das Lernen von Kindern. Darum muss dafür gesorgt werden, dass für den Lehrer*innenberuf die motiviertesten und engagiertesten Personen ausgesucht werden. Sie müssen qualitativ hochwertig und praxisorientiert für einen Beruf ausgebildet werden, der mehr ist als Plus eintragen und Rechtschreibfehler finden. Zur langfristigen Qualitätssicherung braucht es darüber hinaus sowohl professionelle Begleitung von Lehrkräften am Beginn ihrer Tätigkeit, als auch verpflichtende Supervision im weiteren Verlauf. Gerade an die “schwierigsten” Schulen müssen die bestausgebildetsten Lehrkräfte geschickt werden.
5) Notenwahrheit
Alex kommt nach der 4. Klasse Volksschule in eine NMS, weil er ein “Befriedigend” im Zeugnis hat. Leyla hat gerade noch ein “Gut” in Mathematik geschafft, deshalb kann sie ohne Prüfung ins Gymnasium wechseln. Aber unterscheiden sich Alex und Leyla wirklich so sehr? Welche Note am Ende im Zeugnis steht, liegt im Ermessen des Lehrers oder der Lehrerin. Auch wenn sich die meisten Pädagog*innen große Mühe geben, diese Entscheidung möglichst basierend auf Leistungsüberprüfungen, Mitarbeit etc. zu treffen, schlussendlich ist es doch höchst subjektiv. Sogar von einer Klasse zur anderen können sich Maßstäbe stark ändern, und die Schüler*innen werden meist miteinander verglichen. So war Alex in einer sehr leistungsstarken Klasse und hat deshalb nur eine durchschnittliche Note bekommen, während Leyla in einer leistungsschwachen Klasse war und deshalb leichter ein “Gut” bekommen konnte. Zentralisierte Überprüfungen an bestimmten Punkten in der Schullaufbahn (z.B. eine “Mittlere Reife” mit 15 Jahren) könnten hier mehr Transparenz und Vergleichbarkeit schaffen. Gleichzeitig würden sie die belastende Doppelrolle von Lehrer*innen als Lernbegleiter*innen und Prüfer*innen ein Stück weit auflösen.
6) So früh wie möglich ansetzen
“Ich bin mit alles fertig!”, “Gemma Hof?” In unseren Klassen sitzen Kinder, die in Österreich geboren wurden und mit 13 kaum einen grammatikalisch korrekten Satz bilden können. Es ist längst keine Neuigkeit mehr, dass sich unser Gehirn in jungen Jahren besonders stark verändert und daher frühe Förderung einen großen Einfluss auf spätere Lernprozesse hat. Das gilt insbesondere für den Spracherwerb. Mit 11 Jahren können sprachliche Defizite nur mehr mühsam ausgeglichen werden. Darum ist es dringend nötig, dass altersgerechte aber hochwertige Bildung bereits weit vor dem Schuleintritt beginnt. Ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr sowie eine qualitativ hochwertige Ausbildung von Elementarpädagog*innen wären Schritte in diese Richtung.
7) Kostenlose Ganztagsschulen für alle
“Wie ich kann meine Kind helfen?”, ist ein Satz, den wir am Elternsprechtag nicht selten zu hören bekommen. Vielfach wird gefordert, Eltern stärker in die Verantwortung zu nehmen. Sie sollten ihre Kinder bei Hausaufgaben unterstützen, mit ihnen lesen und Vokabeln abprüfen. Es wird davon ausgegangen, dass Eltern, die ihre Kinder nicht in dieser Art unterstützen, es schlicht nicht wollen und es ist sogar angedacht sie dafür mit einer Kürzung der Familienbeihilfe zu strafen. Oft ist es jedoch keine Frage des Wollens. Lange Arbeitszeiten und mangelnde Sprachkenntnisse machen diese Form der Unterstützung gerade für sozioökonomisch schwache Familien nur schwer möglich. So werden wieder genau jene Kinder, die ohnehin schwierigere Starbedingungen haben, massiv benachteiligt. Kostenlose ganztägige Schulen, in denen sich Lern- und Freizeitphasen abwechseln, können dieser systematischen Benachteiligung entgegenwirken und allen Kindern faire Bildungschancen bieten.
8) Muttersprachenförderung
Kinder und Jugendliche können am besten dann eine Zweit- oder Fremdsprache erlernen, wenn sie über ausgeprägte Sprachfähigkeiten in ihrer Erstsprache verfügen. Mit anderen Worten: Wer in der Muttersprache nicht lesen und schreiben kann, über kein grammatikalisches Grundverstehen und wenig Wortschatz verfügt und abstrakte Konzepte nicht ausdrücken kann, dem wird es umso schwerer fallen, dies in einer neuen Sprache zu lernen. Aus diesem Grund ist Muttersprachenförderung gleichzeitig auch immer Deutschförderung.
Darüber hinaus muss die Frage gestellt werden, ob Muttersprachen es nicht auch für sich wert sind, gefördert zu werden. Das unglaublich große linguistische Potenzial, das Schüler*innen mit Migrationshintergrund mitbringen, wird in Österreich kaum ausgeschöpft. Es scheint allgemeine Übereinstimmung zu herrschen, dass Bosnisch, Türkisch und Arabisch einfach weniger wert seien als Deutsch, Englisch und Französisch. In einer sich ständig-ändernden Welt muss diese Herangehensweise dringend überdacht werden.
9) Demokratische Strukturen etablieren
Wir wollen in unseren Schulen Demokratiebewusstsein, kritisches Hinterfragen und eigenständiges Denken vermitteln. Demokratieverständnis kann allerdings nicht gelehrt werden, es muss gelebt werden. Schüler*innen müssen die Möglichkeit haben, ihren Schulalltag und ihren Lernprozess aktiv mitzubestimmen, von der einzelnen Klasse über Schülervertretungen bis hin zum Schulsystem allgemein. Denn nur wer mitgestalten darf, fühlt sich auch als Teil der Gesellschaft. Strukturen wie Klassenräte müssen etabliert, Klassen- und Schulsprecher*innenrollen aufgewertet und Möglichkeiten zum Mitreden und Feedback geben geschaffen werden. Stundenpläne, Unterrichtszeiten, Inhalte, Schwerpunkte, Klassen- und Schulregeln… so viel wird über die Köpfe der Schüler*innen hinweg entschieden. Kinder und Jugendliche wollen lernen und Verantwortung übernehmen. Wir brauchen demokratische Strukturen, die das ermöglichen.
10) Reformen Zeit geben
Leistungskurse, doch keine Leistungskurse. Team Teaching, doch kein Team Teaching. Integrativer Deutsch-Förderunterricht, Deutschkurse, dann Deutschklassen. Noten von 1-5, siebenteilige Notenskala, zwei unterschiedliche Notenskalen je nach Leistungsgruppe… wenn man im Lehrerzimmer älteren Kolleg*innen zuhört, dann wundert man sich nicht, warum Bildungsreformen nicht mit mehr Begeisterung aufgenommen werden. Alle paar Jahre gibt es ein neues Reförmchen, das mit viel administrativer Arbeit und Verwirrung auf Seiten der Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern einhergeht. (Meistens) mit dem nächsten Regierungswechsel wird dann wieder einiges umgekrempelt, ohne das bisherige System zu evaluieren und Expert*innen in Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen. Große strukturelle Veränderungen, die dringend nötig wären, gab es seit Jahrzehnten nicht. Wir brauchen eine Bildungspolitik, die auf längere Sicht ausgelegt ist als die eigene Amtszeit, die sowohl wissenschaftliche Erkenntnisse als auch die Meinung von Praktiker*innen (Lehrer*innen, Psychagog*innen, Sozialarbeiter*innen…) einbezieht und die den Mut hat, wirklich etwas zu bewegen.
Felix Stadler, Verena Hohengasser und Simone Peschek
Ich finde es immer noch traurig, dass sich Österreich dem PISA-Wahn unterwirft. Das erfolgreiche skandinavische System will man sich aber nicht so genau ansehen, vielleicht zu teuer, vielleicht zu modern? Daher der Blick in Richtung Fernost, wo ja auch erfolgreich gearbeitet wird, halt mit mehr Druck und Tests und privater Finanzierung, aber Hauptsache die Ergebnisse stimmen? Nach 25 Jahren im Lehrberuf an der Volksschule habe ich eine schöne Entwicklung miterleben dürfen: die ersten Integrationsklassen zB, die noch mit 2 fixen LehrerInnen und einem Schlüssel 16 + 4 eröffnet wurden. Davon kann man heute nur noch träumen! Schade, dass diese Errungenschaften systematisch kaputt gespart wurden und durch eine reine Leistungspädagogik ersetzt werden. Als Pädagogin zählt für mich nicht nur die abprüfbare Leistung am Ende einer Lernphase, sondern vielmehr eine positive Einstellung zum Lernen, soziale Kompetenzen und starke Persönlichkeiten bei den Kindern! Ein 2. Punkt, der mich ärgert: Das Versagen des Systems wird ganz praktisch den vielen Kindern mit Migrationshintergrund in die Schuhe geschoben! Ich bin mir sicher, dass wir alle Kinder auf den besten Weg bringen können, wenn die Voraussetzungen und Ressourcen ausreichend wären… und nur der Motivation, Kompetenz und Zähigkeit der LehrerInnen ist es zu verdanken, dass das System nicht schon längst zusammen gebrochen ist!
Es geht doch schon viele Jahre nicht mehr um Pädagogik in der Klasse. Die Gruppe ist ein Wirtschaftssystem, muss funktionieren, egal wie.
Meine große Energie für außergewöhnliche Projekte, Brennen für Ideen, in Beziehung gehen mit den Kindern, etc……ist äußerst minimiert nach 25 Jahren Lehrerdasein.
Visionen dürfen nicht mehr gelebt werden mit den Kindern, durch extra Engagement macht man sich oft unbeliebt. Die Kinder bleiben auf der Strecke.
Sensationell, dass Eltern ihre Sprösslinge überhaupt noch in konventionelle Schulen schicken.